Wenn mein Herz aus Stein wäre

Cormac McCarthy hat für seinen Roman »Die Straße« den Pulitzer-Preis bekommen. Damit wurde der derzeit grausamste Schriftsteller der Welt ausgezeichnet. von maik söhler

Der Bible Belt in den USA ist in Europa immer für einen Lacher gut. Dort leben doch die, liest und hört man, die glauben, die Erde sei vor 6 000 Jahren entstanden, der Mensch habe zusammen mit Dinosauriern gelebt und George W. Bush trage Frieden und andere sympathische Botschaften aus »God’s Own Country« hinaus in alle Welt. Meistens sind es Intellektuelle und nicht selten Schriftsteller, die lachen.

Geht es gar um die Verbindung von Christentum und Texas, so werden aus den Lachern schnell Schenkelklopfer. Man bemüht dann Bilder wahlweise protestantisch-sektiererischer oder katholisch-fundamentalistischer, so oder so jedenfalls schwer bewaffneter Landeier, die in Grunzlauten ihre Beschränktheit zum Besten geben. Anschließend, so geht die Erzählung weiter, verschlingen diese Stier­nacken riesige Mengen Fleisch, gehen zur Verdauung in die Kirche, wo sie rülpsen und furzen.

Wenn wir im Bild bleiben wollen, dann heißt einer von ihnen Cormac McCarthy. Er ist 73 Jahre alt, wurde als Katholik erzogen und lebt heutzutage in El Paso, Texas. Oberflächlich betrachtet, unterscheidet sich McCarthy von seinen Landsleuten dadurch, dass er Schriftsteller ist. Das muss aber nichts bedeuten, auch Dichter passen sich gelegentlich ihrer Umgebung an.

Dass er an seiner Umgebung durchaus interessiert ist, hat McCarthy schon häufiger gezeigt. Von seinen mittlerweile zehn Romanen befasst sich eine Trilogie – »Borderline«, bestehend aus den Titeln »All die schönen Pferde« (1992), »Grenzgänger« (1994) und »Land der Freien« (1998), die allesamt Bestseller wurden – mit seiner Wahlheimat. Es sind moderne Cowboygeschichten, die zwischen Texas und Mexiko spielen und von der Suche nach Glück, Freiheit und Liebe erzählen. So gesehen wäre dieser Autor einfach nur ein konservativer Heimatschriftsteller, wie es so viele gibt, und der, um mal was Neues zu berichten, Anfang voriger Woche den Pulitzer-Preis für Literatur bekommen hat.

Man kann sich aber McCarthy ganz anders nähern und ihn als den Schriftsteller bezeichnen, der die derzeit abgründigste und dunkelste Prosa der Welt schreibt. Sein dichterisches Werk ist geprägt von Tausenden Toten, mindestens, und von unzähligen Morden, Vergewaltigungen, Verstümmelungen, von Folter, Kannibalismus, Sklaverei und sämtlichen denkbaren von Menschen an Menschen (und Tieren) begangenen Metzeleien sowie einigen Metzeleien, die nicht denkbar waren, bevor McCarthy über sie schrieb.

So gesehen sind seine Bücher samt der Cowboygeschichten mal mehr, mal weniger fiktionalisierte Ergänzungen der US-Geschichte (samt ihrer Massa­ker). »Die Abendröte im Westen« (1985) zum Beispiel lässt sich vorzüglich als Gegenerzählung sowohl zum Märchen von der friedlichen Besiedelung des Landes als auch zur Verklärung der dabei auf der Strecke Gebliebenen lesen: Cowboys und In­dianer waren nach McCarthys Lesart nur selten etwas anderes als Menschen fressende Massenmörder.

Den Pulitzer-Preis hat er nicht für sein Lebenswerk erhalten, sondern allein für sein jüngstes Buch. Es heißt »Die Straße«, wurde in den USA 2006 und in Deutschland vor ein paar Wochen veröffentlicht. »Die Straße« ist ein umwerfender, verstörender und zutiefst grausamer Roman. Das beginnt schon beim Klappentext, der vermutlich von McCarthy selbst verfasst wurde (so gute Texte stammen fast immer von den Autoren): »Ein Vater und sein Sohn wandern durch ein verbranntes Amerika. Nichts bewegt sich in der zerstörten Landschaft, nur die Asche im Wind. Es ist eiskalt, der Schnee grau. Ihr Ziel ist die Küste, obwohl sie nicht wissen, was sie dort erwartet. Sie haben nichts als einen Revolver mit zwei Schuss Munition, ihre Kleider am Leib, eine Einkaufskarre mit der nötigsten Habe – und einander.«

