»Kein Holocaust – kein Punk«

Im New Yorker Punk wird auch der Umgang mit der Shoah verhandelt. ­steven lee beeber hat ein Buch über die jüdischen Ursprünge der Bewegung geschrieben

Warum, denken Sie, ist es kein Zufall, dass die meisten der New Yorker Urpunkmusiker der siebziger Jahre aus jüdischen Familien kommen?

Ich selbst komme aus einer jüdischen Familie in Georgia. Als ich nach New York City zog, fühlte ich mich dort mehr zu Hause, als ich es je im Süden war. So ging es auch Leuten wie Danny Fields, Jonathan Richman, Joey Hyman alias Ramone oder Robert Zimmerman alias Bob Dylan.

Auf dem ersten Velvet-Undergound-Album widmete Lou Reed das Lied »European Son« seinem Lehrer Delmore Schwartz, einem großen jüdisch-amerikanischen Schriftsteller, der über die Veränderung der jüdischen Identität schrieb, über die Spannung zwischen der Gene­ration der Migranten und ihren Kindern. Die meisten New Yorker Punkmusiker hatten dieselben Erfahrungen gemacht. Sie kamen aus Vororten oder kleineren Städten, waren gebildet und entfremdet, schockiert von ihren Eltern, ihren Freunden und der Geschichte.

»Jew York«, neben Tel Aviv die Stadt mit der weltweit größten jüdischen Bevölkerung, galt als arrogant, was bedeutete, dass es schnell, witzig, ironisch und klugscheißerisch zuging. Das zog viele Leute, insbesondere mit jüdischem Hintergrund, an, die mit ihrer Intellektualität und ihrem Sinn für Humor auf der Suche nach neuen Kunstformen waren. Lenny Bruce, der jüdische Komiker, sagte einmal: »Es ist egal, ob du katholisch bist, wenn du in New York lebst, bist du jüdisch!«

Die kreativste Stadt der USA hat tatsächlich nur eine einzige Rockmusikbewegung hervorgebracht – und das ist der Punk. Und der war in den Anfangstagen zu großen Teilen jüdisch und entwickelte sich im East Village und an der Lower East Side. Hier hat Hillel »Hilly« Kristal seinen legendären Club CBGB’s gegründet, um Künstlern eine Bühne zu geben, die über ihre Rolle als Künstler anders dachten, und zwar nach dem Motto: »Fuck art, let’s dance!« Auf dieser Bühne wurde die erste Post-Holocaust-Generation erwachsen und hinterließ ihre Spuren, den Punk.

Was genau ist mit »Heebie-Jeebie« im New York Punk gemeint?

Zum einen ist darin das Wort »heeb« enthalten, also die abwertende Be­zeich­nung für »Hebrew«. Zum anderen ist es ein Ausdruck aus den zwan­ziger und dreißiger Jahren, der die Bedeutung einerseits von »schockieren« und andererseits von »völlig überdreht« hatte. So wie Little Richard in seinem Song »Heeby Jeebies« schreit oder wie Louis Armstrong mit »Heebie Jeebies« den Scat­gesang, also dieses »Didadubiboldibiladaou«, erfand, benutze ich dieses Wort, um die Mischung aus Schock und aufgeregter Energie des Punk zu beschreiben.

Im New York Punk spiegelt sich die jüdische Geschichte von Unterdrückung und Unsicherheit, Flucht und Migration, gleichzeitig drinnen und draußen, gut und schlecht zu sein. Diese Musik drückt das Gefühl der Post-Holocaust-Generation aus, das Gefühl, immer am falschen Ort zu sein. Jude oder nicht, wo gehöre ich hin? Und ist es dort, wo ich bin, sicher? Diese nervöse Energie des Punk ist Heebie-Jeebie, im Jiddischen würde man shpilkes sagen.

Ihre These lautet »Kein Holocaust – kein Punk«. Welche Rolle spielt die Shoah für die Entstehung des Punk in New York?

Seit den sechziger Jahren war der Holocaust ein großes Thema. Es gab den Eichmann-Prozess und Hanna Arendts Buch darüber, Israels Sieg im Sechstage-Krieg, die jüdisch-amerikanischen Schriftsteller wurden populär, der Holocaust wurde zum Unterrichtsfach und später auch zur Fernsehserie. Die Generation dieser Zeit, in der auch der Punk entstand, war sich vollständig bewusst darüber, was der Holocaust war.

Lou Reed singt in »Heroine« von »all the dead bodies piled up in mounds« und in »The Black Angels Death Song« von »sacrificial remains make it hard to forget where you come from«. Jonathan Richman produziert mit den Modern Lovers ein unveröffent­lichtes Demotape mit dem Titel »The Trains don’t stop in Scarsdale and New Rochelle anymore«, beides jüdische Bezirke in New York.

