Auf zum Strand!

Bündnispolitik versteckt nur die Unterschiede, die zwischen den Aktivisten bestehen. Eine Koordinierung wird diesen Unterschieden eher gerecht. von sabine beck

Der »Hype des Jahres« ist da, und bereits jetzt kommt, zumindest in der Linken, niemand an den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm vorbei. Auf der einen Seite reden manche derer, die an der Organisation beteiligt sind, Euphorie herbei und vernachlässigen vor lauter Aktivismus die Inhalte. Auf der anderen Seite wird undifferenziert auf die Proteste eingehauen. Dabei existiert, wie Petra Fischer zutreffend schreibt, keine »einheitliche Globalisierungsbewegung«, kein »homogenes politisches Subjekt« (Jungle World, 4/07).

Doch viele außenstehende Kritiker weigern sich hartnäckig, diesen Sachverhalt zur Kenntnis zu nehmen; viele wissen nicht im Geringsten um die Unterschiedlichkeit der Akteure und Ansichten in der Bewegung und machen sich auch gar nicht die Mühe, diese Unterschied­lichkeit wahrzunehmen. Diese Ignoranz bildet erst die Voraussetzung für die freihändige Kritik, wie sie etwa Mario Möller formuliert, der glaubt, im Aktionstag zur globalen Landwirtschaft eine Romantisierung repressiver Verhältnisse erkennen zu können (Jungle World, 8/2007).

Eine solche Kritik zurückzuweisen, bedeutet nicht, die Unzulänglichkeiten zu übersehen, die in der Bewegung tatsächlich anzutreffen sind; heißt nicht, die Existenz von Revolutionsromantik, Selbstüberschätzung und unzureichenden Kapitalismusanalysen zu bestreiten, die in der Bewegung noch immer vorhanden sind. Natürlich haben Kritiker Recht, wenn sie verkürzende oder moralisierende Aussagen über den Kapitalismus beanstanden und auf die Gefährlichkeit einer Kapitalismuskritik hinweisen, die mit Begrifflichkeiten wie »Gier« und »Heuschrecken« operiert und die eine moralische Verdorbenheit des Kapitalismus anprangert. Doch während bei der »G8-NGO-Plattform« derlei Ansichten nicht selten unwidersprochen bleiben, wird bei »Dissent« über diese Fragen diskutiert.

Nicht von ungefähr berichtet Juliane Nagel, dass sich größere Teile der Bewegung »den selbstkritischen Debatten der vergangenen Jahre gewidmet haben« (Jungle World, 5/07). Das ist Fakt, weshalb sich niemand einbilden sollte, er würde mit dem Hinweis auf den Zusammenhang zwischen verkürzter Kapitalismuskritik und Antisemitismus Dinge ansprechen, die Menschen in der Bewegung weder wissen noch wissen wollen. Das Gegenteil ist der Fall. Allerdings müssen sich linksradikale Aktivistinnen und Aktivisten daran messen lassen, ob sie erfolgreich gegen reaktionäre An­sichten in der Bewegung intervenieren. Und sie müssen zeigen, dass sie ihre Ansätze und analytischen Begriffe erweitert haben.

Das gilt auch in anderer Hinsicht: So werden die Proteste nur dann einen emanzipatorischen Gehalt haben, wenn sie einen globalen Blick auf die Dinge entfalten, nationalstaatliche Lösungen zurückweisen und unterschiedliche Herrschaftsformen berücksichtigen.

