Gut gebrüllt, Tiger!

In Jonas Hassen Khemiris zweitem Roman schreit der tunesisch-schwedische Held seinen Migrationshintergrundfrust raus. Von Tanja Sieg

Frage: Was ist typisch schwedisch? Antwort: eine Wasserwaage! Erklärung: »Alles in Schweden muss genau Mittel sein, nicht zu viel und nicht zu wenig! Und wenn man nur das kleinste bisschen abweicht, dann gleitet die Luftblase weg und alles wird schief.«

Mit dieser aparten Feststellung räumt der junge schwedische Autor Jonas Hassen Khemiri (geboren 1974) in seinem zweiten Roman »Ein Tiger auf zwei Beinen« nicht nur mit der schwedischen »Wohnst-du-noch-oder-lebst-du-schon«-Selbstgefälligkeit auf. Er rüttelt auch heftig an dem über Jahrzehnte kultivierten Gesellschaftsbild eines libe­ralen Landes, in dem Begriffe wie Toleranz und Multikultura­lität zum Nationalstolz gehören.

Khemiri nennt die Veränderung der Gesellschaft, die mit dem Kollektivtrauma der Ermordung Olof Palmes beginnt, eine Modifikation Schwedens. Die gesellschaftliche Umgestaltung gipfelt im Verlust der Macht der Sozialdemokraten, im ökonomischen Rückschritt der Neunziger und im Aufstieg der rechtspopulistischen und fremdenfeindlichen Partei Ny Demokrati. Schonungslos malt Khemiri das Bild eines rassistischen Schweden aus, in dem einem »das Ekellächeln begegnet, das Lächeln, das nach Dillchips, ungebratenen Fleischbällchen und Eierfürzen riecht, das Lächeln, das verborgene Reiß­zähne hat und herablassend den Kopf tätschelt und Braver­idiot flüstert und Versuchnurzugenügen­abermichbetrügstdunicht«.

Bereits in seinem erfolgreichen Debütroman »Ein Kamel ohne Höcker« (2003), der gelegentlich mit J.D. Salingers »Ein Fänger im Roggen« ver­glichen wird, geht Khemiri als Sohn einer schwedischen Mutter und eines tunesischen Vaters provokativ die Probleme mit den Migranten an. Als neue Stimme Schwedens, »die so klingt, als würde man in ein willkürliches Einwandererviertel ein Mikrofon halten«, greift er insbesondere die unlenkbare Identifikationsfindung von Kindern der zweiten Einwanderergeneration auf, die den Willen der Eltern nach Integration als Verrat betrachten, da diese sich von der Anpassung täuschen lassen. Denn die Schweden akzeptieren doch vorbehaltlos die Einwanderer, »solange sie sich beneh­men und Schwedisch lernen und nicht ihre eigenen Traditionen zementieren«.

In seinem neuen Roman knüpft Khemiri nun lose an sein Debüt an. Kadir, ein alter Jugendfreund des Vaters aus Tunesien, wendet sich per E-Mail an die Romanfigur Jonas Khemiri, um zum Erstlingswerk zu gratulieren. Darüber hinaus schlägt er dem jungen Autor vor, mit ihm zusammen eine Biografie über den Vater zu schreiben. Er will diesem »magischen Mann«, der es vom armen tune­si­schen Waisenknaben über einen anständigen schwedischen Familienvater hin zum international anerkannten Starfotografen geschafft hat, ein literarisches Denk­mal setzen. Dabei braucht er die Unterstützung eines aufstrebenden Literaten, da er selbst über keine Lobby verfügt und seine Ambitionen bislang »durch Wissenslücken und blasierte Verlagshäuser behindert« wurden.

