Liebe zu Deutschland

Der deutsche Konservatismus, die Unionsparteien und ihr fragwürdiger Umgang mit der deutschen Geschichte: über die Anonymisierung der Täter und ihre Umdeutung zu Demokraten. Von Ludwig Elm

Reicht der Blick auf unverkennbar rechts­extremistische und rassistische Richtungen, Organisationen und Ideologien nach 1945 und heute aus, um kritische Fragen nach dem Verbleib jenes aggressiven Gewalt- und Vernichtungspotenzials des Hitlerreiches, seiner Ursprünge und Komponenten, befriedigend zu beantworten? Ist tatsächlich davon auszugehen, dass man bei der weiteren ansatzweise erfolgreichen Beherrschung des nazistisch-rassistischen Gefahrenpotenzials – die allerdings bereits gegenwärtig immer weniger zu gelingen scheint – aller nennenswerten Sorgen hinsichtlich der Demokratie, der sozialen Gerechtigkeit und einer friedensfördernden Außen- und Sicherheitspolitik enthoben ist?

Der Konservatismus war die Grundströmung in der vielgestaltigen politischen Rechten seit der Reichsgründung 1871 und auf dem Weg in den Ersten Weltkrieg; er war es in den Jahren der Weimarer Repu­blik und ist es in veränderten Erscheinungsformen seit der national-, europa- und weltgeschichtlichen Zäsur von 1945. Diese konservative Strömung geht einerseits in liberal-, sozial- und religiös-konservative Richtungen und andererseits in ihren na­tionalkonservativen Flügel und fluktuie­rende Grauzonen, auf diesem Weg tenden­ziell in das rechtsextremistische, nazistische und rassistische Spektrum über. Sie hat die Verfassungswirklichkeit der Bundes­republik seit 1949, die Grundlagen, Wesens­züge und politische Ausgestaltung dieses deutschen Staates nach Hitler entscheidend geprägt. Die Wirkungen reichen bis in die Gegenwart und Zukunft.

Kann bei der Frage nach dem konserva­tiven Hauptstrang in der deutschen Rechten seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts etwa von Konrad Adenauer, Fritz Schäffer, Hans-Christoph Seebohm, Kurt Georg Kiesinger, Erich Mende, Hans Filbinger, Karl Carstens, Alfred Dregger, Franz Josef Strauß und Helmut Kohl, von Edmund Stoiber und Angela Merkel, kann von der CDU, CSU und FDP, von Hermann Josef Abs, Friedrich Flick, Hanns Martin Schleyer, Dieter Hundt und den Unternehmerverbänden abgesehen werden? Wie wäre davon zu reden, ohne die Familien, Banken und Unternehmen ins Blickfeld zu rücken, die sich durch feudale und kapitalistische Ausbeutung und Räubereien, durch Rüstungsgeschäfte, Arisierung und Zwangsarbeit bereichert haben, oder ohne die Verlage und Redaktionen zu erwähnen, die ihren Erfolg auch dem Umsatz völkisch-rassistischer sowie imperial-militaristischer Literatur verdanken? Konnte diese konservative Grundströmung wirken ohne alle jene Generäle und Offiziere, Professoren, leitenden Juristen und Beamten, die privilegiert der Barbarei im Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie der NS-Diktatur gedient und sie gestützt hatten? Ohne diejenigen also, die – angeblich wieder einmal unentbehrlich – nach 1945 nahezu ungeschoren oder gar in ihrer Karriere befördert weitermachen konnten und deren Erben, Nachfolger und Schüler sich in der Regel in diese Voraussetzungen und für sie keineswegs ungünstigen Konditionen gefügt und damit Überliefertes jahrzehntelang fortgeschrieben haben.

Frieden mit den Tätern

Gibt es eine einzige unter den unzähligen Affären und spektakulären Kontroversen, die ihre Ursache im äußerst fragwürdigen Umgang mit NS-Diktatur und Zweitem Weltkrieg haben, bei der die Führungen der Unionsparteien als hauptsächliche parteipolitische Repräsentanten des Konservatismus zu angemessenen prinzipiellen ­Ein­schät­zungen und Schlussfolgerungen gekommen wären? Exemplarisch und um zur Prüfung der je eigenen Antworten anzuregen, seien hier aus der unerschöpf­li­chen Liste der Skandale die Fälle Abs, Glob­­ke, Heusinger, Oberländer, Höhn, Lübke, Maunz, Krüger, Kiesinger, Filbinger, Sayn-Wittgenstein und Hohmann genannt. Ist innerhalb der letzten 60 Jahre irgendwann der Zeitpunkt eingetreten, von dem an diese konservativen Kräfte begonnen hätten, im Sinne der in Westeuropa seit 1945 vorherrschenden politisch-moralischen Standards des europäischen antifaschistischen Erbes zu entscheiden und zu urteilen? In der offiziellen Erinnerungs- und Gedenkkultur sind seit den achtziger Jahren Veränderungen im Umgang mit der Nazibarba­rei und ihren Opfern zu erkennen. Es ist jedoch zu fragen, ob damit tatsächlich der unumkehrbare Durchbruch zu einer die par­teiischen Grenzen und subjektiven Horizonte überschreitenden humanistischen Bewältigung aller damit verbundenen Herausforde­rungen erfolgt ist.

