Der Götterliebling

Durs Grünbein gilt als bedeutendster deutschsprachiger Dichter. Prüft man jedoch seine Lyrik, kommt man zu einem anderen Ergebnis: pubertäre Sprachklingeleien, Bildungshuberei, verknäulte Syntax, geschwollene Rede. Von Steffen Jacobs

Heute wollen wir uns mit den neunziger Jahren beschäf­ti­gen, dem letzten Jahrzehnt jenes glorreichen Säkulums, in dem die Poesie von den Neurotikern in die Arme geschlossen und so lange nicht mehr freigegeben wurde, bis sie in deren Umhalsung schon zu röcheln begann. Als sie anfingen, die desillusionierenden Neunziger, dachte Ihr vielfach verdienter Prüfer vom Lyrik-TÜV noch, die Deutschen stünden mehrheitlich auf passablem Fuß mit ihrer Muttersprache, wenn auch mit unterschiedlicher Trittsicherheit und auf verschiedenen Ebenen der Befähigung. Am Ende des fraglichen Jahrzehnts hat er einsehen müssen, dass die ein­zige Ebene, auf der sich offenbar alle Mitglieder der deutschen Sprachgemeinschaft treffen, diejenige ist, auf der man kreischend und grunzend nach unten rutscht.

Sie alle, liebe Leser, wissen aus eigener Anschauung, wie es klingt, wenn heutzutage Stummeldeutsch gestammelt und geschrieben wird. Aber besteht nicht auch Anlass zur Hoffnung, und hat nicht das segensreiche Wirken mahnender Sprachwalter und -wahrer uns Kulturpessimisten in den letzten Jahren immer wieder gestärkt und erfrischt? Konnte vielleicht sogar der eine oder andere Ratschlag dieser Volks­erzieher die verrohte Kollektivseele erreichen und dort seine Wirkung tun? Werfen wir einen Blick auf das Fieberthermo­meter der kommunen Sprachverrohung, die so genannten »Leserrezensionen« des populären Buchversenders Amazon. In diesem Fall geht es um ein Werk namens »Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod«. Wir beginnen unser kleines Zitatenpotpourri bei einem Leserrezensenten namens »buecher-anaconda«:

Ich finde die Sammlung der Kolumnen eine kurzweilige Möglichkeit ein bisschen über deutsche Sprache und Stilformen zu lernen und vielleicht auch ein bisschen nachzudenken. Man muss ja nicht alles im Anschluss ausleben, aber ich fand schon einige Dinge sehr interessant.

Das finde ich ein bisschen auch. Wer will denn alles »im Anschluss« ausleben, wenn man damit Gefahr läuft, den Anschluss zu verpassen. Jedenfalls ist das eine sehr ordentliche Leistung von »buecher-anaconda«. Cirka zwölf Korrek­turen, und selbst mein alter Deutschlehrer wäre mit diesen zwei Sätzen recht zufrieden gewesen.

Diese Sammlung von Kolumnen ist lehrreich und regt auf kurzweilige Weise dazu an, über die deutsche Sprache und deren Stilformen nachzudenken. Selbst wenn man nicht jeden Ratschlag des Autors befolgen möchte, bietet das Buch eine interessante Lektüre.

Na bitte, es geht doch. Wenn Sie bis zum Abitur keinen Ihrer Mitschüler umlegen und im Fach »Handykunde« immer auf die richtigen Tasten drücken, liebe Anaconda, werden die deutschen Elite-Universitäten der Zukunft Sie mit Kusshand nehmen. Ach so, Sie sind fünfundvierzig und Studienrat für Deutsch? Auch gut, auch gut. Einen angenehmen vorgezogenen Ruhestand wünschen wir Ihnen.

Was aber hat es mit »Teil II« von Bastian Sicks stilkritischem Epos auf sich? Bitte, Robin M., Sie haben das Wort beziehungsweise eben nicht.

Auch Teil II lege ich Ihnen ans Herzen.

