Dafür und dagegen

Deutschland hält es gleichermaßen mit der amerikanischen wie der russischen Seite und zieht seinen Vorteil aus dem Konflikt um die Raketenabwehr. von stefan frank

Eine ebenso rätselhafte wie universale Erscheinung ist die Masse, die plötzlich da ist, wo vorher nichts war«, schreibt Elias Canetti in seinem Buch »Masse und Macht«. »Viele wissen nicht, was geschehen ist, sie haben auf Fragen nichts zu sagen; doch haben sie es eilig, dort zu sein, wo die meisten sind.« So ähnlich verhält es sich mit der Politik. Warum reden plötzlich alle über Raketen? Als die Nato auf ihrer Tagung in Prag im November 2002 beschloss, eine Machbarkeitsstudie über ein Raketen­abwehr­system in Auftrag zu geben, hielt das niemand für besonders wichtig. Die wenigen, die von dem Beschluss sprachen, begrüßten ihn. Es sei unangenehm, wenn einem Raketen auf den Kopf regneten, darum brauche man einen Schirm.

Sogleich machten sich ein paar umtriebige Wissenschaftler an die Arbeit und präsentierten im vergangenen Jahr ihren Plan. Dass der Nato-Gipfel in Riga im Herbst 2006 ein Abwehrsystem für technisch machbar erklärte, kümmerte wiederum niemanden.

Man mag zwar einwenden, dass eine Raketenabwehr der Nato etwas anderes sei als eine der USA, trotzdem müssten deutsche Politiker, die gegen das eine sind, weil es das strategische Gleichgewicht und einiges mehr störe, erklären, warum diese Bedenken nicht ebenso für das andere gelten sollen. Während seinerzeit niemand über solche Dinge nachdachte, sollen sie nun besonders wichtig sein. Warum? Das hat eben damit zu tun, dass Politiker und Journalisten immer dahin laufen, wo bereits viele ihrer Kollegen herumstehen.

Wladimir Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang Februar, in der er die militärische Expansion der USA kritisierte, stand zwar am Anfang der Debatte, hätte aber für sich genommen nicht ausgereicht. Der Gewohnheit folgend hatten nach der Konferenz ja alle geglaubt, jetzt müsse man auf Putin schimpfen, weil der wieder Kalten Krieg wolle. Erst als sich auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier und der SPD-Vorsitzende Kurt Beck gegen die US-amerikanischen Pläne aussprachen, hatten alle etwas dazu zu sagen.

»Wir brauchen keine neuen Raketen in Europa«, sagt Beck, die SPD wolle »keinen neuen Rüstungswettlauf zwischen den USA und Russland auf europäischem Boden«. Völlig falsch, entgegnet Eckart von Klaeden, der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, denn zehn Abwehrraketen seien »nicht in der Lage, eine Abschreckung oder ein wirksames Instrument gegen Tausende von russischen Raketen und Sprengköpfen zu sein«.

Steinmeier verhält sich diplomatisch. Erst äußert er Verständnis für die russische Position, dann für die US-amerikanische. Verteidigungsminister Franz Josef Jung hat nichts gegen eine Raketenabwehr, möchte aber, dass sie von der Nato gebaut und betrieben wird. Gerhard Schröder, der inoffizielle Ostbeauftragte der Regierung, hält das Programm für »politisch gefährlich«.

Der SPD-Generalsekretär Hubertus Heil fordert die CDU dazu auf, »den Bürgern klipp und klar« zu sagen, welche Position sie einnehme. Welche Position aber nimmt die SPD ein? Ihr Außenpolitiker Hans-Ulrich Klose hält Becks Ablehnung für unbegründet. Es gebe vielmehr gute Gründe für das Projekt. Falls etwa der Iran in den Besitz von Nuklearwaffen gelange und für eine Raketenabwehr keine Stützpunkte in Polen und Tschechien bereitstünden, drohe »Europa in der Tat schutzlos« zu werden.