Verzichten die etablierten politischen Kräfte der Bundesrepublik inzwischen auf – ideologisch und politisch begründete – Einseitigkeit in der Traditionspflege und Gedenkkultur, die bisher nicht ohne Grund, aber maßlos fast ausschließlich der SED vor­geworfen wurde? Kennzeichnet es nicht Jahrzehnte der Geschichte der Bundesrepublik als CDU- (und CSU-)Staat auch auf Landes- und vor allem kommunaler Ebene, dass die Auseinandersetzung mit braunen Traditionen und Hinterlassenschaften in aller Regel gar nicht oder halbherzig und marginal stattfand? So wurde auf der einen Seite der »große Frieden mit den Tätern« (Ralph Giordano) geschlossen, auf der ande­ren Seite jedoch über viele Jahre angemessenes Erinnern und Gedenken an Verfolgung, Unterdrückung, Widerstand und Opfer zwischen 1933 und 1945 verweigert.

In der vorherrschenden Geschichtsdis­kus­sion dieses Landes, insbesondere in dem durch die Medien vermittelten offi­ziösen Diskurs unter Politikern, Publizisten, Schrift­stellern, Filmemachern und Wis­senschaftlern, ist die vielgestaltige Rechte als Thema höchstens gelegentlich und oft eher zufällig präsent. In der Regel geht es dabei im historischen Rückblick um den Na­tional­sozialismus und gegenwärtig um den Rechts­extremismus. Es gibt vielfach die Neigung und das Interesse, unter die Begriffe »rechts« und »politische Rechte« allein diese Kräfte und Ideologien zu subsumieren. So viel Selbstverleugnung sollte den mächtigen konservativen Kräften in Wirtschaft, Parteien, Staat, Justiz, Sicherheitsorganen, Medien, akademischen Kreisen und im Bildungswesen nicht zugestanden werden. Das wiederbelebte und erneut in den Vordergrund getretene Totalitarismuskonzept hat diese selektive Wahrnehmung verstärkt. Noch mehr: Es verdankt dieser politisch erwünschten Wirkung gerade auch seine Konjunktur und die wohlwollende Pro­tektion von konservativer Seite.

Anonyme Nazis

Die inzwischen verbreitete Sprachregelung, in geschichtlichen Zusammenhängen durch­weg »die Nationalsozialisten« als die Täter zu benennen, verstärkt wohlberechnet solche entlastenden Sichtweisen: Diese Begriff­­lichkeit wird vorrangig mit Hakenkreuz, Braunhemden und SA- oder SS-Symbolen sowie in besonderem Maße mit den berüch­tigtsten Naziführern assoziiert. Viel weniger verbindet sie sich mit Wehrmachtsgenerälen und Offizieren, leitenden Beamten und Juristen, kaum mit Wehrwirtschaftsführern und Professoren – also mit Repräsentanten wie Abs und Schacht, Bütefisch, Flick und Krupp, Heidegger, Maunz und Schmitt. Große Gruppen von Tätern, Handlangern und Nutznießern der NS-Diktatur zu vergessen oder zu anonymisieren, bleibt ein vorrangiges, besonders hartnäckig verfolgtes Interesse des konservativen Ge­schichts­revisionismus. Es wurde zum Marken­zeichen der staatlichen Geschichtspolitik während der 16jährigen Kanzlerschaft von Helmut Kohl.

Nach den Tätern der Gestapo und des SD, ihren Spitzeln und ihren unzähligen Opfern hat es niemals eine systematische Suche, geschweige denn eine eigene Behörde zur Ermittlung und Verfolgung gegeben. Die Akten nazistischer Täter unterlagen in der Bundesrepublik selbstredend dem Schutz der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen. Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung natio­nalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, deren Aufgabe es war, Ermittlungen zu – ihrer Natur und Dimension nach außer­gewöhnlichen – staatlichen Verbrechen zu führen, war 1958 verspätet, ursprünglich ungewollt, errichtet worden und hatte nie mehr als 150 Beschäftigte. Ihre Leiter und Mitarbeiter haben dann allerdings mehrheit­lich und über viele Jahre eine verdienstvolle Arbeit geleistet.

Jahrzehnte lang verschleppten Bundes­regierungen die Übernahme des seit 1945 in US-amerikanischer Verfügung befindlichen Berlin Document Center mit dem vollzähligen Aktenbestand der NSDAP. Aus dem Besitz hätten sich Verpflichtungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen sowie zur Ermittlung und Verfolgung von Tätern ergeben.

Erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik tagten im März 1994 Gremien des Bundestages am Ort eines ehemaligen KZ (Sachsenhausen), um über Verpflichtungen des Bundes in der Gedenkstättenpolitik zu beraten. Eigentlicher Anlass war allerdings weiterhin nicht die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nazibarbarei, sondern das Bestreben, angesichts der »doppelten Vergangenheit« dieser Stätte – KZ bis Frühjahr 1945 und danach sowjetisches Internierungslager – das konservative Totalitarismuskonzept zu stützen und einmal mehr die DDR oder den »Kommunismus« insgesamt neben die NS-Diktatur zu stellen. Mit anderen Worten: Die jahrelang in diesem und in weiteren Konzentrationslagern verübten Verbrechen, ihre Opfer und der vielfach dort fortgesetzte Widerstand waren für die maßgeblichen politischen Kräfte der Bundesrepublik weit über vier Jahrzehn­te kein hinlänglicher Grund für solche politisch-parlamentarischen Initiativen gewesen.

