Ein Relikt aus der Vergangenheit

Die Raketenabwehr und die Nato von anita baron

Lange Zeit galt sie als das stärkste und stabilste Militärbündnis, das die Welt je gesehen. Die Nato hat im Kalten Krieg die Rote Armee besiegt, verfügt über Millionen von Soldaten und einen gigantischen Apparat. Nun ist sie mit einem Gegner konfrontiert, der alle bisherigen Herausforderungen in den Schatten stellt: sie selbst. Der aktuelle Konflikt um die Raketenabwehr ist nur einer von vielen in den vergangenen Jahren. Und alle kreisen im Kern um dieselbe Frage: Gibt es noch einen Konsens zwischen den europäischen Mitgliedsstaaten und den USA, oder driftet das Bündnis auseinander?

Die Nato war in ihrer Geschichte mit zahlreichen internen Krisen konfrontiert, etwa mit dem Austritt Frankreichs aus der militärischen Organisation in den sechziger Jahren. Doch nie erreichten sie ein solches Ausmaß wie in der jüngsten Vergangenheit. Während des Kalten Kriegs konnte sich das Bündnis auf seine militärische Rolle konzentrieren, weil seine politischen Ziele wegen der mutmaßlichen Bedrohung aus dem Osten nie in Frage gestellt wurden. Kompliziert wurde die Sache erst mit dem Ableben des ehemaligen Gegners. Seither ist der Nordatlantikpakt vor allem mit sich selbst beschäftigt.

Die Symptome sind deutlich sichtbar. Sogar bei ihrem derzeit wichtigsten Einsatz, nämlich in Afghanistan, kommen die Mitglieder ihren eigenen Zusagen nur sehr widerwillig nach. Das Bündnis sei nicht mehr »der primäre Ort«, wie es der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder einmal ausdrückte, um die Strate­gien der Nato-Staaten zu erörtern und zu koordinieren.

Begonnen hat diese Entwicklung bereits in den neunziger Jahren. Spätestens seit dem Kosovo-Krieg halten die USA bei militärischen Einsätzen die Nato nicht mehr für die Institution ihrer Wahl. Im Zweifelsfall vertrauen sie lieber auf die eigenen Fähigkeiten, wie sich beim Angriff auf Afghanistan 2001 und wenig später im Irak zeigte. Die Europäer wiederum zögern immer dann, wenn die USA eine dominierende Rolle spielen, und bauen stattdessen ihre eigenen militärischen Kapazitäten aus.

Zugleich nehmen die potenziellen Aufgaben der Nato zu. Terrorismus, ethnische Rivalitäten, zerfallende Staaten, Sicherung der Rohstoffversorgung – es gibt kaum eine Re­gion, in der nicht eine Aufgabe auf das Bündnis wartet. In den asymmetrischen Kriegen der Gegenwart verschwimmen die Grenzen zwischen der herkömmlichen Territorialverteidigung und dem »Heimatschutz« und damit auch die klassische Aufteilung zwischen polizeilichen und militärischen Funktionen.

Die Transformation des ehemaligen trans­atlantischen Verteidigungspakts zu einer Art Polizeitruppe für internationale Krisenintervention aber schafft ganz neue Probleme. Und bei der Frage, wie auf diese Krisen reagiert werden soll, gehen die Ansichten weit auseinander. Erst vor wenigen Jahren zerbrach das Bündnis fast an der Frage, ob man ohne die Genehmigung des UN-Sicherheitsrats einen Krieg führen soll. Während die USA weiterhin vor allem auf ihre militärischen Kapazitäten vertrauen, versuchen die Europäer, ihren wirtschaftlichen und diplomatischen Einfluss auszubauen.

Gut möglich also, dass sich die Nato zu einer unverbindlichen Koali­tion entwickelt, auf die man zurückgreifen kann, wenn sich die Interessen auf beiden Seiten des Atlantiks hin und wieder überschneiden. Wie der aktuelle Konflikt um die Raketenabwehr zeigt, wird dies künftig nicht mehr allzu oft der Fall sein.