Viel Kraft im Schmerz

Kino: »Das wahre Leben«

Ein ganz aufregendes Thema: zwei Familien in ihren Eigenheimen in der bürgerlichen Vorstadtsiedlung.

Welche Familienproblematik hätten’s denn gern? Das Ehepaar Spatz (ganz was Neues: ein Manager und eine Galeristin) hat aufzuweisen: Arbeitslosigkeit, Eheprobleme, einen schwulen Sohn in der Bundeswehr, der sich vor einem Coming-out fürchtet, einen verschlossenen und vereinsamten Sohn. Die Nachbarsfamilie hat zu bieten: Depressionen, einen verstorbenen Sohn, eine psychotische Tochter. In beiden Familien wird fortwährend scheiternde Kommunikation betrieben.

In Großbritannien wäre das der Stoff für eine Comedy, in Deutschland jedoch hält man es mit der altbewährten »Dramaturgie der Empathie« (Tagesspiegel): Man macht wie stets einen bleischweren Stiefel daraus. Betrachtet man einen Film wie diesen, kommt es einem unweigerlich so vor, als hätten die Leute, die ihn gedreht haben, in den letzten 30 Jahren nur in Zeitlupentempo abgespielte, alte deutsche Fernsehserien im Kino gesehen. Eine Kameraarbeit und einen visuellen Einfallsreichtum kann man hier bestaunen, gegen die eine Folge von »Derrick« aus den achtziger Jahren geradezu wie ein Film von Quentin Tarantino wirkt.

Da sagt einer was und macht ein Gesicht dazu, man sieht ihn. Gegenschnitt. Dann sagt die andere was und macht auch ein Gesicht dazu, und man sieht sie. Große Sache, das. Filmkunst. Zuweilen wackelt auch die Kamera ein wenig. So kommt unverhofft doch ein bisschen Bewegung in den Film. Der Regisseur soll an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert haben, aber der Pressetext verrät nicht, was er dort studiert hat, vielleicht deutsche Fernsehgeschichte mit Schwerpunkt Robert Lembke, vielleicht Betriebswirtschaftslehre, man weiß es nicht.

Wenn tiefes Gefühl oder Melodramatisches illustriert werden sollen, wird eine Art zäher, schwerblütiger Fertigteilmusik unter die Filmszene gelegt, irgendwas in Richtung Jennifer Rush oder Frank Duval.

Ach ja, die Schauspieler, die die Eheleute Spatz darstellen: Katja Riemann (Galeristin) führt zum wiederholten Mal die Nummer mit den zusammengekniffenen Lippen auf, rollt professionell mit den Augen und zieht in unregelmäßigen Abständen die Augenbrauen hoch. Der überhaupt gar nicht »rührend komische« (Tagesspiegel) Ulrich Noethen (Manager) macht die meiste Zeit sein erstarrtes Heinrich-Himmler-Gesicht, das er in »Der Untergang« und »Mein Führer« (in beiden Filmen verkörperte er den SS-Führer) eingeübt hat. Große Sache, das. Schauspielkunst.

Ach ja, damit das klar wird: Der Film soll angeblich eine Komödie sein, besser gesagt eine »Farce« (Frankfurter Rundschau), ein »vergnüglicher Film« (Zitty) bzw. eine »Familienburleske« (Tagesspiegel), schafft es jedoch ganz ausgezeichnet, den Zuschauer das 100 Minuten lang nicht bemerken zu lassen. An einer einzigen Stelle ist er jedoch tatsächlich komisch, nämlich als Mutter Spatz, die in ihrer Galerie die Gemälde der psychotischen Tochter der Nachbarsfamilie ausstellt, zur jungen Künstlerin, die gerade einen Tobsuchtsanfall hat, in beruhigender Absicht sagt: »Da ist so viel Kraft in deinem Schmerz.« Aber ich glaube beinahe, die Szene ist gar nicht komisch gemeint. Die deutsche Filmkomödie. Immer wieder ein Erlebnis.

thomas blum

»Das wahre Leben« (D 2006). R: Alain Gsponer. Start: 8. März