Gibt es einen – für den interessiert Zurück­blickenden auffindbaren – Zeitpunkt zwischen Frühsommer 1945 und dem Eintritt ins 21. Jahrhundert, an dem jene grundlegende Wende und unwiderrufliche Umkehr des deutschen Konservatismus stattgefunden haben könnte, die – möglicherweise verspätet – als bedingungsloser Bruch mit dem nationalsozialistischen Verbrecherstaat und allem, was zu ihm geführt hat und was nachwirkte, anerkannt zu werden verdient? Wohl kaum in der Gründungsphase der Bundesrepublik und in dem res­tau­rativen und rabiat antikommunistischen Klima der Adenauer-Ära bis in die frühen sechziger Jahre. Vielleicht unter der Wirkung der außerparlamentarischen Opposition und insbesondere der Studentenrebellion der sechziger und siebziger Jahre, die un­be­streit­bar die Gesellschaft und die politische Kultur der Bundesrepublik veränderten – nicht zuletzt im Verhältnis zu NS-Vergangenheit, Zweitem Weltkrieg, Kolonialismus, rassistischen Regimes und aktuellem Militärfaschis­mus? Aber auf diese aufklärerischen Bestrebungen wurde mit neokonservativem Aktivismus und massiver Gegenpropaganda reagiert. Erst recht und keineswegs unwirksam nahmen seit den achtziger und neunziger Jahren die Bemühungen zu, kapitalismuskritische Einsichten jener Zeit in der Gesellschaft zurückzudrängen.

Rechte Bürger statt Bürgerrechte

Was verbindet die vielgestaltige Rechte in der Bundesrepublik und rechtfertigt es, sie ungeachtet ihrer unübersehbaren inneren Heterogenität unter einem solchen Sammel­begriff zu vereinen und damit ein Mindestmaß an Gemeinsamkeiten, Ver­wandt­schaften und wenn nicht identischen, so wenigstens ähnlichen Zielen vorauszusetzen? Dazu gehören zunächst die Verbindungen in der gemeinsamen Geschichte seit mindestens anderthalb Jahrhunderten, die fortlebenden oder erneuerten Übereinstimmungen in wesentlichen Interessen sowie Berührungspunkte in den sozialen Milieus und Wertorientierungen, in ideo­logischen Quellen und Grundlagen wie Kon­servatismus, Nationalismus – einschließlich völkischer und rassistischer Komponenten –, Militarismus und Antisozialismus. Eine weitere konstitutive Gemeinsamkeit besteht in identischen Feindbildern: die Gegnerschaft zu Kommunisten und Sozialisten, zu Gewerkschaften sowie zu emanzipatorischen und basisdemokratischen Bewegungen, zu Linksliberalen und Pazifisten und nicht zuletzt zu einem konsequenten Antifaschismus. Letztgenanntes gilt insbesondere gegenüber den antifaschistischen Kräften, deren Selbstverständnis von den hauptsächlichen europäischen Traditionen des Widerstandes gegen die Nazibarbarei sowie von der Einsicht in die Schlüsselrolle des weltgeschichtlichen Sieges über Nazideutschland und seine Verbündeten in der jüngsten europäischen Geschichte geprägt ist.

Gleichzeitig vereint die Rechte nach Herkunft, Standort, Instrumentarien und Zielen durchaus unterschiedliche Richtungen und Gruppierungen, die auch – wie in der Vergangenheit – Konkurrenz und Rivalität einschließen sowie Spannungen und Konflikte innerhalb dieses Lagers verursachen und gelegentlich auch verschärfen können. Die Spannweite des rechten Spektrums reicht von den in der Mitte der Gesellschaft angesiedelten liberal- und sozialkonservativen Gruppen und Organisationen über natio­nal- oder rechtskonservative Kräfte bis hin zum nazistischen, rassistisch-antisemiti­schen und rechtsterroristischen Potenzial am äußersten rechten Rand. Auf die grundlegenden Klassifizierungen bezogen bedeutet dies, dass die Rechte national wie international in ihrer Grundstruktur entscheidend vom Konservatismus und Faschismus geprägt wird.

Bliebe die Frage nach dem Platz und der Rolle des Liberalismus, die das deutsche Bür­gertum spätestens nach der Reichsgründung auf seine vorwiegend eigennützige Art entschieden hat, indem es sich über einige geschichtliche Phasen schließlich mehrheitlich nach rechts wandte. Der weitgehende Ausfall einer ehemals eigenständi­gen, vorwärtstreibenden Kraft in den großen Krisen, Erschütterungen und Umbrüchen in der deutschen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts ist beredt genug. Das schmälert kaum das Verdienst einzelner liberaler Persönlichkeiten, die sich den konformistischen Haupttendenzen widersetzten. Die FDP der Nachkriegsjahre konstituierte sich mehrheitlich als eindeutig rechte Partei – NS-Erbschaften und ‑Traditionen ein­geschlossen. Der Neoliberalismus ist nach Ursprung und sozialem Auftrag wie nach seiner erkennbaren gesellschaftspolitischen Rolle eine der Rechten zugehörige, sie ergänzende und stützende Erscheinung. Dagegen geraten Linksliberale und Pazifisten als progressive Erben des historischen Liberalismus ziemlich zwangsläufig in erklärten Widerspruch zur Rechten und werden folge­richtig in deren Feindbild mit erfasst.