Die Proteste in Heiligendamm bieten nicht nur einzelnen Gruppen die Möglichkeit, mit ihren Themen eine größere Öffentlichkeit zu erreichen und neue Leute zu gewinnen. Vor allem eröffnen sie Räume für antikapitalistisches Denken und Handeln. Während bei Dissent nur noch wenige daran glauben, dass sich der Kampf um Emanzipation weiterhin auf das nationale Klassensubjekt und die nationalen Befreiungsbewegungen stützen könne, und die meisten stattdessen die umfassende Verwertungslogik des Kapitalismus betonen, welche Kategorien wie »Herrschende« und »Beherrschte« ad absurdum führe, ist Stefan Weiland auf der Suche nach dem richtigen »Ort« für eine antikapitalistische Praxis (Jungle World, 3/07). Mit der Berliner Gruppe TOP weiß er sich darin einig, dass »der ›richtige Ort‹ für antikapitalistischen Widerstand nie unmittelbar gegeben« sei, im Gegensatz zu TOP bezweifelt er jedoch, dass sich der Gipfel dazu eigne, Widersprüche erfahrbar zu machen. Wieso solle speziell der G8-Gipfel gestört werden, fragt Weiland. »Warum nicht?« möchte man ihm antworten. Denn wenn der Kapitalismus ein totalitäres Verhältnis ist, das alle gesellschaftlichen Beziehungen bestimmt, kann er auch an jedem Ort symbolisch angegriffen werden.

Dabei geht es nicht so sehr um die Konfrontation mit der Staatsmacht. Erfahrbar wird antikapitalistische Praxis vielmehr durch direkte Aneignungen oder Wiederaneignungen, etwa wenn sich die Leute in Heiligendamm wie geplant einen privatisierten Hotelstrand wiederaneignen. Diese antikapitalistische Praxis gilt es wei­terzuentwickeln. Anregungen dazu finden sich etwa bei John Holloway, der die Risse in der kapitalistischen Totalität beschreibt und auf die dadurch entstehenden Räume verweist, in denen die kapitalistische Logik nicht akzeptiert wird und in denen sich eine eigene kreative Macht entwickelt und befreit.

Solche Aneignung, etwa im Kampf gegen die Prekarisierung, setzt mit der Verweigerung und der Überschreitung der kapitalistischen Spielregeln die individuelle Praxis in einen politischen und kollektiven Kontext. Aneignung meint in diesem Zusammenhang, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen und selbst zu entscheiden, wie wir leben und arbeiten wollen, was wir produzieren wollen und was ein gutes Leben für alle erfordert. Nebenbei: Die Parolen »Alles für alle!« und »Luxus für alle!« mögen verdeutlichen, dass es den Aktivistinnen und Aktivisten nicht um trocken Brot geht.

»Die Negation der bestehenden Verhältnisse, und zwar nicht nur mental, nicht theoretisch, sondern im ganzen Lebensvollzug«, wie John Doe (Jungle World, 9/07) Karl Heinz Roth zitiert, ist allemal erstrebenswert. Ein Ziel sind konkrete Veränderungen und Verbesserungen, die in den alltäglichen Kämpfen zu erreichen sind. Darüber hinaus geht es darum, eine allgemeine Atmosphäre der Emanzipation, des Protestes und der Umwälzung zu schaffen. Hierfür braucht es Bewegungen, die miteinander kooperieren und sich aufeinander beziehen. Die Aufrufe zum Protest gegen den Gipfel können hierfür dienlich sein, wenn es ihnen gelingt, die unterschiedlichen Spektren zusammenzubringen.

Das ist leichter gesagt als getan, denn die Akteure sind zahlreich, und es ist nicht leicht, den Überblick zu behalten. Daran arbeiten die beiden großen Koordinierungen, nämlich die G8-Koordinierung und Dissent. An der G8-Koordinierung sind fast alle beteiligt, von NGO, Parteien und Attac über die evangelische Kirche und die Gewerkschaftsjugend bis zur Interventionistischen Linken und linksradikalen Gruppen. Bei Dissent hingegen sind verschiedene linksradikale Kräfte zusammengeschlossen. Diese Koordinierung hat sich im Herbst 2005 formiert und arbeitet eng mit Frauen, Lesben, Transgenders und Queers zusammen. Dass die beiden großen Zusammenschlüsse die Organisationsform der Koordinierung gewählt haben, ist bemerkenswert und bezeugt, dass alle Beteiligten großen Wert darauf legen, der Unterschiedlichkeit der Akteure gerecht zu werden, anstatt diese einem einheitlichen Bündnis zu opfern. Unterhalb dieser Koordinierungen gibt es kleinere Zusammenschlüsse wie die Interventionistische Linke, das »Anti-G8-Bündnis für eine revolutionäre Perspektive« und die bereits erwähnte »G8-NGO-Plattform«.