Doch Punk suchte nach anderen Formen der Verarbeitung, nach einer, die Spaß mach­te. Bereits in den fünfziger Jahren hatte der New Yorker Komiker Lenny Bruce Witze über den Holocaust gemacht. Bruce war nicht nur der erste, der das Wort »fuck« auf der Bühne aussprach, sondern auch der erste, der ironisch auf seinen jüdischen Hintergrund verwies: In the beginning was the word, and the word was fuck. No, wait, it was nigger. No niggerlover, motherfucker, cocksucker, chickenfucker! Sätze dieser Art machten ihn 20 Jahre später zum großen Vorbild des New York Punk. So inspirierte Bruce etwa Jonathan Richman von den Modern Lovers, mit dem Stereotyp des »netten jüdischen Jungen« zu spielen. Richman kleidete und verhielt sich wie dessen Parodie.

Eine andere Form der Verarbeitung der Shoah war die Übernahme sprach­licher und symbolischer Elemente der Nazis. Sie interpretieren dies als Gegen­strategie des Punk zu der Iden­tität stiftenden Rolle von Kultur. Der Unterschied zwischen purer Aggression und distanzierender Ironie war und ist bei einigen Punkbands manchmal kaum noch zu erkennen.

Die Heavy-Metal-Band »Blue Öyster Cult« und die Band »The Dictators« sind ein gutes Beispiel dafür. Das Album »Secret Treaties« von »Blue Öyster Cult« wurde 1974 in Deutschland verboten. Die deutschen Strafgesetze führten dazu, dass eine Band, die sich über die Verschwörungstheo­rien lustig machte, als Naziband kate­gorisiert wurde. Verrückt. Aber die Ironie war noch nicht ausgefeilt genug.

»The Dictators« waren fünf jüdische Typen, die coole Poser sein wollten. Sie imitierten den Style italienischer Straßen­jungs, trugen Lederjacken kombiniert mit einem »Jewfro«, produzierten Lieder wie »Master Race Rock«. Es war Richard Meltzer, der Vater des Rockjournalismus, der Richard Blum alias Handsome Dick Manitoba vom Roadie zum Sänger der Band machte. Gerüchte­weise betätigte er sich als Wrestler und war stolzer Jude. Er zerstörte auf der Bühne das Equipment, beschimpfte das Publikum. Noch heute trägt er eine Baseballkappe der Yankees mit dem Da­vidstern drauf. Keine Frage, dass er ein früher Punk war, aber ein bisschen zu stumpf.

Im Vergleich dazu waren die Ramones viel avancierter. In dem Song »Comman­do« zeigt sich die Balance aus Aggres­sion und Ironie, die die Ramones so genial machte: »First rule is: The laws of Germany! Second rule is: Be nice to mommy! Third rule is: Don’t talk to commies! Fourth rule is: Eat kosher salamies!« Später haben sie das verloren, waren nur noch eine Parodie ihrer selbst.

Viele wissen nicht, dass es Tommy war, der die Band gründete. Mit ihm produzierten die Ramones ihre besten Platten, allen voran »Too tough to die«. Als Tommy Erdelyi in Ungarn geboren, kam er erst 1956 mit seinen Eltern in die USA. Seine Eltern hatten den Holocaust nur mit Hilfe nichtjüdischer Freunde überlebt. Tommy suchte sich diese völlig gegensätzlichen Typen aus, die alle aus seiner Nachbarschaft in Forest Hills kamen. Joey, geboren als Jeffry Hyman, dieser lange dürre Typ, der in der Schule immer vermöbelt wurde, kaum redete und aussah wie ein Überlebender aus einem deutschen Konzentrationslager; Johnny, der große muskulöse Typ mit dem schwarzen Humor, und Dee Dee, der in seinem Verhältnis zu Deutschland ein nichtjüdischer Jude war. Sein Vater, ein amerikanischer Soldat, hatte eine Deutsche geheiratet, und Dee Dee war in Deutschland aufgewachsen. Er sam­melte Nazi-Andenken, um seinen Vater zu ärgern. Dee Dee ist auch verantwortlich für die Nazi-Referenzen in der Band. So sollte etwa der Song »Blitzkrieg Bop« ursprünglich »Animal Hop« heißen. Meistens schaffte es Tommy, die aggressiven Elemente von Dee Dee mit Ironie und Satire abzuschwächen. Dee Dees Zeilen wie »I’m a Nazi baby« änderte Tommy in »I’m a Nazi Schatze«, oder »I’m a German soldier« in »I’m a shock ­trooper in a stupor«.