Der Fall Filbinger

Der Verlauf der Auseinandersetzungen um den der Mitwirkung an Todesurteilen der Marine-Kriegsgerichte überführten Hans Filbinger (CDU) sowie ihre Resultate können als exemplarisch dafür angesehen werden, dass der Umgang der Unionsparteien mit Schuld und Sühne bei NS-Verbrechen zwiespältig und inkonsequent blieb. Der promovierte Jurist Hans Filbinger hatte der NSDAP, SA, dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) und dem NS-Rechts­wahrerbund angehört. Nach freiwilliger Meldung war er ab August 1940 Soldat, wurde im März 1943 aus der Wehrmacht entlassen und wirkte bis zum Kriegsende als Marinerichter.

Der Schriftsteller Rolf Hochhuth hatte Anfang 1978 einen Auszug aus seinem Roman »Eine Liebe in Deutschland« vorab drucken lassen. Darin wurde der CDU-Poli­tiker und seit Herbst 1966 – als Nachfolger Kiesingers – amtierende baden-württembergische Ministerpräsident Filbinger beschuldigt, als ehemaliger Marinerichter 1944/45 mitverantwortlich gewesen zu sein für das Todesurteil gegen einen Ma­rines­oldaten. Hochhuth bezeichnete ihn als einen »furchtbaren Juristen«. Später wurden weitere Fälle der Beteiligung Filbingers an der Verhängung der Höchst­strafe sowie andere Fakten seines Wirkens in der faschistischen Militärgerichtsbarkeit bekannt. Filbinger leugnete, rechtfertigte sich, gab nur dokumentarisch Offengelegtes zu, klagte und verlor gerichtliche Auseinandersetzungen. Dabei formulierte er im Mai 1978 – Quintessenz seiner Uneinsichtigkeit – den Satz: »Was damals rech­tens war, das kann heute nicht Unrecht sein.« Er bekundete damit – wie es der baden-württembergische SPD-Vorsitzende Erhard Eppler ausdrückte – sein »pathologisch gutes Gewissen«. Eppler bezichtigte den Ex-Marine-Richter der »Unfähigkeit zur Selbstkritik«, und Egon Bahr fragte am 7. Juli 1978 im ZDF, »wie viele Todesurteile ein Mensch fällen muss, damit er sich an eins nicht mehr erinnert«. Der Graphiker Klaus Staeck entwarf ein Plakat mit dem Bild vom »Allunionschristen Filbinger (Marinestabsrichter a. D.)« mit der Unterschrift: »Seit 1933 pausenlos in Sorge um Deine innere Sicherheit«.

Disziplinierte Marine

Monatelang verrieten Spitzenpolitiker und Gremien der CDU/CSU mit ihren Einlassungen und Bemühungen zugunsten ihres prominenten Parteifreundes, dass sich seit den fünfziger Jahren kein grundsätzlich neues Verhältnis zu den Nachwirkungen einer bar­barischen Vergangenheit entwickelt hatte. Anfang Juli 1978 gab der Generalsekretär der CDU, Heiner Geißler, im Einvernehmen mit dem Parteivorsitzenden eine förmliche Ehrenerklärung für Filbinger ab, der seit 1973 einer der Stellvertreter von Kohl war. Nach Auffassung der CDU könne ihm »wegen seiner Tätigkeit als Marinerichter weder rechtlich noch menschlich ein Vorwurf gemacht werden«. Unter dem Vorwand, »par­teiische und selbstgerechte Beurteilungen aus der Distanz über 30 Jahre« abzuweisen, folgte eine weitgehende Rechtfertigung des Wütens von Militär-, Sonder- und Standgerichten in der Schlussphase von Krieg und NS-Diktatur: »Es muss zum Beispiel daran erinnert werden, dass von Januar bis April 1945 die Hauptaufgabe der deutschen Mari­ne im Ostseeraum darin bestand, Hunderttausende von Flüchtlingen aus Ostpreußen zu retten, was nicht möglich gewesen wäre, wenn nicht ein Mindestmaß an Disziplin auf­rechterhalten worden wäre, für die auch die Marinegerichtsbarkeit mitverantwortlich war.« (1) Die CDU bekräftigte die Verbunden­heit mit Filbinger. Franz Josef Strauß sah sich zu einer verbalen Attacke veranlasst, die in die Geschichte der politischen Kultur der Bun­desrepublik einging: »Man kann Filbinger aus dem, was er bei Kriegsende unter den damaligen Verhältnissen getan hat, keinen Vorwurf machen. Aber man führt mit Ratten und Schmeißfliegen keine Prozesse.« (2)

