Staatsfeinde ohne Grund

Vor knapp fünf Jahren wurden sie in der Türkei verhaftet, dann gefoltert, jetzt verurteilt: Zwei seit den siebziger Jahren in Deutschland lebende Kurden sollen wegen eines Organisationsdelikts ins Gefängnis. von sabine küper-büsch, istanbul

Die vernehmenden Polizisten sagten Mehmet Desde und Mehmet Bakir ganz offen, nichts über sie zu wissen, sie aber trotzdem zu verdächtigen. Die beiden saßen in verschiedenen Räumen der Anti-Terror-Abteilung auf dem Polizeipräsidium in Izmir, die Verhörstrategie war identisch: verbundene Augen, gefesselte Hände, Schläge, Misshandlungen und immer die gleichen Fragen: »Was wisst ihr über die Bolschewistische Partei Nordkurdistan-Türkei?« Die beiden sagten, dass sie eine solche Organisation nicht kannten, was ihnen die Polizisten jedoch nicht abnahmen. Das war im Jahr 2002. Nach mehr als vier Jahren endete Mitte Februar ihr Rechtsweg mit einer Verurteilung zu zweieinhalb Jahren Haft im türkischen Hochsicherheitstrakt.

Die absurde Geschichte von Mehmet Desde und Mehmet Bakir begann während eines Urlaubs in der Türkei. Dort wurden sie im Zusammenhang mit dem Erscheinen von Flugblättern und Aufklebern einer ominösen, in der Türkei als Terrororganisation geltenden »Bolschewistischen Partei Nordkurdistan-Türkei« in Izmir verhaftet. Die Ferien wurden für sie zu einem unfreiwilligen Dauerzustand. Desde und Bakir wurde vorgeworfen, Gründer und »leitende Mitglieder« der Organisation zu sein und sich im Land zu befinden, um ein militärisches Ausbildungscamp zu organisieren.

Tatsächlich hatten sich die beiden im Urlaub kennen gelernt. Zusammen mit fünf anderen Freunden waren die beiden auf dem Weg zu einem Ferienhaus. Auf dieser Fahrt begann der Alptraum. Sie wurden von der Polizei angehalten und ohne Angabe von Grün­den festgenommen. Von dem absurden Vorwurf, Mitglieder einer Organisation zu sein, von der sie niemals gehört hatten, erfuhren sie erst nach ihrer Ankunft auf dem Polizeipräsidium in Izmir.

Desde und Bakir sind Kurden, die ursprünglich aus der Provinz Tunceli stammen. Ihre Väter kamen mit der ersten Gastarbeitergeneration nach Deutschland, sie selbst kamen Ende der siebziger Jahre nach. Bereits diese Tatsache reichte aus, um sie für die Polizisten in Izmir als gefährliche politische Aktivisten erscheinen zu lassen. In den siebziger Jahren lieferten sich Rechte und Linke in der Türkei gewaltsame Auseinandersetzungen, die 1980 durch den Militärputsch beendet wurden. In dieser Zeit galt Tunceli als Hochburg der Linken.

Ihre Herkunft entsprach insofern einem idealen Täterprofil. Mit einem einzigen Haken: Als sie nach Deutschland kamen, war Mehmet Bakir erst 17 Jahre alt, Mehmet Desde war ein unauffälliger 20jähriger. Bis zu ihrer Verhaftung hätte man sie in Deutschland als Vertreter der sozialen Kategorie der »vorbildlich integrierten Erwachsenen mit Migrationshintergrund« bezeichnet. Desde, der deutscher Staatsbürger ist, hatte eine schöne Wohnung und arbeitete als Krankenpfleger in einem Krankenhaus in Landshut. Bakir war freier Journalist in Berlin, fuhr aber häufig in die Türkei, um für Artikel zu recherchieren und zu fotografieren. Er hatte einen Einbürgerungsantrag in Deutschland gestellt und wartete auf dessen Bearbeitung.

