Hier spricht die Unterschicht

Aus der Sozialwohnung in die Charts: Die britische Rapperin Lady Sovereign gilt als neuer Star im HipHop. von markus ströhlein

Eine überaus dicke Frau stapft auf den Betrachter zu. Sie reißt sich die körper­liche Hülle herunter. Zum Vorschein kommt eine zierliche, kleine Frau. Sie knöpft sich ihre Strickjacke auf, unter der eine unglaubliche Körperbehaarung hervorwuchert. Als dunkler Haar­puschel mit einem Kopf und Beinen setzt die Frau ihren Weg fort. Wenige Sekunden später sieht sie zwar wieder vollkommen gewöhnlich aus, trägt ein T-Shirt und eine Jeans, lässt aber in einem kleinen Käfig einen Hamster verhungern. Kurz darauf hält sie sich ein affenähnliches Geschöpf mit einem lauten Rülpsen vom Hals.

Das Video mag absurd erscheinen. Sicherlich erfüllt es auf den ersten Blick nicht die Erwartungen an ein durchschnittliches HipHop-Video. »Love me or hate me« heißt der Song. Die Frau, der all die seltsamen Dinge zustoßen, nennt sich Lady Sovereign. Das Musikvideo haben sich bereits mehr als 500 000 Menschen im Internetforum Youtube angesehen. So häufig werden nur wenige Clips angeklickt.

Dass die Konsumenten Lady Sovereign so große Aufmerksamkeit schenken, ist nicht erstaunlich. Der Rolling Stone hat sie zum »nächs­ten HipHop-Superstar« ernannt. Auch das muss nicht verwundern. Die britische Musikpresse pflegt ja ein sehr inniges Verhältnis zu den Bands des Landes. Einen musikalischen Vergleich haben sich die britischen Schreiber auch ausgedacht: Lady Sovereign sei Londons Missy Elliott.

Die US-amerikanische Rapperin und Produzentin hat einen Remix von »Love me or hate me« gemacht, der auf Lady Sovereigns neuem Album »Public Warning« zu finden ist. Ansonsten ist der Vergleich schmeichelhaft, aber nicht unbedingt zutreffend. Zwar zeigt die Britin mit ihrem Namen, dass sie einen Platz im Männer- bzw. Machobusiness des HipHop beansprucht. Und man kann ihr nur Glück wün­schen, denn ihre Musik ist großartig. Doch die Kontrolle, die Missy Elliott über ihren musikalischen Produktionsprozess hat, fehlt »S.O.V.«, wie Lady Sovereign sich selbst nennt. Missy Elliott macht alles selbst. Lady Sovereign ist lediglich eine MC, die zu den Beats rappt, die ihre Produzenten programmieren. Als Vorbild für die Selbstermächtigung von Frauen im HipHop taugt sie nicht so wie Missy Elliott.

Musikalisch hat die Rapperin aus London mit der Grande Dame des US-HipHop genauso wenig gemein wie mit Eminem, mit dem sie ebenfalls verglichen wird. Das legt nahe, dass die Parallelen, die manche Schrei­ber gezogen haben, sich an zwei blöd­sin­ni­gen Merkmalen festmachen: Im Fall von Missy Elliott am Geschlecht, bei Eminem an der Haut­farbe. Lady Sove­reign sei eben auch weiß und mache in irgend­einer Weise witzi­gen HipHop, so wie der Rapper aus Detroit, lautet der Tenor. Das ist natürlich Humbug. Eminem hat schon vor langer Zeit seine ernste Seite entdeckt. In dem autobiografischen Film »8 Mile« hat er jede Spur von Selbstironie vermissen lassen. Und seitdem ist er auch nicht mehr witzig, sondern lächerlich.

Dennoch kann man die beiden in ganz anderer Hinsicht vergleichen. Eminem ist in einer heruntergekommenen Wohnwagensiedlung aufgewachsen. Lady Sovereign wurde im Chalkhill Estate groß, einem berüchtigten Komplex von Sozialwohnungen im Nordwesten Londons. Beide Musi­ker gelten als Repräsentanten der jugendlichen Unterschicht.