Eine Gruppe jüngerer Politiker von CDU und CSU wandte sich im Juni 1978 gegen die überfällige Auseinandersetzung mit Filbingers Vergangenheit, darunter die Mitglie­der des Bundestags Norbert Blüm, Gerd Lang­guth, Franz Ludwig Graf Stauffenberg und Matthias Wissmann sowie Otto Wiesheu, der Vorsitzende der Jungen Union Bayerns und Mitglied des Landtags. Sie rückten die Motive der Kritiker ins Zwielicht und ver­wiesen darauf, dass das Land »von extremis­tischen, ja terroristischen Kräften« herausge­fordert würde. Die »unwürdigen Machenschaften einer pharisäischen Vergangenheits­bewältigung« sollten ihr Ende finden. (3) Die primär gegen eine antifaschistische Geschichtsaufarbeitung gerichteten Vorstellun­gen und nationalistischen Leitbilder waren offensichtlich längst auch in der nachfolgen­den Generation rechtsstehender Politiker verankert.

Ehrenvorsitzender mit Erinnerungslücken

»Uneinsichtig bis zum Ende. Filbinger wird zur Belastung der CDU«, überschrieb Theo Sommer eine umfangreiche Auseinandersetzung mit den Ausflüchten Filbingers und der CDU in Die Zeit, Nr. 29 vom 14. Juli 1978. Er sei inzwischen ein »Phantom-Ministerprä­sident« und könnte mit weiteren gerichtlichen Auseinandersetzungen zum Alptraum seiner Partei werden. Filbinger musste Anfang August 1978 von seinem Amt als Minis­terpräsident zurücktreten. Er wurde nicht abgelöst, weil er als Marine-Richter kriegsmüde Soldaten zu verurteilen und hinzurichten half oder Soldaten noch fünf nach Zwölf – in britischer Kriegsgefangenschaft – nach NS-Normen verurteilte; er wurde es erst recht nicht, weil er überhaupt als Täter an Verbrechen einer massenmörderischen Diktatur mitgewirkt hatte. Den Amtsverzicht erwartete seine Partei schließlich deshalb, weil im Verlauf einer längeren, quälenden öffentlichen Kontroverse unübersehbar wur­de, dass er sich unklug und offenkundig unglaubwürdig rechtfertigte, keine Spur einer selbstkritischen Besinnung erkennen ließ und dabei zunehmend politischen Schaden für die CDU heraufbeschwor. Das geht auch aus den Erinnerungen von Kohl hervor, denen zufolge die Union anfänglich noch hinter Filbinger gestanden habe. »Als aber nach dem ersten Todesurteil noch weitere Urteile bekannt wurden, an die sich Filbinger angeblich nicht mehr erinnern konnte, sah der Landesvorstand Handlungsbedarf und bat den Ministerpräsidenten um Rücktritt. Auch mir schien seine Verteidigung von Anfang an wenig glücklich zu sein.« In voller Kennt­nis der schwer wiegenden Vorwürfe sieht Kohl noch ein Vierteljahrhundert später das Hauptproblem darin, dass Filbinger sein damaliges Handeln nicht »verständlich zu machen« vermochte. Andernfalls hätte er »die gegen ihn laufende Kampagne durchstehen können«. (4)

Es war unübersehbar, dass die CDU sich schließlich wesentlich aus taktischen und Image-Gründen gegen Filbingers Verbleib im Amt gewandt, jedoch im Grundsätzlichen keineswegs mehr an Einsicht gewonnen hat­te als der Hauptdarsteller selbst. Filbinger wurde vom Sonderparteitag der CDU Baden-Württembergs Anfang Juli 1979 gemäß einer einstimmigen Empfehlung des Landesvorstands zum Ehrenvorsitzenden des Landesverbandes gewählt. Er gründete im gleichen Jahr mit gleichgesinnten Altnazis und Rechts­konservativen das Studienzentrum Weikers­heim, dessen Präsident er wurde. In der un­umgänglich gewordenen Ablösung vom Amt des Ministerpräsidenten bei gleichzeitiger Beförderung in einen Ehrenvorsitz und Unterstützung dieses erwiesenermaßen Unbelehrbaren bei der Gründung und Leitung einer der CDU nahe stehenden »Denkfabrik« äußerte sich einmal mehr die prinzipielle Unglaubwürdigkeit des bundesdeutschen parteiamtlichen Konservatismus im Umgang mit der NS-Vergangenheit, ihrem Erbe und ihren andauernden Nachwirkungen.

