Die Ruhe nach dem Krach

Anders als erwartet, aber abgründig schön: Nach vielen Verzögerungen bringen Throbbing Gristle ihr Comeback-Album heraus. von andreas hartmann

Das Alter ist inzwischen keine relevante Größe mehr in der Popmusik. Zumindest wer bereits lange genug dabei ist, kann ruhig immer und auf ewig weitermachen – Patti Smith, Lou Reed oder Bob Dylan wird niemals mehr jemand das Recht absprechen, rocken zu dürfen.

Popmusik wird seit Jahren durchschüttelt von Revival- und Nostalgieeffekten, man freut sich inzwischen stär­ker auf etwas Altes und Wohlbekanntes, das wiederkehrt, denn auf etwas neu zu Entdeckendes. Als kurz vor Ostern Stings alte Band The Police ankündigte, sich nochmals für ein paar Konzerte vereinen zu wollen, war das, als sei Jesus Christus tatsächlich von den Toten auferstanden.

Dass es nun Throbbing Gristle nach beinahe einem Vierteljahrhundert Pause wieder gibt, ist also weit weniger sensationell, als es auf den ersten Blick scheint. Alle kommen zurück, selbst Iggy mit den Stooges. Warum also nicht auch die ehemaligen Bürgerschrecks und Begründer des Industrial, die vielleicht verkultetste Band der Popgeschichte? Richtig weg war die Band sowieso nie. Ihr Einfluss auf die Entwicklung der Popmusik lässt sich mit der Relevanz von Kraftwerk vergleichen, und das, was ehemals als absolute Antimusik wahrgenommen wurde, das TG-typische Störgeräusch, ist heute selbst Bestandteil von Justin Timberlake-Songs.

Das, was The Police noch vor sich haben, hat die Band jedoch bereits hinter sich: einen Strauß Comeback-Konzerte, in Berlin und London. Schon bei diesen war klar, dass TG trotz möglichem Vergleich mit The Police weit davon entfernt sind, eine normale Band nach allen Regeln der Popindustrie zu sein. Hits, und die gibt es, »Hamburger Lady« beispielsweise, wurden weitgehend verweigert, und wenn man dann doch einmal in die Wundertüte mit der Aufschrift »Evergreens« griff, präsentierte man alte Gassenhauer bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. Man stelle sich vor, The Police würden sich demnächst »Every Breath You Take« verweigern oder den Song in einer Rapversion präsentieren, die Revolution würde wohl selbst in Deutschland ausbrechen.

Nun aber zum Kern der Angelegenheit: Das neue Album von Throbbing Gristle. Es ist da. Man hatte auf diese Platte wirklich gewartet, und auch das ist etwas anders als bei The Police, bei denen wohl selbst der wohlwollendste Fan dieser Band hofft, dass er das garantierte Desaster einer Comeback-Platte nicht erleben muss.

Doch jetzt, da jeder so schrecklich angeödet ist von aktueller Popmusik, hat man sich inständig erhofft, dass die Irren von damals auch noch die Irren von heute sein können, dass TG nochmal ein wenig Leben in den Betrieb zu bringen vermögen. Und warum eigentlich keine Chartplatzierung für den ehemaligen Charles-Manson-Fanclub? Wie viele verkaufte Einheiten braucht man dafür heutzutage? 25 und zusätzlich 37 Downloads? Das dürfte doch drin sein.

TG haben es jedenfalls wieder einmal geschafft, aus der Veröffentlichung eines simplen Tonträgers ein echtes Ereignis zu machen. Und das mit altbewährten Methoden und nicht mit Plakatierungsaktionen, als würde es sich um das neue Werk von Paris Hilton handeln. Gerüchte wurden gestreut, wieder dementiert, das Album sei fertig, hieß es irgendwann, es würde demnächst erscheinen. Bald wurde ein festes Datum genannt, dann wurde alles wieder zurückgezogen, die angeblich bereits fertige Platte neu überarbeitet – und so ging es immer weiter, bis sich gar niemand mehr wirklich auskannte. Und lang­sam wurde man wirklich nervös: Da schien sich etwas zusammenzubrauen.

Man spürte zu diesem frühen Zeitpunkt der Gerüchtepropaganda bereits, dass TG dabei waren, sich in dieser neuen Popwelt, die komplett anders funktioniert als die von damals, zurechtzufinden. TG sind Kontrollfreaks, das waren sie schon immer. Jedes ihrer Konzerte haben sie selbst aufgezeichnet, womit sie jedem Konzertbootleg eine offizielle Aufnahme entgegensetzen konnten. TG hatten außerdem immer ihr eigenes Label und übernahmen mög­lichst viele Schritte bei der Herstellung und dem Vertrieb ihrer Produkte selbst. Für so eine Band muss die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Internets das Grauen gewesen sein. TG waren immer fortschrittsgläubig und für die Benutzung neuer technischer Möglichkeiten, für die bedingungs­lose Aneignung selbiger, also natürlich auch für das Internet, in dem letztlich ja auch die Gerüchte um »Part Two« gepostet wurden. Doch die Vorstellung, ihre Platte, ihr Werk, das bei TG immer auch Fetisch­charakter hatte, nun als Datei ohne Haptik irgendwann im Netz wiederzufinden, ohne jede Kontrollmöglichkeit über das Artefakt, das muss eine Horrorvorstellung für die vier Musiker aus London gewesen sein. Deswegen kursierten erst einmal auch keine Vorabexemplare von »Part Two«, sondern es wurde zu Listening-Sessions geladen, die von Plattenfirmen normalerweise nur bei Künstlern veranstaltet werden, die mindestens die Popularität von Herbert Grönemeyer haben, und die als größtmögliche Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz vor dem Internet gelten.

Alles vorbei, inzwischen unwichtig, Schnee von gestern. Es ist da, das neue Album und längst auch im Netz, frei zugänglich für jeden. Egal, was man sich nun genau von einem neuen TG-Album erwar­tet haben mag, wirklich enttäuschen dürfte »Part Two« die wenigsten. Denn die Band hat erst gar nicht versucht, dem eigenen Erbe auf irgendeine Weise gerecht zu werden und ist so der Falle des Scheiterns geschickt ausgewichen. Überraschend wohltuend klingt die Platte vielmehr. Industrial, Noise, Techno, Dubstep, all den Spielarten, die TG so unendlich viel verdanken, hätte man letztlich sowieso keine neuen Höhepunkte bereiten können, den Furor des Krachmachers Merzbow etwa, natürlich ein TG-Fan, kann niemand nicht mal das Original, übertreffen. Wohl deswegen ist »Part Two« eher ruhig geworden. TG jetzt balladesk, was für ein Schock! Beinahe schon gepflegt, fast barjazzig und an die unheilvolle Melancholie des »Twin Peaks«-Soundtracks erinnernd. Genesis P. Orridge, der seine Verwandlung vom Mann in eine Frau auch bald abgeschlossen haben dürf­te, bellt und jault nicht mehr und setzt seine Stimme auch keinen Effektgeräten aus, sondern, nun ja, man kann fast sagen: Er singt. Nicht wie ein Vögelchen und nicht wie einer aus dem Kir­chenchor, aber immerhin.

Was die Platte auch so besonders macht, ist die Tatsache, dass sie Versuche, sie unter Tech­no oder Electronica einzuordnen, nicht zulässt. Es bleibt bei Ritualmusik mit eigenen Regeln, unbegreiflich und unfassbar, bei aller Schönheit zutiefst verstörend und apokalyptisch. Bei­nahe so abgründig wie Sting mit seiner Mittelaltermusik.

Throbbing Gristle. Part Two (Mute)