Danke, das ist aber lieb von Sie. Und dass Sie in einer anderen Leserrezension gar Lessings »Emilia Galotti« allen, »die sich zu deutscher Literatur herangezogen fühlen«, wärmstens empfehlen, macht Ihnen mich gleich doppelt sympathisch. Man möchte sich Sie nachgerade, äh, herangezogen fühlen und herzen. Aber gilt das auch für Herrn Sick himself? Maria Conlan aus Münster, Sie sind dran:

Ein Journalist der kritisch den aktuellen Sprachgebrauch ins Blickfeld rückt und das mit zahlreichen Infos und Tabellen untermauert – äußerst gelungen und auch für Schu­len empfehlenswert!

Ja, liebe kommasparende Frau Conlan, so einen gelungenen Journalisten sollte sich tatsächlich jede Schule leisten. Woraus hätten Sie das schmucke Standbild denn gern: Marmor, Stein oder Eisen? Eigentlich egal, nicht wahr? Hauptsache, der Sockel ist schön mit »Infos und Tabellen untermauert«, und wenn noch ein paar Kommata dabei sind, soll uns das auch nicht stören. In Ihrem selbstverfassten Amazon-Profil steht übrigens, dass Sie »Bücher in kleineren Portionen genießen, neben Berufstätigkeit und Familienmensch«. So geht es uns, neben Rumlungern und Einsiedler, mit Ihrer Prosa auch.

Einen letzten Amazonisten haben wir noch an der Strippe. Bitte, frankie eyes (Berlin), sagen Sie uns doch, was nicht nur alles in diesem Buch versammelt ist.

Das alles ist in diesem Buch versammelt und ist nicht nur zum Schmunzeln, sondern auch hilfreich.

Es ist übrigens aber auch ein Jammer, dass so gar kein Anglizismus anzutreten gewillt ist, der deutschen Sprache das »Schmunzeln« auszutreiben. Die Deutschen, ach, sie sind ein Volk der Schmunzler geworden. Wo man auch hinschaut, wird geschmunzelt. Deutsches Schmunzeln ist heute das, was früher deutsche Gemütlichkeit war. Gleich nach der Arbeit braust der Deutsche nach Hause, plumpst in seinen Poäng-Sessel und führt seiner Seele deutsches Schmunzelgut zu. Schmunzeln, das ist Lächeln mit Schäferhund, hätte ich fast gesagt, aber ich heiße ja nicht Maxim Biller und weiß deshalb, dass der deutsche Schäferhund unserer Tage ein Golden Retriever ist.

All das Geschmunzel im Neuen Deutschen Hilfreich kann nicht ohne Auswirkungen auf die Jugend unseres Volkes bleiben. Schmunzelnd hat sie die eigene Sprache in einem Tem­po verlernt, das selbst eingefleischte und in der Wolle gefärbte Kulturpessimisten wie moi nicht für möglich gehalten hätten. Lyrik aber, das wagen wir zu prognostizieren, wird sie nicht mehr lesen. Warum sollte sie auch, wo alle sprachlichen Feinheiten doch gänzlich unbemerkt an ihr vorbeisegeln würden. Schlimm? Mitnichten. Viel übriggeblieben ist von der Schönheit der Poesie nämlich ohnehin nicht, seit die Lyriker in einer geheimen Abstimmung beschlossen haben, dass ihre Hervorbringungen statt von nachvollziehbaren Gefühlen und Wahrnehmungen fortan vor allem von der Sprache selbst zu handeln haben. Und das ist dann ja wiederum doch sehr gerecht: dass die armseligen kleinen Sprachmarotten, mit denen unsere alten und jungen Nachwuchslyriker Bedeutsamkeit simulieren, über Nacht als das erkennbar sind, was sie immer schon waren: Rechtschreibschwächen.

Kleinschreibung von Hauptwörtern? Können die Amazon-Leserrezensenten auch. Trennung von Komposita? Meine Fleischereifachverkäuferin (eine in ihrem Bereich vortreffliche Frau) wusste gar nicht, dass es auch anders geht. Durchgehender Verzicht auf Kommata? Kein Problem für den durchschnittlichen Bachelor-Absolventen von heute. Ja, sie waren die wahre Avantgarde, all die zwanghaften und unbelehrbaren »klein schreiber« und »gross sprecher« der zeitgenössischen Lyrik – die stolze, klägliche Avantgarde des neuen Analphabetismus.