Faschistische Studenten

Das Studienzentrum Weikersheim entwickel­te sich zu einer politisch und wirtschaftlich großzügig geförderten rechtskonservativ-na­tionalistischen Institution. Es führte Tagungen und Seminare durch, veröffentlichte die hauptsächlichen Ergebnisse in Protokoll- und Sammelbänden und gab seit 1988 die Weikersheimer Blätter heraus. Seit den achtziger Jahren erlangte es als rechtsintellektuelles nationales und internationales Forum eine größere Bedeutung als beispielsweise die 1966 gegründete, vor allem mit ihren Adenauer-Preis-Verleihungen und ihrer weniger anspruchsvollen, militanten Zeitschrift Deutschland-Magazin in Erscheinung getretene Deutschlandstiftung in München. Bei Filbinger verband sich die Unbelehrbarkeit hinsichtlich der NS-Vergangenheit mit strikt antisozialistischen und antiliberalen Vorstellungen und politischen Konzepten sowie einem extrem konservativen Geschichts- und Gesellschaftsbild. Ausgerechnet er hatte im April 1968 rebellierenden Studenten »einen erschreckenden Rückfall in faschistische Me­thoden« vorgeworfen. Die Linke aller Schat­tierungen stand – beispielsweise bei der Berufsverbotspolitik – undifferenziert im Zentrum seines Feindbildes. Den Landtagswahlkampf 1976 führte er unter der Parole »Freiheit oder Sozialismus« – nach seinen Worten – »gegen den vereinigten Linksblock« und gegen die Entspannungspolitik. Eine Reihe evangelischer Pfarrer und Dekane Baden-Württembergs sah sich im März 1976 veranlasst, gegen die »demagogischen Wahl­parolen« der CDU unter Filbinger zu protestieren. Seinem politischen Weltbild entsprachen auch die Leitlinien der politischen Ziele und Bildungskonzepte des Studienzentrums ab 1979.

Der CDU genügten die genannten Zeichen unveränderter Verbundenheit mit diesem NS-Täter angesichts der vorherrschenden Gemeinsamkeiten durchaus noch nicht. Als Veröffentlichung der Konrad-Adenauer-Stiftung kam 1980 eine Schrift mit drei Grund­satzbeiträgen zum Fall Filbinger heraus. Wie im Fall Globke war der Rechtfertigungsdrang der Partei offensichtlich. Eine parteipolitische und insbesondere ideell-moralische Niederlage durfte nicht als solche anerkannt und hingenommen werden. Auch in diesem »Fall« – bei Filbinger in der doppelten Bedeutung des Wortes – sollte der Täter zum Verfolgten, gar zum Retter und im innersten Herzen Widerständigen umgedeutet werden. Die von Eppler angeführte Polemik hätte nicht hauptsächlich der Vergangenheit Filbingers, sondern ihm als typischem »Strukturkonservativen« gegolten. Damit wurde die von Eppler eingeführte Differenzierung des rechten Hauptlagers nach Struktur- und Wertkonservativen von Seiten der CDU als theoretisch-politische Herausforderung angenommen. Der Leser werde, so Bruno Heck in aufschlussreicher Weise, »einem Mann begegnen, dessen Pflicht es war, Militärjustiz zu praktizieren, in einem Krieg, in dem er den Sieg nicht min­der gefürchtet hat wie die Niederlage«. (5) Für die behauptete Furcht vor einem Sieg lie­ferte Filbingers Lebensweg und Handeln bis zum Mai 1945 allerdings keine Anhaltspunkte; sehr wohl dagegen sprach sein Ver­halten vor und nach der Zäsur von 1945 für seine Ängste angesichts einer Niederlage.

Volksgenosse Stroessner

Filbinger gehörte Anfang der achtziger Jahre als Ehrenmitglied auch dem Kuratorium der Ludwig-Frank-Stiftung an. In dieser Eigenschaft unterstützte er deren freundschaftliche Beziehungen zum paraguayischen Präsidenten General Alfredo Stroessner, Dik­tator des Landes von 1954 bis 1989 und typischer Repräsentant eines militärfaschis­ti­schen Regimes in Lateinamerika. An einem von der Bundeszentrale für politische Bildung geförderten Seminar in Paraguay im Jahre 1982 nahmen Filbinger, Gerhard Löwen­thal sowie das Mitglied des Bundestags und des Europa-Parlaments Heinrich Aigner (CSU) teil, letztgenannter als Chef des Insti­tuts für deutsch-paraguayische Beziehungen zur Wirtschafts- und Kulturförderung GmbH in Stuttgart. Hier wie auch im Falle von Fran­co, Salazar, Pinochet und anderen rechten Diktatoren zeigte es sich, dass die Berührungsängste von Unionspolitikern und Wirt­schaftskreisen zur äußersten Rechten im Aus­­land noch geringer waren als zu den rechts­extremen Kräften in Deutschland selbst.