Diese Form von Humor ist also ein Ausdruck des Konflikts von Dee Dee mit seinen Eltern. Dank Tommy ist es den Ramones gelungen, auf witzige und ironische Weise ihre Wut, ihre Angst, ihre Entfremdung und Enttäuschung auszudrücken, ohne die Unterscheidbarkeit vom Feind einzubüßen.

Schlechte Witze gab es aber auch. So soll Nico einmal zu Lou Reed gesagt haben: »Ich kann keinen Juden mehr lieben.« Du behauptest aber, diese Äußerung, die das Verhältnis der beiden beendete, sei nicht antisemitisch gewesen?

In dieser Szene rund um Andy Warhol war jeder schnippisch und sarkastisch, und es galt als peinlich, Gefühle zu zeigen. Gleich­zeitig war Lou Reed ein äußerst harter Typ, und Nico sagte einfach nur etwas, womit sie ihn am meisten verletzen konnte. Später hat sie ihre Shows oft mit dem Satz begonnen: »Are there any Jeeeeews here?« Sie spielte auf diese Weise ironisch mit ihrer Herkunft aus Nazi-Deutschland.

Aber Reed war schwer getroffen. Das zweite Velvet-Underground-­Album – ohne Nico – ist deutlich ­aggressiver. Der Song »Sister Ray« wird oft als erstes Punkstück überhaupt betrachtet. Ist das ein Beleg für Ihre Interpretation der Punk­mu­sik als jüdische Antwort auf Anti­semitismus?

Ich würde das nicht in einen so direk­ten Kausalzusammenhang stellen. Es war im Übrigen nicht nur das Ver­hält­nis zu Nico, sondern auch das zu Andy Warhol, was Reed des­il­lu­sio­nier­te. Andy Warhol soll ihm direkt ins Gesicht gesagt haben: »Ich mag keine Juden.« Vielleicht war Reed daraufhin noch wütender und befremde­ter, als er es sowieso schon war. Aber er war schon immer ein »Heebie Jeebie«, ein wütendes, hyperaktives, ner­vöses Kind, wie es sein Biograf Victor Bockris beschreibt.

Sie behaupten, Punk als hybride Kunst des Rock’n’Roll bestehe aus einer Technik des Synthetisierens und sei deshalb eine jüdische Kunstform. Ist das nicht eine sehr essen­zialistische Deutung von Kultur?

Es ist doch eine Tatsache, dass die Geschichte der Juden eine Geschichte der Assimilation und damit eine Kultur des Synthetisierens darstellt.

Ich sage ja nicht, dass nur Juden den Punk gemacht haben; es waren Juden, die mit Nicht-Juden zusammen­gear­bei­tet haben und dabei Elemente von Hoch- und Populärkultur synthetisiert haben.

Das beste Beispiel ist wahrscheinlich die Patti Smith Group. Patti Smith kommt aus der Arbeiterklasse von New Jersey, ihre Mutter war eine Zeugin Jehovas. Ihr Freund und Bandpartner Lenny Kaye, geborener Kusikoff, hingegen kam aus einem jüdischen, bildungsbürgerlichen Elternhaus und sagte über sich, er sei ein »Talmud-Schüler des Rock’n’Roll«. Während Patti Smith die Wut der Arbeiterklasse mitbrachte, hatte Lenny Kaye schon eine intellektuelle Karriere als Rockjournalist gemacht und 1972 die Punk-Bibel, das »Nug­gets«-Album, veröffentlicht, auf dem sich die »Ten commandments of punk« finden, unter anderem mit dem neunten Gebot: »Du sollst komisch sein.«

Ein anderes Beispiel ist Blondie. Chris Stein kommt aus einer linken jüdischen Familie, sein Vater schrieb für sozialistische Magazine wie The Masses, während Debbie Harry aus New Jersey floh, aus einer Welt, in der sie ein bescheidenes und passives Mädchen sein sollte. »Die Juden sind schuld«, sagt Harry über ihr Glück, Chris Stein getroffen zu haben, der sie als intellektuelle Frau ernst nahm und sie darin unterstützte, selbst zu bestimmen, welches Leben sie füh­ren wollte.

Die Band The Neon Boys bzw. Television ist ein weiteres Beispiel für diese Synthese. Richard Hell war wie sein jüdischer Vater ein Schriftsteller, und in der Band war er der Performer, sprang auf der Bühne herum, machte die Show und hatte diese verrückte Frisur und zerrissene Klamotten. Er war der Erfinder des Punklook. Tom Verlaine hingegen bewegte sich auf der Bühne keinen Millimeter, er wollte als Musiker, als Techniker ernst genommen werden.

Verlaine drängte Hell dann immer mehr aus der Band, und so gründete Hell die Voidoids und produzierte 1977 die Hymne des Punk, »Blank generation«.