Bundeskanzlerin Merkel sind die Raketen eigentlich schnuppe, ihr ist nur wichtig, dass »Alleingänge« vermieden werden und alles irgendwie abgestimmt wird. »Europa schwächt sich in seiner Kraft und Durchsetzungsfähigkeit, wenn es uneinig ist.«

Uneinigkeit finden auch andere nicht gut. Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle etwa hielt anlässlich der von der FDP beantragten Aktuellen Stunde im Bundestag am Donnerstag der vorigen Woche eine fulminante Rede. Statt, wie von vielen erwartet, die endgültige Teilung Europas zu fordern, sagte er: »Wir müssen eine Spaltung Europas in der Außen- und Sicherheitspolitik verhindern.« Darum sei »die Raketenstationierung, die dort geplant wird«, nicht etwa zu begrüßen, sondern »außerordentlich kritisch zu betrachten«. Das aber muss nicht heißen, dass Westerwelle sie ablehnt, nachdem er sie lange genug kritisch betrachtet hat.

Die sozialistische Position vertrat Gregor Gysi: »Jetzt kriegen wir wieder eine solche Spaltung in Bezug auf die Raketenaufstellung in Polen und Tschechien. Bei dieser Frage denkt und handelt die EU wiederum nicht einheitlich. Ich denke, wir stimmen überein, dass wir eine gemeinsame Außen- und Sicherheits­politik brauchen. Dafür muss man eine Menge tun.« Renate Künast wiederum sieht das ökologische Gleichgewicht bedroht: »Wir werden nicht akzeptieren, dass ein Dritter mitten in Europa, in der Europäischen Union, ein Raketenabwehrsystem baut, ohne in der Nato und ohne mit der Europäischen Union darüber zu diskutieren.« Sie findet also nicht etwa das Raketenabwehrsystem als solches doof und meint auch nicht, dass man auf Russland Rücksicht nehmen müsse – solche Bedenken hat sie während der Amtszeit der rot-grünen Bundesregierung auch nie gehabt, weder, als es um die große Ost-Erweiterung der Nato ging, noch beim Krieg gegen Jugoslawien. Vielmehr bangt sie um die Vorherrschaft im Hinterhof. In Polen und Tschechien darf nichts passieren, wozu Deutsch­land nicht sein Einverständnis gegeben hat – Europa den Europäern, Interventionsverbot für raumfremde Mächte.

Im Moment bedrohen offenbar vor allem die amerikanischen Raketenmänner den Frieden in Europa, aber morgen können die russischen Oligarchen schon wieder die Schlimmeren sein. Über die Parteigrenzen hinweg sind sich die Deutschen einig, dass es ohne ihren mäßigenden Einfluss in der Welt drunter und drüber gehen würde. Sie halten sich selbst stets für »ehrliche Makler«, woran immerhin so viel wahr ist, dass sie die Courtage einstreichen: Von jedem Konflikt zwischen den USA und Russland profitiert Deutschland, da beide Länder stets versuchen, die Deutschen (und damit die EU) auf ihre Seite zu ziehen.

Ausländer, die mit der deutschen Politik nicht vertraut sind, werden vielleicht glauben, in wichtigen außenpolitischen Fragen herrsche in Berlin Durcheinander. Das Gegenteil ist richtig. Das Stimmengewirr ist Ausdruck deutscher Sowohl-als-auch-Politik: nicht neutral sein (denn damit würde man beide Parteien verärgern), sondern sowohl die USA als auch Russland in dem Glauben lassen, es gebe in Deutschland einen Konflikt um die außenpolitische Ausrichtung, der derzeit unentschieden sei, sich aber zu Gunsten desjenigen Landes entscheiden werde, das deutschen Interessen stärker entgegenkommt als das andere. Der Witz dabei ist, dass dieser Showkampf niemals ein Ende findet.

Hier zeigt sich, dass das »Wippspiel des Parlamentarismus« (Friedrich Engels) nicht nur dazu da ist, die Bevölkerung zu verschaukeln, sondern auch in der Außenpolitik Bewegungsfreiheit verschafft. Je mehr Politiker sich zu Wort melden, desto weniger versteht man, und desto geringer die Gefahr, beim Wort genommen zu werden. Nur der Außenminister muss eine klare Position haben: dafür und dagegen.