Anlässlich des 70. Geburtstags von Fil­bin­ger erschien 1983 eine von Lothar Bossle herausgegebene Festschrift, die den Jubi­lar und die sich ebenfalls weiterhin verletzt fühlenden Unionspolitiker offenbar nach der als Zumutung empfundenen Konfrontation mit antifaschistischer Geschichtsinter­pre­tation und antifaschistischen Wertvorstellun­gen aussöhnen und in ihrer Selbst­gewiss­heit bestätigen sollte. Zu den fünf thematischen Schwerpunkten dieser Schrift äußerte sich annähernd die komplette Unionsspitze mit Dregger, Gerstenmaier, Goppel, Heck, Kiesinger, Kohl, Mayer-Vorfelder, Späth, Stoltenberg, Strauß, B. Vogel und Wörner; weitere Autoren waren die Rechtsintellektuellen Peter Berglar, Dieter Blumenwitz, Nikolaus Lobkowicz, Christa Meves, Günter Rohrmoser, Karl Stein­buch und Paul Wilhelm Wenger. Ebenso unbelehrbar wie Filbinger und ihn in dieser Haltung bestärkend sprach Heck von »Geschichtsklitterungen Hochhuths«. Als Strukturkonservativer sollte Filbinger von seinen Gegnern in eine ungebrochene Kontinuität des deutschen Konservatismus gestellt werden, der »selbst zu den Voraussetzungen des NS-Staates gezählt wurde«. Die CDU habe die geistige Herausforderung »nicht offensiv pariert, obwohl sie mit Filbinger auf der Anklagebank saß … Das eigentliche Problem und die Fragen, die es zu beantworten gilt, etwa die Frage der geistigen Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit allgemein, des Verhältnisses von Konservativismus und Faschismus oder der Diskussion um Totalitarismus und Faschismus, sind der Agitation des Alltags zum Opfer gefallen.« (6) Damit traf Heck – obgleich in rechtfertigender Absicht – tatsächlich jene Kernfragen, denen die Unionsparteien bis dahin ausgewichen waren und die sie auch in der Folgezeit unbeantwortet ließen.

Abwehren, rechtfertigen, verharmlosen

Der Umgang der Führungskreise der CDU/CSU mit den Fällen von Globke, Heusinger, Maunz und Oberländer ebenso wie mit dem Fall Filbinger kann als exemplarisch für ihr Verhalten im Zusammenhang mit den Enthüllungen über belastete Altnazis gelten, wobei diese spektakulären Affären wiederum stellvertretend sind für Tausende weiterer Fälle; sie kennzeichnen einen gesamtgesellschaftlichen Prozess, der Voraussetzung, Bestandteil und Wirkung der Restauration war. Die Unionsspitzen saßen aus, wehrten ab, rechtfertigten und verharmlosten, denunzierten die Kritiker, verhinder­ten Konsequenzen, solange und wo immer dies mit ihren übergeordneten parteipolitischen Interessen vereinbar schien. Wurde das letztgenannte, maßgebliche Ziel in Frage gestellt oder offenkundig beeinträchtigt, dann kam es zu veränderten Verhaltensweisen, die jedoch nie zu prinzipiellen Klärungen und Schlussfolgerungen führten. Mit den Betroffenen und widerstrebenden Gruppen wurden Zugeständnisse und Kompromisse ausgehandelt und durchgesetzt, die äußeren Schaden oder unabsehbar lang­wierige Kontroversen und Anfechtungen abzuwenden vermochten.

Auch die Affäre Filbinger wurde in den neunziger Jahren als Farce fortgesetzt. Das Verhalten des Hauptbetroffenen zeigte, dass er unverändert unbelehrbar und selbstgerecht geblieben war, sich aber gerade damit auch weiterhin in hohem Maße in Einklang mit seiner Partei sehen konnte. Anlässlich seines 80. Geburtstags wurde am 17. Septem­ber 1993 mit einem Festakt im Stuttgarter Neuen Schloss eine Hans-Filbinger-Stiftung ins Leben gerufen. Sie sollte insbesondere die weitere Arbeit des Studienzentrums Weikersheim fördern und langfristig absichern. Zu den Initiatoren der Stiftung gehörten die baden-württembergischen Minister Gerhard Mayer-Vorfelder und Erwin Vetter, die Professoren Dieter Blumenwitz, Lothar Bossle, Helmut Engler, Klaus Hornung und Nikolaus Lobkowicz, Präsident der Katholischen Universität Eichstätt, sowie Brigadegeneral a.D. Heinz Karst und der Leiter des von Hase & Koehler Verlages (Mainz). Ministerpräsident Erwin Teufel würdigte den Jubilar umfassend und dankte ihm im Namen der Landesregierung. Aus dem gleichen Anlass erschien eine von Bossle herausgegebene Festschrift »Deutsch­land als Kulturstaat«, unter deren etwa 60 Autoren sich auch Helmut Kohl und Otto von Habsburg befanden.

Filbingers ab Anfang der neunziger Jahre unternommener und in Medien dem Zeitgeist gemäß willfährig kolportierter Versuch, seinen Sturz von 1978 als Resultat von Machenschaften der DDR darzustellen, scheiter­te rasch und kläglich. Politiker und Medien bedienten sich auch in diesem Fall unabhängig vom Wahrheitsgehalt zeitweilig willkürlicher Behauptungen und Vermutungen als Material für die gewünschte Stimmungsmache gegen den vergangenen zweiten deutschen Staat. Anlässlich des 85. Geburtstages 1998 wetteiferten unter anderem Ministerpräsident Teufel und die FAZ darum, die geschichtliche Beweislage hinsichtlich seiner Belastung erneut anzuzweifeln, ihn als Opfer von Verfolgung und Unrecht darzustellen und ihn zugleich als höchst verdienstvollen und beliebten demokratischen Politiker zu würdigen. Fünf Jahre später wurden solche Liebenswürdigkeiten für den 90jährigen wiederholt.