Nach der Festnahme wurde ihnen verweigert, die deutsche Botschaft sowie ihre Verwandten zu benachrichtigen. Völlig rechtswidrig wurde ihnen kein Kontakt zu Anwälten gewährt. Die Polizisten verlangten eine Unterschrift unter bereits vorgefertigte Geständnisse. Als die beiden sich weigerten, wurden sie schwer misshandelt. Mehmet Desde erzählte der Jungle World, er habe sich ausziehen müssen und sei geprügelt worden, die Polizisten hätten seine Hoden gequetscht und ihm damit gedroht, ihn in einem Fass einzuzementieren und ins Meer zu werfen. Erst nach vier Tagen wurden die beiden Festgenommenen dem Haftrichter vorgeführt. Bakir wurde entlassen, gegen Desde erließ das Gericht einen Haftbefehl, er verbrachte die nächsten vier Monate in einer Einzelzelle des Hochsicherheitstraktes von Buca bei Izmir.

Für Bakir war die Freiheit allerdings von kurzer Dauer. Einige Tage nach seiner Frei­lassung, als er nach Berlin zurückfliegen wollte, wurde er in Istanbul auf dem Flughafen erneut verhaftet. Diesmal wurde auch gegen ihn ein Haftbefehl erlassen, das Gericht ging von Fluchtgefahr aus. Nach sechs Monaten wurden Desde und Bakir aus der Untersuchungshaft entlassen, gegen beide wurde eine Ausreisesperre verhängt.

Erst dann begann ihr langwieriger Rechts­weg. Im Juli 2003 sprach das berüchtigte Staatssicherheitsgericht sein erstes Urteil. Die beiden wurden beschuldigt, Gründer und »leitende Mitglieder« einer terroristischen Organisation zu sein. Während des Prozesses stellte sich heraus, dass gegen sie keinerlei Beweise existierten, außer einer später widerrufenen Zeugenaussage, dass die beiden im Auto über ein »Camp« gesprochen hätten. Auch über die Organisation »Bolschewistische Partei Nordkurdistan-Türkei« gibt es kaum Informationen. Bekannt war sie bis dahin nur durch das Verteilen von Flugblättern, keine Gewaltaktionen gingen zu Lasten der Gruppe. Das Gericht beschloss daher während des Prozesses, dass es sich um eine »ideologisch staatsfeindliche«, aber nicht »gewaltbereite« Organisation handle. Trotzdem wurden die beiden jeweils zu 50 Monaten Freiheitsstrafe und 5 000 Euro Geldstrafe verurteilt.

Doch noch bestand Hoffnung auf Revision. Im April 2004 hob der Kassationshof in Ankara das Urteil von Izmir auf. Im Oktober musste erneut in Izmir verhandelt werden. Da inzwischen aufgrund von EU-Reformen die berüchtigten Staatssicherheitsgerichte abgeschafft worden waren, verhandelte hier nun das zivile Landgericht die Revision. Selbst der Staatsanwalt plädierte wegen der mangelhaften Beweislage auf Freispruch. Vergeblich. Das Gericht verurteilte die Angeklagten zwar nicht mehr wegen »leitender«, aber wegen »einfacher« Mitgliedschaft, die Strafe für beide wurde auf 2,5 Jahre Haft reduziert. In letzter Instanz bestätigte die neunte Kammer des Kassationsgerichtshofs das Urteil.

Mehmet Desde und Mehmet Bakir wurden verurteilt, weil sie einer Organisation angehört haben sollen, die »gesinnungsgemäß« als »staatsfeindlich« eingestuft wird. Eine Chance, ihre Strafe in Deutschland abzusitzen, haben sie nicht, denn dieses Delikt gibt es nach deutschen Gesetzen nicht. Die Folterpolizisten wurden Anfang Dezember 2006 aus Mangel an Beweisen freigesprochen, trotz eines detaillierten Berichts der renommierten »Stiftung für Menschenrechte« in Izmir, in dem bestätigt wird, dass Mehmet Desde körperlich und psychisch gefoltert wurde und bis heute typische Be­schwer­den hat: Kopfschmerzen, Depressionen und Alpträume.

Derzeit warten beide auf eine Begnadigung oder den Gang ins Gefängnis. Der Alptraum Türkei ist für sie noch lange nicht zu Ende.