»Haltbar bis 1999« hat Peter Rühmkorf, in den siebziger Jahren, einen seiner Gedichtbände genannt. Recht hatte er. Der Karren steckt im Dreck. Das Kind ist im Brunnen. Das Haltbarkeitsdatum der Lyrik ist abgelaufen. Es gibt keine Zukunft für die Poesie, jedenfalls nicht vor der nächsten Eiszeit. Vielleicht überleben ja ein paar Amseln; die scheinen mir mit ihrem abendlichen Gesang für eine künftige Poesie am besten gerüstet zu sein. Wir vom Lyrik-TÜV wünschen unseren schwarzgefiederten Freunden bei diesem Unterfangen viel Glück.

*

Nun könnte manch einer natürlich glauben, der Lyriker Durs Grünbein sei die grünende Hoffnung für alle, die sich in die­sen Jahren zweifelhafter Rechtschreibreformen und zunehmender Sprachverlotterung nach der guten alten Zeit sehnen. Und tatsächlich: In seiner Generation schreibt sonst keiner Verse von solch lindem Klassizismus wie die folgenden. Was natürlich auch daran liegt, dass es technisch gar nicht so einfach ist, fünf Strophen in dieser fein abgezirkelten Manier hinzukriegen.

Alter Erzengel, was nun?Müde geworden? Dein FlammenschwertSteht zur Auktion und die Flügel ruhnIm Theaterfundus. Was ist er wert,

Dein heiliger Zorn, – ohne die Schranken,Die der Hybris gesetzt sind. So leichtKommt hier nichts mehr ins Wanken.Wen dein Arm nicht erreicht,

Soll der Strahlblick ihn strafen?Lächerlich bist du, vergeßlich geworden.Folter hast du, Geschäfte, verschlafen,Das zeugenlose belustigte Morden.

Alzheimer: heißt so das Ende der Schrecken?Kranker Engel, du weißt, was geschiehtIst Geschichte, – danach. Laß sie stecken,Deinen Bann, deinen Fluch. Wer dich sieht,

Lebt im Glück der Vertreibung. Das BöseGibt sich politisch. Es hat kein Gesicht.Arbeitslos stehst du, taub im GetöseDes Zeitvertreibs vor dem Jüngsten Gericht.

»Alzheimer Engel« heißt das Gedicht aus dem 1999 erschie­nenen Band »Nach den Satiren«, bei dem sich Lyrikfreunde alter Schule scheinbar bedenkenlos unterhaken können. Das unsichere Neue wird hier mit Reminiszenzen an das gesicherte Alte umkreist. Schon die Mischung aus Ding­gedicht und Engelskunde lässt unweigerlich an Rilke denken. Anders als bei Rilke macht das himmlische Wesen hier jedoch einen ziemlich irdischen, nachgerade ramponierten Eindruck. Die Idee, Gestalten aus der antiken Mythologie und der christlichen Glaubenswelt in zeitgenössische Zusammenhänge zu stellen, ist nicht neu. Vor Grünbein haben sich bereits ganze Kohorten von Lyrikern dieses Kunstgriffs bedient, mit sehr amüsantem Effekt zum Beispiel Peter Maiwald:

Es ist alles in Ordnung:

Nessos Hemd ist von Lacoste.Kain sitzt im Resozialisierungskurs römisch vier.Prokrustes ist eine Hotelkette.Keine Erinnye darf wegen ihres Geschlechtsoder ihres Motivs benachteiligt oder verfolgt werden.Die Trompeten von Jericho sind das Erkennungszeichen

von Abbruchunternehmern. Midas ist ein Bankangestellter (...)