Jonas, der seit mehreren Jahren keinen Kontakt mehr zu seinem Vater hat, ist für diese Idee nur schwer zu gewinnen. In seinen Erinnerungen findet sich nur ein Vater wieder, der seine Familie in Schweden in Stich gelassen hat. Etwas gewöhnungsbedürftig erwähnt Jonas seinen Erzeuger dann immer in der Pluralform, um ihm jede Form von Individualität zu nehmen. »Pappas haben ih­re zerschlissene Reisetasche gepackt und die Familienverant­wortung hinter sich gelassen.«

Eine intensive Brief- und E-Mail-Korres­pondenz beginnt, die stilistisch recht kreativ als konstruierter Briefwechsel und kolorierte Textcollage aufgebaut ist, doch sprachlich hart an die Grenze des Erträglichen schrammt. Denn Khemiri versucht, in seinem Form- und Sprachexperiment das Thema, wie man sich selbst und andere über die Sprache definieren kann, mit zwei sehr unterschiedlichen Stimmen zu modulieren. Dabei gehen Kadirs großspurige Kommentare in einem Kauderwelsch aus französisch-arabisch-schwedisch-schwulstig-ausschweifenden Wendungen rasch so richtig auf die Nerven.

Die deutsche Übersetzung wirkt einfach nur affektiert und kann mit dem automatischen Übersetzungsportal Babelfish durchaus konkurrieren. Da werden Texte prelimiär klassifiziert, Exempel kollektioniert, exaltierte Kommentare versprochen und nombreuse Inkon­se­quen­ten entdeckt. Es wird gefahrstuhlt, nach Hause retouniert, zum Bahnhof es­kortiert, auf weißen Schimmeln geritten und alles in allem über die schwedische Sprache gezetert, die »den schönsten Teil der Brust Warzenhof nennt« – orientalische Metaphorik stößt auf westlichen Realismus.

Jonas’ Antworten dagegen sind wohltuend sachlich. Anfänglich reagiert der überraschte Autor verhalten auf die besserwisserischen Ratschläge des merkwürdigen Mannes, bis auch ihn die verlogenen Erzählungen aus der Ruhe bringen. Er opponiert gegen die Lobreden des väterlichen Jugendfreundes und erzählt eine ganz andere Geschichte. Der Ton wird schärfer, und Jonas muss sich sogar beleidigen lassen: »Es fehlt Dir an adäquatem Talent. Du bist ein miserabler Möchtegernschriftsteller. Du bist ein PARASIT, der Deinen Vater ausgenutzt hat, um eine FALSCHE Historie zu gestalten.«

Dabei hätte Jonas gerne – wie andere emi­grierte Märtyrerkinder – die Geschichte von einem starken Vater erzählt. Denn alle Väter »haben auch max politische Vergangenheit und unter Franco in Konzentrationslagern gesessen und sind die übelste Bedrohung für Pinochet gewesen und (…) haben den Ayatollah in einer Live-Fernsehsendung angepisst«. Dass die gut ausgebildeten Väter in Schweden billige chinesische Synthetikhemden verkaufen, Lastwagen fahren oder wie Jonas’ Vater in einem Stockholmer Ghettoviertel ein schlecht gehendes Fotoatelier für Haustierfotografie füh­ren, ist dagegen die bittere Realität, die sich Jonas im Laufe seiner Jugendjahre erst eingestehen muss.

Lügen werden zu Lebenslügen, und die Verbrüderung der Ghettokids, die als »brothas« in der Verbandszentrale von »Kanake for life« abhängen, ist auch nur von begrenzter Dauer. »Es gibt Religionsverhöhnungen und Moslemfotze und Idiotenkatholik und ich spucke auf deinen Mohammed und ich ficke deinen Papst und dann verdammt lesbische Somalierhure und verdammt hässlicher Fotzeninder.« In die­sen zornigen Beschimpfungen liegt die Kraft des Titel gebenden Tigers Montecore, bekannt geworden durch den Angriff auf den pailletten­besetzten Tigerzähmer Roy aus der Las-Vegas-Glitzer-Show Siegfried & Roy, die sich in dem jungen Helden explosionsartig entlädt. Hier ist der Roman am stärksten: »Gut gebrüllt, Tiger!«

Khemiri setzt bei der Konstruktion seines Romans die Wasserwaage bewusst schief an. Er zeigt mit scharfem Blick, wie der allseits gelobte schwedische Wohlfahrtsstaat aus dem Gleichgewicht gekommen ist.

Jonas Hassen Khemiri: Ein Tiger auf zwei Beinen. Aus dem Schwedischen ­von Susanne Dahlmann. Piper Verlag, München 2007. 380 S., 19,90 Euro