Lesen und lesen lassen

in die presse

Vernon Muñoz Villalobos, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, ist uneinsichtig. Obwohl man ihm nach seinem Besuch im vergangenen Jahr deutlich zu verstehen gab, dass Deutschland sich durch wissenschaftliche Erkenntnisse ebensowenig vom drei­gliedrigen Schulsystem abbringen lassen wird wie der Papst von der heiligen Dreieinigkeit, fordert er »eindringlich«, das System, das im Umgang mit armen, migrantischen und behinderten Kindern »selektiv und sicher auch diskriminierend ist, noch einmal zu überdenken«. Und das auch noch in Genf vor dem Menschrechtsrat der Uno.

»Das deutsche Bildungssystem ist kein Fall für Amnesty International!« ruft Jürgen Schreier, Kultusminister des Saarlands, dem Tagesspiegel zu. Er ist »empört«, dass »Herr Muñoz so getan hat, als würden hierzulande Menschenrechte verletzt«. Der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth erläutert dem Focus: »Abitur ist kein Menschenrecht!«

»Der Hochschulunterricht muss allen gleichermaßen entsprechend ihren Fähigkeiten offenstehen«, fordert Artikel 26 der Menschenrechtskonvention, und Deutschland hat sich vertraglich verpflichtet, jede Form von Diskriminierung zu beenden. Auch Muñoz’ Kritiker müssen einräumen, dass es »große Herausforderungen« (Schreier) gibt. Doch es geziemt sich nicht, von Diskriminierung zu sprechen, vielmehr muss Tenorth zufolge die »Wertschätzung von Bildung« bei den »Risikogruppen« erhöht werden. »Wer sich abschottet und nicht arbeiten und lernen will, drückt sich vor seiner Selbstverantwortung.«

Statt nun dabei zu helfen, die Selbstverantwortung zu stärken, fordert Muñoz, »soziale Ungleichheiten zu überwinden«. Die FAZ-Kommentatorin Heike Schmoll fragt sich deshalb: »Welches andere Land besitzt ein vergleichbar schwach ausgeprägtes Selbstbewusstsein und lässt sich von einem Professor aus Costa Rica, der kaum des Deutschen mächtig ist, die Leviten lesen?« Schaden kann es jedoch nicht, deutschen Bildungspolitikern den Leviticus vorzulesen, der Chancengleichheit vorschreibt. »Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer«, heißt es da über den Migranten, »und sollst vor den Blinden kein Hindernis legen.«

jörn schulz