Nichts falsch gemacht

Die gleichzeitig aufgelebte öffentliche Kritik vereitelte immerhin einen förmlichen Festakt in seiner Heimatstadt Freiburg. Der Militärhistoriker Wolfram Wette sprach am 14. September 2003 in Freiburg im Rahmen einer Veranstaltung zum Thema: »Was Unrecht war, kann nicht Recht sein!« Er nutzte die Gelegenheit, im Vortrag eine geschichtlich umfassende sowie in den Fakten und Argumenten äußerst fundierte Gesamtansicht des Falles Filbinger seit 1945 und 1978 zu unterbreiten. Filbinger habe, stellte er abschließend mit Blick auf das Tagungsthema fest, am Flug der Zeit nicht teilzunehmen vermocht und sei »bis zum heu­tigen Tage unbelehrbar geblieben«. (7) Es bleibt hinzuzufügen, dass damit auch die Haltung einer beträchtlichen Zahl von Politikern und Mitgliedern der Unionsparteien charakterisiert wurde. Filbinger sprach in einem Leserbrief an die FAZ vom 4. April 2006 erneut von der 1978 gegen ihn inszenierten »Rufmordkampagne« und berief sich in diesem Zusammenhang auf die wiederholte Rehabilitierung durch den Ministerpräsidenten und CDU-Landesvorsitzenden Teufel.

Anlässlich des 100. Geburtstages von Kurt Georg Kiesinger im April 2004 widmete die Deutsche Post dem 1988 Verstorbenen eine Sonderbriefmarke. Die Post beteiligt sich unter der Regie der verantwortlichen Politiker daran, höchst fragwürdige Traditionen und Repräsentanten der Bundesrepublik weiterhin massenwirksam zu glorifizieren. In Beiträgen über den Jubilar wurden die längst widerlegten Apologien wieder aufgetischt und wie in ähnlichen Fällen versucht, die frühere legitime Kritik vorrangig aus Umtrieben seitens der DDR zu erklären. Verschiedene Ehrungen in seiner Geburtsstadt Albstadt-Ebingen lösten Widerspruch aus, zumal sich daran ursprünglich der nicht weniger umstrittene Filbinger – 1966 unmittelbarer Nachfolger Kiesingers als Ministerpräsident – beteiligen wollte. Dem Bericht der FAZ vom 5. April 2004 zufolge verstieg sich der Historiker Philipp Gassert im Rahmen der Rechtfertigungen, die immer wieder von der CDU nahe stehenden Kräften vorgebracht werden, bei gleichzeitiger Denunziation ihrer Kritiker, zu der rhetorischen Frage: »Sind wir in der Lage zu entscheiden, wer Hitler mehr geholfen hat, Heinrich Böll als einfacher Soldat an der Ostfront, Helmut Schmidt, der als Artillerieoffizier mit seiner Batterie vor Leningrad lag und Benutzungs- und Schussvorschriften für die leichte Flak ausarbeitete, oder Kiesinger, der zuletzt als stellvertretender Leiter der Rundfunkabteilung sich mit Propagandasendungen ins Ausland beschäftigte?«

Zusammenfassend lässt sich am Beginn des neuen Jahrhunderts die Haltung der kon­servativen Kräfte, insbesondere der Unionsparteien, im Umgang mit den Affären Globke, Filbinger, Kiesinger, Lübke, Maunz, Ober­länder und anderen folgendermaßen charakterisieren: Nichts sei in der Geschichte der Bundesrepublik nennenswert falsch gemacht worden; wer Adenauer folgte, ver­diene ohnehin und unbesehen Absolution, und alle Misshelligkeiten erklären sich im wesentlichen aus den fragwürdigen Motiven und Zielen der politischen Gegner. Einzelne exzessive Momente – Spitzen des Eisbergs – werden als möglicherweise und partiell problematisch und kritikwürdig gekennzeichnet, um mit Hilfe dieser geringen Zugeständnisse die grundsätzliche Apologie um so nachdrücklicher aufrechterhalten zu können.

Anmerkungen

(1) Rolf Hochhuth: Dokumente zur politischen Wirkung. Hrsg. und eingeleitet von Reinhart Hoffmeister. Mit erläuternden Zwischentexten von Heinz Puknus und einem Essay von Rolf Hochhuth, München 1980, S. 251

(2) Ebenda, S. 253

(3) Dokument der Zeit: Ein Brief in Sachen Filbinger, in: Bayernkurier, 26, 30. Juni 1978

(4) Helmut Kohl: Erinnerungen, a.a.O., S. 494 f.

(5) Heinz Hürten/Wolfgang Jäger/Hugo Ott: Hans Filbinger – Der »Fall« und die Fakten. Eine historische und politologische Analyse. Hrsg. von Bruno Heck, Mainz 1980, S. 8

(6) Bruno Heck: Der Sturz eines Ministerpräsidenten, in: Lothar Bossle (Hrsg.): Hans Filbinger. Ein Mann in unserer Zeit. Festschrift zum 70. Geburtstag, München 1983, S. 625

(7) Zit. nach dem Wortlaut der Rede in: Dokumentation über den Protest gegen den Filbinger-Auftritt am 11. Oktober 2003 in Karlsruhe, Oktober 2003, S. 42 (VVN-BdA, Kreisvereinigung Karlsruhe)