State of Emergency

NGO müssen in Afghanistan für ihre Arbeit Kontakte zu allen Seiten halten, auch zu den Taliban. Die italienische Organisation Emergency ist weiter gegangen und hat eine Art Paralleldiplomatie etabliert. von federica matteoni

Gino Strada hat keinen einfachen Job. Er ist der Gründer der italienischen NGO Emergency, die in Afghanistan drei Krankenhäuser und 28 Erste-Hilfe-Stati­onen betreibt. Er ist aber nicht nur ein engagierter Chirurg. Er ist eine politische Persönlichkeit, ein radikaler Pazifist, der einmal in einem Interview sagte, er sei »ohne Wenn und Aber« gegen den Krieg, und damit die inoffizielle Parole der italienischen Friedensbewegung schuf.

Dass er in Italien zu einer Art Nationalheld geworden ist, liegt aber nicht nur an seinem Engagement für Kriegsopfer, sondern auch daran, dass er und seine Organisation neben medizinischer Kompetenz auch erstaunliche diplomatische Fähigkeiten besitzen, etwa wenn es darum geht, über die Freilassung von entführten Italienern in Kriegsgebieten zu verhandeln. Mit ihrem letzten diplomatischen Einsatz im vergangenen Monat erreichte Emergency die Freilassung des italienischen Journalisten Daniele Mastrogiacomo, der Anfang März zusammen mit seinem afghanischen Fahrer und einem Dolmetscher von den Taliban entführt worden war.

Die NGO erwies sich bei den Verhandlungen als wichtigster Kooperationspartner der italienischen Regierung. Sich auf ihr Unabhängigkeitsprinzip berufend, lehnte sie jedoch jegliche Zusammenarbeit mit dem militärischen Geheimdienst ab und übernahm dessen Rolle: Sie nahm Kontakt mit den Entführern auf und verhandelte über die Freilassung der Geisel. Im Austausch für fünf inhaftierte Taliban kam Mastrogiacomo nach drei Wochen frei.

Die »Strada-Diplomatie«, wie sie die italienische Friedensbewegung nennt, habe gegen die Logik des Kriegs gesiegt, hieß es, als die Bilder um die Welt gingen, die den Journalisten in Taliban-Kleidung zusammen mit einem jubelnden Gino Strada im Emergency-Krankenhaus von Kabul zeigten.

Doch nicht jede Geiselbefreiung hat automatisch ein Happy End, wie die Italiener bereits vor zwei Jahren im Irak bei der Freilassung der Journalistin Giuliana Sgrena erfahren mussten. Auch der Fall Mastrogiacomo endete nicht nur mit einer Befreiung. Die afghanischen Begleiter des Journalisten wurden von den Entführern umgebracht.

Dem Fahrer schnitten die Taliban vor laufender Kamera die Kehle durch. Das Video lief im italienischen Fernsehen. Der Dolmetscher wurde nach Aussagen der Entführer geköpft. Davon erfuhr die Öffentlichkeit allerdings erst einige Tage nach der Freilassung des Journalisten. Vorher herrschte erst einmal Jubelstimmung in Kabul, zumindest für ein paar Stunden.

Bereits am nächsten Tag verhaftete der afghanische Geheimdienst den Leiter des Emergency-Krankenhauses in Lashkargah, Rahmatullah Hanefi. Ihm, der die Verhandlungen für die Freilassung der Geisel geführt hatte, wurde vorgeworfen, ein Vertrauensmann der Taliban zu sein, der ihnen Mastrogiacomo erst ausgeliefert habe. Emergency bezeichnete die Vorwürfe der afghanischen Regierung als »Lügen einer Mörderbande« und forderte die italienische Regierung vergeblich dazu auf, bei der afghanischen Regierung Druck zu machen, sich für ihren Mitarbeiter einzusetzen. Die NGO fühlte sich im Stich gelassen und ließ am Mittwoch voriger Woche aus Protest alle ihre ausländischen Mitarbeiter aus Afghanistan abziehen.

Die Nachricht war für die italienische Friedensbewegung ein Schock. Denn Strada, der George W. Bush als Kriegsverbrecher bezeichnet und ihn mit Ussama bin Laden und Hitler vergleicht, verkörpert für sie ihr friedenspolitisches Ideal. Seine antiamerikanischen Äußerungen, die Linke und Pazifisten durch seine Arbeit an der Front legitimiert sehen, sind für seine Kritiker wiederum ein Hinweis darauf, dass seine Organisation in Wirklichkeit die Taliban in Afghanistan sowie so genannte Widerstandskämpfer im Irak unterstützt.

Dass Emergency über Kontakte zu den Taliban verfügt, ist angesichts der Sicherheitslage im Lande kaum verwunderlich. Insbesondere für afghanische NGO-Mitarbeiter, die sich außerhalb von Kabul bewegen müssen, bedeuten solche Kontakte nicht selten die Rettung ihres eigenen Lebens, wenn sie in eine der Straßensperren der Taliban geraten. Die rund 40 000 Soldaten aus 37 Ländern, die die Sicherheit für den Wiederaufbauprozess gewährleisten sollen, erleichtern die Arbeit von Entwicklungshelfern nur minimal und sind oft mehr damit beschäftigt, sich selbst zu schützen.

Die mangelnde Sicherheit ist das Haupthindernis für eine wirkungsvolle Entwicklungspolitik. Für das, was Afghanistan-Kenner als failed aid bezeichnen, ist vor allem das Fehlen eines umfassenden Konzepts des nation building verantwortlich. Die von Vereinten Nationen und Regierungs- sowie Nichtregierungsorganisationen betriebenen entwicklungspolitischen Projekte mögen zwar einzeln betrachtet funktionieren, sie können jedoch nicht als Teil einer Gesamtstrategie zum Aufbau einer demokratischen Gesellschaft betrachtet werden. Jeder arbeitet für sich, vor allem in der Hauptstadt, wo die politische und gesellschaftliche Lage kaum mit der im Rest des Landes vergleichbar ist.

Neben Organisationen, die humanitäre Hilfe im klassischen Sinne leisten, etwa durch die Verteilung von Nahrungsmitteln, medizinische Versorgung oder den Aufbau einer Infrastruktur (Straßen, Energieversorgung etc.), sind zahlreiche Organisationen im Bereich des so genannten social engineering tätig. Darunter versteht man den Versuch, die gesellschaftlichen Strukturen zu modernisieren, beispielsweise durch die Verbesserung der Menschenrechtslage, der Situation von Frauen sowie durch Bildungsarbeit.

Gerade in diesen Bereichen, insbesondere, was Frauenrechte betrifft, hat sich die Lage kaum verändert (Jungle World 28/06). Die Koordination zwischen den Organisationen, die diese Projekte betreiben, ist schwierig. Da sie kaum außerhalb der Hauptstadt präsent sind, ist ihre Verankerung in der Bevölkerung gering. Dazu kommt auch die Kritik der afghanischen Regierung, zu viel Geld fließe über NGO, denen regelmäßig neben Korruption und Selbstbereicherung offen vorgeworfen wird, sich in Kabul abgeschottet und eine Art Parallelgesellschaft aufgebaut zu haben. Die italienische NGO hat mit ihrer eigenen Paralleldiplomatie eine lebhafte Debatte über den Umgang mit Entführungen und mit den Taliban ausgelöst. Italiens Regierung geriet wegen ihres Alleingangs international in die Kritik, bestraft wurde Emergency.