Bourdieus Pisa-Studie

platte buch

Von der Soziologie sagen manche, dass sie ohne den Hauch von Ahnung oder Erfahrung auskommt. Der Alltagsempiriker Pierre Bourdieu, ein Sammler von Daten und Stimmen, war der Gegenbeweis. Bevor er »Die feinen Unterschiede« (1979) schrieb, führten er und Alain Darbel eine Feldstudie durch, deren Ergebnisse in sein Hauptwerk eingeflossen sind. Ein typisches Bourdieu-Sujet. Warum gehen Leute ins Museum, und mit welchem Gewinn? Interviewt wurden Besucher von Kunstmuseen in europäischen Ländern, aus dem Wust der Antworten entstand 1965 das Buch »L’Amour de l’art«, das erst nach über 40 Jahren in deutscher Übersetzung erschienen ist – eine Verspätung, die damit zu tun haben könnte, dass ausgerechnet das kulturbeflissene Deutschland nicht an dem Projekt beteiligt war.

Nicht gerade überraschend war, was Bourdieus Pisa-Studie über den typischen Museumsbesucher herausgefunden hatte. Der Kunstkonsument war vorwiegend jung und gebildet; selten stammte er aus den unteren Schichten. »Der Anteil der verschiedenen sozio-professionellen Kategorien im Publikum der Museen (…) steht nahezu in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem Anteil in der Gesamtbevölkerung«, sagen Bourdieu/Darbel und raten den Kunsttempeln, es mit mehr Öffentlichkeitsarbeit und Führungen zu versuchen. Für Bourdieu ging es dabei natürlich um mehr als um Museumspädagogik, er betrachtete den Umgang mit der Kunst als Schlüsselqualifikation der bürgerlichen Gesellschaft, der Gang ins Museum war ein Akt kultureller Besitzergreifung.

Audio-Führungen, Museums-Guides und die Schlangen mit kreischenden Teenagern und Touristen vor Großausstellungen wie der MoMA in Berlin 2004 sind ein Indiz dafür, dass inzwischen Bewegung in die Museumswelt gekommen ist. Zudem kann man bezweifeln, ob der Besuch von Gemäldegalerien heute noch das große kultu­relle Kapital erbringt. Wohl kaum. Aber um das herauszukriegen, bräuchte man halt jemanden wie Bourdieu.

heike runge

Pierre Bourdieu/Alain Darbel: Die Liebe zur Kunst. Europäische Kunstmuseen und ihre Besucher. UVK, Konstanz 2006, 24,90 Euro