Lohn Gottes

Streiks in kirchlichen Einrichtungen

Wir schreiben das Jahr 1919. Mitten in den von den revolutionären Kämpfen geprägten Anfangsjahren der Weimarer Republik streiken in Berlin und Hamburg die Friedhofsarbeiter, um die Anpassung ihrer Löhne und Gehälter an die Inflation zu erkämpfen. Doch seitdem herrscht in kirchlichen Einrichtungen eine fast sprichwörtliche Friedhofsruhe.

Bis zum 16. März 2007. An diesem Tag protestieren etwa 4 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Diakonischen Werks Würt­tembergs in Stuttgart gegen die Einführung des so genannten Bundes-AVR (Arbeitsvertragsrichtlinien der Diakonie). Sie demonstrieren vor der Evangelischen Landessynode, die diese Richtlinien verabschieden soll. Zusätzlich zur Demonstration findet in acht Einrichtungen der Diakonie in der Region Stuttgart ein ganztägiger Warnstreik statt. Es ist der erste größere Streik in einer kirchlichen Einrichtung seit dem Ausstand der Friedhofsarbeiter 1919.

Die Diakonie hält die Warnstreiks für illegal, da für Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften das im Artikel 140 des Grundgesetzes verankerte Selbstverwaltungsrecht der Kirchen gelte. Dieses umfasse nicht nur die Verbreitung des christlichen Glaubens, sondern auch die karitativen Tätigkeiten. Folglich gibt es in kirchlichen Einrichtungen weder Betriebsräte noch gilt das Betriebsverfassungsgesetz. Außerdem ist es den Kirchen erlaubt, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Vorschriften für ihren Lebenswandel zu machen. So hat etwa im Jahr 2004 das Bundesarbeitsgericht die Entlassung eines Kirchenmusikers für rechtens erklärt, der nach seiner Scheidung erneut geheiratet hatte.

Die Gewerkschaften und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben die kirchlichen Sonderregelungen so lange akzeptiert, wie die kirchlichen Einrichtungen die Tarife für den öffentlichen Dienst größtenteils unverändert übernommen haben. Doch seitdem auch Diakonie, Caritas und Co. dem gesamtgesellschaftlichen Trend zu Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse folgen, rumort es in den großen Wohlfahrtskonzernen.

So sieht etwa der Bundes-AVR der Diakonie, den die Landessynode schließlich unbeeindruckt von den Protesten beschlossen hat, eine neue Eingruppierungsordnung vor, die es zukünftig erlaubt, Arbeiten nicht mehr nach der Ausbildung, sondern nach der Tätigkeit zu bezahlen. Demnach wird es z.B. möglich, Krankenschwestern wie Helferinnen zu entlohnen. Zusätzlich ersetzen »Sonderzahlungen« das bisherige Weihnachts- und Urlaubsgeld. Arbeitszeiten können unter Umständen verlängert werden. Die Gewerkschaft Verdi, die zu dem eintägigen Streik aufgerufen hatte, befürchtet Lohnkürzungen um rund 20 Prozent. Also droht all das, was seit Jahren gesamtgesellschaftlich im Trend liegt.

Den Streik der Friedhofsarbeiter vor 88 Jahren konnten die Kirchenvorstände nur dadurch beenden, dass sie sich an die Gewerkschaften wandten und diese um die Ausarbeitung von Tarifverträgen baten. Heutzutage lässt die Diakonie wenig Bereitschaft zu Verhandlungen erkennen. Es werden also noch weitere Streiks und Aktionen nötig sein, nicht nur, um die bevorstehenden Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen zu verhindern, sondern auch, um den Kirchen ihre undemokratischen Sonderrechte zu entziehen.

Auf die Gewerkschaften allein sollten sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dabei nicht verlassen. Schließlich wäre auch schon 1919 einiges mehr möglich gewesen als nur eine Anpassung der Löhne an die Inflation.

jens benicke