Die Interventionistische Linke versucht, als Bindeglied zwischen den Linksradikalen und den gemäßigten Kräften aufzutreten. Allerdings muss sie sich die Kritik gefallen lassen, dass sie es mit einigen ihrer selbst formulierten und von Gerda Maler genannten (Jungle World, 11/07) Kriterien für ihre Bündnispolitik nicht allzu genau nimmt. Das gilt zum Beispiel für die so genannte Gewaltfrage. Auch wenn Maler die »gegenseitige Anerkennung unterschiedlicher Aktions- und Wider­standsformen« als Kriterium für eine Zusammenarbeit nennt, hat sie sich bislang einer Klärung dieser Frage entzogen. Wenn es dabei bleibt, könnten sich die Proteste spätestens im Juni an dieser Frage spalten.

Von Beginn an haben sich Aktivistinnen und Aktivisten von Dissent an der G8-Koordinierung beteiligt. Doch sie mussten wie­derholt die Erfahrung machen, dass einige, manche NGO etwa oder die IG Metall, nicht dazu bereit sind, sich mit linksradikalen Kräften an einen Tisch zu setzen. Wer also die radikale Linke zur »Bündnisfähigkeit« gemahnt, sollte zur Kenntnis nehmen, dass diese auch anderswo nicht immer gegeben ist. Selbst manche Leute von Attac scheuen den Kontakt zu radikalen Linken. So waren es, anders als von Gerda Maler behauptet, nicht die Leute von Dissent, die auf der Rostocker Aktionskonferenz eine Teilnahme an der Pressekonferenz verweigert haben, sondern Vertreter von Attac, die die Teilnahme verhindern wollten.

Die Aufrufe zum Protest gegen den Gipfel werden hierzulande eine vorübergehende Angelegenheit bleiben. Alle Fehler und Schwächen, die man ihnen ankreiden kann, spiegeln den derzeitigen Zustand der Linken wider. Anders als in Lateinamerika ist sie in der Bundesrepublik, in Europa weit davon entfernt, die Frage nach großen politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen aufzuwerfen. Hier existiert kein allgemeines Klima der Veränderung, und die marginale radikale Linke kann dieses ohne Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Kräften auch nicht erzeugen.

In Europa sind die Unzufriedenen und damit die potenziellen Träger von sozialen Protesten viel stärker differenziert als anderswo. Renten- und Gesundheitsreform, Studiengebühren oder Hartz IV betreffen die Menschen in derart unterschiedlichen Formen, dass eine Solidarisierung zumeist ausbleibt. Auch vielen linksradikalen Aktivistinnen und Aktivisten liegen ihre Kern­themen im Zweifelsfall näher. Deshalb gilt es, eine Forderung zu stellen, die verschiedene Kämpfe miteinander verbindet. Das könnte die Forderung nach globalen sozialen Rechten sein.

Wenn die Linke wieder an Einfluss gewinnen will, muss sie langfristig dafür sorgen, dass die alltäglichen Kämpfe gestärkt, verbreitet und aufeinander bezogen werden. Nach dem Juni 2007 wird dieser Bezug vermutlich wieder verloren gehen. Bleiben könnte, dass sich verschiedene Akteure besser kennen gelernt haben, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede kennen und vielleicht auch manchen Konflikt geklärt haben. Die Voraussetzung dafür, weiter handlungsfähig zu bleiben, wäre gegeben. Es gibt Anknüpfungsmöglichkeiten für soziale Proteste, sie müssen nur genutzt werden!

Sabine Beck arbeitet bei der Berliner Gruppe »six hills« mit, fühlt sich dem Dissent-Spektrum zugehörig und nimmt an den G8-Koordinierungstreffen teil.