Durs Grünbein strebt eine weniger erheiternde Wirkung an. Schon der Titel deutet es an: »Alzheimer Engel«, das klingt ein bisschen nach »Isenheimer Altar«, wie ein Stück intakter Engelsmythologie also, nur dass »Alzheimer« keinen realen, sondern einen geistigen Ort bezeichnet. Besser gesagt: einen Unort des Vergessens und der Weltferne, vor allem aber des schmerzlichen Traditionsverlustes. Entsprechend deutlich sind die kulturkritischen Akzente gesetzt. Mit zwei Zeilen steckt Grünbein das geistige Terrain so unmissverständlich ab, dass selbst ein Erstsemester verstehend nickt: Aha, Posthistoire.

Kranker Engel, du weißt, was geschiehtIst Geschichte, – danach.

Was diese Nachgeschichte im einzelnen auszeichnet, haben wir anderswo schon in ähnlicher Diktion gehört:

(...) Das BöseGibt sich politisch. Es hat kein Gesicht.

Das klingt nun nicht mehr nach Lyrik für Erstsemester, sondern nach Lyrik von Erstsemestern – jener begabten Sorte, die mehr gelesen als erlebt hat. Gleiches gilt für das »Getöse des Zeitvertreibs«, das »zeugenlose belustigte Morden« und einige ähnlich altkluge und gut abgehangene Formulierungen lyrifizierter Kulturkritik. Und noch eine Spezialität dieses Dichters lässt sich in »Alzheimer Engel« besichtigen: DIE RHETORISCHE DONNERFRAGE. Wie heißt es gleich zu Beginn der vierten Strophe?

Alzheimer: heißt so das Ende der Schrecken?

Wer genau hinhört, merkt schnell: Die unschöne Realität einer Alzheimer-Erkrankung ist das letzte, worauf Grünbein sich jetzt ernsthaft einlassen möchte. Es geht ihm um den Effekt, der sich mit einer scheinbar so weitreichenden Frage erzielen lässt. Entsprechend ungerührt fährt das Gedicht fort. Die erwünschte Reaktion auf die DIE RHETORISCHE DONNERFRAGE lautet folglich nicht »ja«, »nein« oder »vielleicht«. Sie besteht vielmehr im inneren Erröten eines imaginierten Ideallesers, der sich geschmeichelt fühlt, dass man ihn solcher Fragen für würdig befindet. Wer sich nicht blen­den lässt, denkt vielleicht eher an einen prahlenden Youngs­ter als an einen reifen Lyriker.

Unser Dichter freilich ist zum Zeitpunkt des Erscheinens nicht zwanzig, sondern siebenunddreißig Jahre alt, Büchner-Preisträger, Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung und hochgefeiert als das herausragende lyrische Talent seiner Generation. Dürfen wir von ihm nicht etwas mehr erwarten als ein paar schmissig in Versform gebrachte Feuilletonphrasen »aus dem Theaterfundus«? Wir dürfen. Und deshalb will Ihr dienstbarer Lyrikprüfer kurz vor dem finalen Abschmieren rasch noch ein paar Kreuz- und Querzüge durch das Werk dieses Durs Grünbein unternehmen: um zu schauen, ob und wo dieser Dichter den hohen Erwartungen, die in ihn gesetzt werden, gerecht wird und wie es zu diesen Erwartungen überhaupt kam. Sozusagen das Epizentrum unserer Nachforschungen bildet der 1994 erschienene Band »Falten und Fallen«, mit dem Grünbein seinen Durchbruch erzielte. Doch auch was vorher war und was nachher kam, soll uns – wie immer beim Lyrik-TÜV – hinreichend beschäftigen.

*

Etliche Gedichte des Bandes »Nach den Satiren« schwanken, ähnlich wie der »Alzheimer Engel«, zwischen altkluger und altväterlicher Attitüde. In dem Gedicht »Club of Rome« präsentiert Grünbein in knarzigem Altphilologen-Jargon Schmankerl von Anno dunnemals.

Tote Carthagos im Rücken, vor den Augen schneeweiß,Die Alpen, ein Friedhof für Elefanten.War nicht der Römer ein Überlebender, dem die ZeitOstwärts davonlief?

