Ein General in Bedrängnis

Gegen den pakistanischen Staatspräsidenten Musharraf formiert sich eine Oppositionsbewegung von den Islamisten bis zu ­gemäßigteren Kräften. Weitere gewaltsame Auseinandersetzungen stehen bevor.

Pakistan ist in Aufruhr: »Go, Musharraf, go!« skandieren Demonstranten täglich auf landes­weiten Protestkundgebungen. Puppen mit dem Konterfei des Staatspräsidenten werden verbrannt, vielerorts schreitet die Polizei nicht mehr ein. In der Hauptstadt Islamabad proben seit etlichen Wochen mehrere hundert bewaffnete Koranschüler den offenen Aufstand gegen General Pervez Musharraf. »Weder die internationale Gemeinschaft noch das Militär werden das derzeitige Regime noch weiterhin stützen, wenn die Proteste im Land weiter eskalieren«, prophezeite Pakistans ehemalige Premierministerin Benazir Bhutto in einem Interview, das sie der britischen Tageszeitung Daily Telegraph am vorletzten Sonntag gab.

Fast acht Jahre hat er sich an der Regierung gehalten, länger als die meisten seiner Vorgänger, doch nun scheint Musharrafs Macht zusehends zu schwinden. Nach dem Putsch im Oktober 1999 war es ihm geschickt gelungen, sich als politischer Retter in Generalstabsuniform zu präsentieren. Seine zwei größten politischen Kontrahenten konnte er lange Zeit kaltstellen. Sowohl der von ihm abgesetzte Premierminister Nawaz Sharif als auch Benazir Bhutto leben im Exil.

Nicht ganz unbeteiligt an Musharrafs Erfolgen war Iftikhar Chaudhry, der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs. Seinerzeit rechtfertigte er den Putsch, bestätigte den Hochverratsvorwurf gegen Sharif, und den Haftbefehl wegen Korruptionsvorwürfen gegen Bhutto hielt er auch aufrecht. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade mit Chaudhry eine populäre Persönlichkeit heranwuchs, die in den vergangenen Monaten offen der Machtpolitik des Staatspräsidenten die Stirn zeigt. Der Jurist ordnete die Untersuchungen des ungeklärten Verschwin­dens von Terrorverdächtigen an und verhinderte die Privatisierung der staatlichen Pakistan Steel Mills wegen des Verdachts der Korruption, die bis in die Reihen des Militärs reichen soll. Als sich die Gerüchte verstärkten, dass Chaudhry einer weiteren Kandidatur Musharrafs für die Präsidentschaftswahlen bei dessen weiteren Beharren auf die Position des Oberbefehlshabers nicht zustimmen würde, schien sein Schicksal entschieden. Anfang März wurde Chaudhry aufgrund von Vorwürfen der Vorteilsnahme im Amt suspendiert, er soll unter anderem seinem Sohn einen hohen Posten bei der Polizei verschafft haben.

Eigentlich war dieses Abservieren ein typischer machtpolitischer Akt , jedoch unterschätzte das Regime die Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung und den Gemeinschaftssinn der Juristen. Als die Polizei mit Gewalt gegen einen Protestzug von Rechtsanwälten in Islamabad vorging, berichtete die private Fernsehstation Geo TV live davon. Der Sender wurde später selbst ein Opfer der Staatsgewalt, und viele Journalisten der trotz Repressalien verhältnismäßig freien Presse in Pakistan solidarisierten sich. Im ganzen Land kam es zu Protesten. Chaudhry stilisierte sich zum Vorkämpfer für Rechtsstaatlichkeit und Verfassungstreue. Ob dies so stimmt, ist für die meisten Pakistanis nicht so wichtig. Für sie zählt vielmehr, dass sich jemand Musharraf entgegenstellt.

Zusätzlich sah sich die Regierung in Islamabad mit anderen Herausforderungen konfrontiert: Koranschülerinnen der Roten Moschee (Lal Masjid) begannen einen »Feldzug gegen die Unmoral«. Sie verwüsteten Läden, Kinos und illegale Bordelle. Ihre männlichen Kollegen lieferten sich Scharmützel mit der Polizei und verschanzten sich auf dem Gelände der Moschee. Die Sicherheitskräfte in der Hauptstadt widmeten sich fortan mehr diesem Problem als den friedlichen Protesten.