Die Britin wird häufig als »Chav« bezeichnet. Der Begriff kommt aus dem Romani. Eigentlich bedeutet er »Kind«. Doch ein »Chav« ist in Großbritannien nichts anderes als ein jugendlicher »Proll«. Er trägt Turnschuhe, eine Jogginghose und eine Sportjacke, Markenware, ver­steht sich. Auf dem Kopf sitzt eine Baseball­mütze. Er hat eine Vorliebe für unechte Gold­ketten und anderen Billigschmuck. Und gern trägt er schwere Siegelringe. Diesen sovereign rings, mit denen sich recht leicht die Vorderzähne anderer Menschen ausschlagen lassen, dürfte Lady Sovereign unter anderem ihren Namen verdanken.

Meist lebt ein »Chav« von der Sozialhilfe, die er jedoch versäuft oder für andere Drogen ausgibt. Er besitzt immer das neueste Handymodell, das er mit Vorliebe anderen Jugendlichen unter Gewaltanwen­dung entreißt. Die Frauen dieser »Chav«-Kultur sind meist stark geschminkt und tragen ihre Haare zu einem engen Pferdeschwanz gebunden. Viele werden schon sehr jung schwanger. Die »Chavs« verbringen ihre Zeit an Bus­haltestellen, vor den Filialen von Fastfood-Ketten und Einkaufszentren.

Sonderlich beliebt ist dieses soziale Milieu nicht. In dem Internetforum »Chav­scum« lassen sich die Besucher über den »Abschaum« aus. Auch Lady Sovereign wird dort mit Hass überschüttet. »Sie ist ein Stück Scheiße ohne Talent«, tut ein Benutzer kund. »Man sollte sie in eine Tonne für medizinische Abfälle werfen und dann verbrennen«, äußert sich ein anderer.

Dabei ist Lady Sovereign nicht nur eine Repräsentantin dieser Unterschicht. Sie parodiert die »Chav«-Kultur. Und sie spielt mit dem Klischee des »Prolls«. Das Video zu »Love me or hate me« zeigt das recht amüsant. Die übergewichtige Frau, die die Körperpflege vernachlässigt, vor sich hinrülpst und so verwahrlost ist, dass sie ihr eigenes Haustier sterben lässt, ist ein Klischee, das sich Lady Sovereign ganz bildlich abstreift.

Das »Chav«-Thema zieht sich durch das ganze Album. In »Hoodie« lädt die Rapperin dazu ein, sich den Kapuzenpulli, ein weiteres typisches Kleidungsstück der »Chavs«, überzuziehen und mit ihr feiern zu gehen. »My England« ist, anders als der Titel vermuten lässt, kein in Pop verpacktes patriotisches Bekenntnis. Vielmehr beschreibt die Musikerin das heruntergekommene England jenseits der Sehenswürdigkeiten und herausgeputzten Stadtteile. In »Blah Blah« weigert sich die 21jäh­rige, sich wegen ihrer sozialen Herkunft kate­gorisieren zu lassen.

Das alles tut sie mit unschlagbarer Selbstironie. Doch am überzeugendsten ist die Musik. Sie steht in der guten Tradition des britischen Pop. Er hat es stets vollbracht, sich US-ame­rikanische Stile anzueignen und in etwas Neues zu verwandeln. Selbstverständlich macht Lady Sovereign HipHop. Aber ihre Songs gehen weit über das hinaus, was zurzeit in den meisten US-Produktionen zu hören ist. »Public War­ning« schweift durch die Musiksparten, bedient sich bei Drum’n’Bass, Reggae, Electro, Ska, Punk. Und für eine Platte, die eine große Masse erreichen soll, ist sie knarzend, kantig und wummernd produziert.

»Boogie with me!« singt Lady Sovereign an einer Stelle. Man kann die Einladung nicht ablehnen. Im April kommt »S.O.V.« im Rahmen der British Music Week für einige Konzerte nach Berlin, Hamburg, München und Köln.

Lady Sovereign: Public Warning (Universal)