So karg kann man schreiben und dabei doch so vieles von dem vorwegnehmen, was auf den folgenden 250 Seiten an Bestialität gebündelt ist. Eine Katastrophe hat stattgefunden, welcher Art sie war, wird ebenso verborgen bleiben wie die Namen von Vater und Sohn sowie alles, was bei einer Identifikation von Zeit und Raum helfen könnte. Was wir erfahren, ist, dass die Strahlen der Sonne den stets düsteren, von Nebel, Regen, Schnee, Asche und Staub erfüllten Himmel nicht mehr durchdringen können. Es herrschen bittere Kälte und Dunkelheit vor, worin sich Vater und Sohn, meist einer Straße folgend, Richtung Süden bewegen.

Die Katastrophe liegt Jahre zurück, die beiden Flüchtlinge können nicht darauf hoffen, in den Ruinen der Städte und Dörfer etwas Überlebenswichtiges zu finden – vor ihnen waren schon tausend andere da. Vater und Sohn sind auf sich allein gestellt, da die meisten Überlebenden sich in Banden und marodierenden Haufen zusammen­getan haben und Jagd aufeinander machen, weil Menschen in einer Welt ohne Lebensmittel Nahrung darstellen.

»Darf ich dich mal was fragen? – Ja. Natürlich. – Was würdest du machen, wenn ich sterben würde? – Wenn du sterben würdest, würde ich auch sterben wollen. – Damit du mit mir zusammen sein kannst? – Ja. Damit ich mit dir zusammen sein kann. – Okay.« So klingt es, wenn sich Vater und Sohn mal unterhalten. Ein innerer Monolog des Vaters macht nur wenig später die Atmosphäre deutlich, in der dieser Dialog stattgefunden hat: »Alles ist aus seiner Verankerung gelöst. Ohne Halt in der aschenen Luft. Getragen von einem Atemhauch, zitternd und kurz. Wenn nur mein Herz aus Stein wäre.«

Aber das ist es nicht, und das macht alles nur noch schlimmer. Beide versuchen, in dieser inhumanen Welt Menschen zu bleiben, zu überleben, ohne andere zu töten und zu essen. Ihr Ziel ist weit entfernt, aber mit einem kleinen Fetzen Hoffnung verbunden, obwohl ansonsten alles in diesem Buch von der Abwesenheit der Hoffnung zeugt. Das ist das eigentlich Grausame an »Die Straße«, und es stellt die vielen mehr als unerträglichen Passagen über Menschenjagden, Kinder am Grillspieß, Sklavenkeller, wochenlangen Hunger und tagelangen Durst bei weitem in den Schatten.

Einige von McCarthys Motiven sind aus früheren Romanen entlehnt. Doch derart verdichtet und in eine Stimmung eingefasst, gegen die die Begriffe Apokalypse und Endzeit wie aus einem Werbetext für Himbeerbonbons entnommen scheinen, hat es so etwas lange nicht mehr gegeben. Das nackte Grauen springt einen von jeder einzelnen Seite an, und wo es mal anders ist, wartet man nur darauf, dass das Entsetzen wiederkehrt – stärker als zuvor, in seiner Bedrohlichkeit und Gewalt exponenziert. Es gibt Momente beim Lesen, in denen man selbst sterben möchte, damit die Lektüre endlich vorbei ist.

Der Christ McCarthy hat vorerst im Wettbewerb um den Titel des brutalsten Schriftstellers der Gegenwart gegen seine ständigen Konkurrenten, allen voran Denis Johnson, gewonnen. Auch Johnson ist US-Amerikaner und bekennender Christ. Europäer können in diesem Wettbewerb kaum noch mit­halten. Die Entdeckung, dass das Purgatorium der­zeit nicht im Jenseits zu finden ist und dass individuelle wie kollektive Selbsterkenntnis und ‑kritik literarisch besonders gut werden, wenn man dorthin geht, wo es wehtut, muss aber keine rein amerikanische bleiben. Dafür sollte sich jedoch erst mal der Blickwinkel europäischer Schriftsteller auf die Welt ändern – inklusive des Bible Belt und Texas.

Cormac McCarthy: Die Straße. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt, Reinbek 2007. 256 S., 19,90 Euro