Als Chaudhry am 4. Mai von Islamabad nach Lahore reiste, kam dies einer politischen Wallfahrt gleich. Sein Konvoi benötigte für die Strecke von 260 Kilometern über 25 Stunden. Die meisten oppositionellen Parteien riefen derweil ihre Anhänger im Osten Pakistans zum ­Protest auf. Allerdings kam es wegen Heterogenität und Zerwürfnissen zu getrennten Aufmärschen von Bhuttos Pakistan People’s Party, Sharifs Pakistan Muslim League-Nawaz, der Muttahida Majlis-e-Amal, die eine Allianz der fünf bedeutendsten radikal-islamischen Parteien darstellt und insbesondere im Westen des Landes beliebt ist, sowie der paschtunischen Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf, die von dem ehemaligen Cricket-Sportler Imran Khan geführt wird.

Am 12. Mai flog Chaudhry nach Karachi und saß am Flughafen wegen der Straßensperren fest. Derweil konnte live im privaten Fernsehsender Aaj TV verfolgt werden, wie Anhänger der Opposition von Demonstranten des Musharraf nahe stehenden Muttahida Quami Movement angegriffen wurden. Mindestens 45 Menschen starben innerhalb von zwei Tagen, während sich die Polizei zurückhielt. Erst als Para­militärs in die Hafenstadt einrückten, beruhigte sich die Lage. Rund 800 Menschen wurden verhaftet. Derweil erschossen unbekannte Attentäter in Islamabad einen engen Mitarbeiter Chaudhrys.

Gleichzeitig organisierte das Regime eine Kundgebung in der Hauptstadt. Zehntausende Menschen wurden dabei mit Essen und Geldgeschenken bei Laune gehalten – eine in Pakistan bei allen Parteien übliche Praxis. Man lauschte einer Rede des Generals, der hinter dickem Panzerglas stand und zufrieden feststellte: »Das Volk ist mit mir!«

Aus Protest gegen die Ereignisse der Vortage riefen die Oppositionellen Kräften am 14. Mai in Lahore einen Generalstreik aus. »Nur eine herzlose, verantwortungslose und unnahbare Regierung kann in Islamabad feiern, während zur selben Zeit Karachi brennt«, sagte Asma Jahangir, Vorsitzender der Pakistanischen Menschenrechtskommission, der BBC. Die Regierung reagierte umgehend, indem sie landesweit einen spontanen Feiertag ausrief, jegliche Demonstrationen verbot und den öffentlichen Nahverkehr in großen Städten einstellte.

Kundgebungen der Regimegegner finden weiter statt, jedoch ist seit Mitte Mai die nationale Berichterstattung über den Fall Chaudhry wegen eines Medienerlasses eingeschränkt. Bhutto und Sharif kündigten am 21. Mai an, zu den im Herbst anstehenden Wahlen nach Pakistan heimzukehren. Ein Bündnis zeichnet sich jedoch nicht ab, zu tief sitzt das Misstrauen zwischen beiden Exil-Politikern. Musharraf drohte ihnen umgehend mit sofortiger Verhaftung bei Einreise.

Auf der anderen Seite machen islamistische Terroristen unvermindert Druck. Im nahe der afghanischen Grenze gelegenen Peshawar tötete ein Selbstmordattentäter 25 Menschen, als »Warnung an alle, die mit den USA kooperieren«. Zugleich finden wieder Kämpfe in den nordwestlichen Unruheregionen statt. Und in Islamabad spitzt sich die Lage um die Rote Moschee zu: Die Glaubenskämpfer nahmen mehrere Polizisten als Geiseln. Darauf ordnete der Präsident Mitte voriger Woche eine Belagerung des Komplexes durch die Armee an.

Bislang gelang es Musharraf immer wieder, Gemäßigte und Islamisten gegeneinander auszuspielen – doch nun hat es den Anschein, dass sich viele nicht mehr auf sein Spiel einlassen wollen. Vielmehr ist zu vermuten, dass er selbst zu einer zu opfernden Spielfigur für andere werden könnte. Dass die Opposition zerstritten ist, mag ihm vielleicht noch etwas Zeit geben, verstärkt jedoch die Brisanz in dem atomar bewaffneten Pakistan.