Allerdings hat Richard Hell Ihnen ein Interview zu seinem jüdischen Hinter­grund verweigert. Ist das nicht eine sehr konsequente Punk-Position, jede Essenzialisierung und Identifizierung durch vorgegebene Bedeutungen abzulehnen?

Als ich Richard Hell fragte, ob sein Vater jüdisch gewesen sei, sagte er mir: »Ja, aber er erzog mich zum Kommunisten und Athe­isten.« Mehr wollte er nicht sagen und ließ mir sogar ausrichten, er würde mich umbringen. Nun ja, er hat es nicht getan, vielleicht weil es doch nicht so abwegig ist, wie ich ihn in meinem Buch beschreibe.

Natürlich scheint es zunächst völlig wider­sprüchlich zu sein, wenn ich einerseits das Adjektiv »jüdisch« benutze und andererseits feststelle, dass es im Punk darum ging, nicht gelabelt zu werden, dass es um die Freiheit ging, selbst zu bestimmen, was man ist, und sich dabei verschiedener Elemente zu bedienen. Ist das nicht typisch jüdisch-amerikanisch?

Aber ich denke, egal, was man ist und was man tut, die Identifizierung von außen schwebt über einem, und man muss mit dieser Fremdzuschreibung umgehen. Man kann natürlich sagen, das bedeutet mir nichts. Aber auch Richard Hell hat auf diese Zuschreibung reagiert und gesagt, es sei der Holocaust, der ihn zum Juden macht. Er wusste, dass er in Deutschland ermordet worden wäre, nur weil er einen jüdischen Vater hatte.

Im Übrigen findet es auch niemand essenzialistisch oder kontrovers, wenn der britische Punk mit dem Arbeitermilieu in Verbindung gebracht wird. Ich sage ja nicht, dass Punk exklusiv jüdisch ist. Ich stelle nur fest, dass es in New York einen erheblichen jüdischen Anteil gab. Nach dem Ersten Weltkrieg sprach man von der »verlorenen Generation«. Was zur Hölle war denn dann mit der nach dem Zweiten Weltkrieg? Die Rockszene in New York bestand zu großen Teilen aus der linken, jüdischen Post-Holocaust-Generation. Ich sage nur: Robert Zimmerman! Bob Dylan oder auch The Fugs könnten genauso als erste Punks gesehen werden. Sie machten Folkmusik mit neuen Elemen­ten, dreckigen Witzen und politischen Aussagen, eben nach dem Prinzip der Synthese.

Seth Abrams von der Band Mensch singt heute: »Don’t want to be a schnook with a boone, want to be a rockin’ Jew like Joey Ramone.« Ist das nicht etwas ganz anderes als »Gabba gabba hey, we all accept you« zu sagen oder »We are the blank generation, we can take it or leave it each time«?

Das Interesse am Judentum und an jüdischer Kultur ist ja seit einiger Zeit sehr groß. Madonna studiert die Kabbala, viele Leute wollten ihre Kinder jüdisch erziehen etc. Ich habe ein sehr ambivalentes Gefühl zu dieser Musikbe­wegung, zu der auch die Band Mensch gehört, die in erster Linie betont, als selbstbewusste Juden Musik zu machen. Ich wurde eingeladen, auf der Hardcore Hanukkah Tour an der West­küste teilzunehmen, wo Bands wie Yid­core aus Australien und Jew­driver spielen sollten. Aber irgendwie fand ich das zu shticky, das Jüdischsein war mir zu sehr im Vordergrund. Ich weiß nicht, vielleicht tue ich denen auch Unrecht, aber das ist mir irgendwie zu viel. Das ist in der Tat etwas anderes als »Gabba Gabba Hey«, wo niemand ausgeschlos­sen ist, und alle eingeschlossen sind. Diese neuen jüdischen Bandgeschichten scheinen mir eine exklusive Angelegenheit zu sein. Ich will auf gar keinen Fall behaupten, dass der New York Punk Punk für Juden war, und eigentlich ist er auch kein jüdischer Punk. Es geht mir nur darum, einige Elemente im Punk aufzuzeigen, die – wenn auch ein unbewusster – Ausdruck der jüdischen Generation nach dem Holocaust sind.

interview: doris akrap

Heebie Jeebies. Punk wurde in New York miterfunden. Weniger bekannt ist, dass viele Punkmusiker der ersten Stunde aus jüdischen Familien kamen. In dem kürzlich in den USA erschienenen Buch »The Heebie-Jeebies at CBGBs. A secret History of jewish punk« beschreibt Steven Lee Beeber zum ersten mal den jüdischen Hinter­grund von Punk.