Tja, das ist nun auch wieder so eine fragwürdige Frage. Erneut setzt Grünbein auf das einverständige Kopfnicken humanistisch vorgebildeter Menschen, denen ein paar nos­talgische Reminiszenzen wichtiger sind als ein eigenständiger Gedanke. Auch sonst stört, dass den Dingen immer die nächstbeste Bildungsassoziation angeheftet wird, so als säße man im Auffrischungskurs »Römische Geschichte I«. Wo die Alpen sogleich an Hannibals Elefanten denken lassen, stellt sich zu Rom unweigerlich die Katakomben-Assoziation ein. Ziemlich unterirdisch mutet auch die gewundene Sprache an, mit der die Geschichte jenes überlebenden Römers fortgesponnen wird. Schwerer aber wiegt, dass hinter alldem kein emotionaler Gehalt spürbar wird, keine Tragik, keine Dramatik, keine Bestimmung, keine Heiterkeit, nicht einmal die Simulation solcher Gefühle.

Unterm Fuß Katakomben, in deren tropfenden GängenFanatiker wohnten, Verdammung kochendMit dem täglichen Mahl, war die Angst vor BarbarenSein letzter Zauber.

Natürlich ist gegen Motive der Antike in zeitgenössischen Gedichten nicht das geringste einzuwenden. Alles zwischen Himmel und Erde kann, darf und soll zum Gegenstand von Gedichten werden. Joseph Brodsky und Zbigniew Herbert haben vorgemacht, wie man Altes aufgreift, ohne ältlich zu wirken. Aber dahinter steht bei diesen wahrhaft klugen Dichtern, mit einem Gedichttitel Herberts zu sprechen, immer die Frage: »Warum Klassiker.« Und wo der unselige Zauberlehrling Grünbein keine andere Antwort weiß als: »Weil’s so schön bedeutsam wirkt«, hebt Meister Herbert zu einem meisterhaft verknappten Dreiteiler an, von dem hier zumindest das elegante Oberteil präsentiert sei:

Im vierten Buch des Peloponnesischen Kriegeserzählt Thukydides unter anderemdie Geschichte seines mißlungenen Feldzugs

Neben den langen Reden der FührerSchlachten Belagerungen Seuchendichten Netzen von Intrigendiplomatischen Schritten

ist diese Episode wie eine Nadelim Wald

Die griechische Kolonie Amphipolisfiel in die Hände des feindlichen Führers Brasidasweil Thukydides mit dem Entsatz zu spät kam

Er zahlte der Heimatstadt dafürmit lebenslänglicher Verbannung

Die Exilierten aller Zeitenkennen den Preis

Da gibt es nun allerdings eine Menge zu lernen, nicht zuletzt über das Hantieren mit dem Antiken in den Ländern des früheren Ostblocks. Dort bot das Überstreifen der Toga eine probate Verkleidung, mit der man dem Zugriff des schurkischen Zensors entkommen konnte. Schon Brechts »Das Verhör des Lukullus« bediente sich 195o dieses simplen Kniffs aus der Verwechslungskomödie. Die hohe Wertschätzung für klassische Bildung, wie sie etwa noch in Christa Wolfs Kassandra- und Medea-Variationen spürbar wird, war nicht zuletzt ein aus der totalitären Not geborenes Kos­tümspiel.

Ein Problem des literarischen Kassibers besteht darin, dass er nach Gebrauch poetisch quasi nutzlos wird. Ein Meister wie Herbert wusste deshalb allzu enge Zuschreibungen zu vermeiden. Für den sehr viel jüngeren Durs Grünbein spielen die literarischen Kassiberstrategien der totalitären Ära von Anfang an eine untergeordnete Rolle. Dennoch mag er auf das schöne mythologische Geklingel auch nach der Wende nicht verzichten. Das hat vermutlich weniger mit Schiller als mit der DDR der sechziger, siebziger Jahre zu tun: Grünbein hofft auf die gespannte Aufmerksamkeit eines entschlüsselungswilligen Publikums. Doch seine Kas­siber sind schon vor ihrer Entschlüsselung nutzlos, weil es in ihnen gar nichts mehr zu entschlüsseln gibt.

Vielleicht fallen dem Dichter zur westlichen Welt unserer Tage zündendere Formulierungen als zu Carthago und Co. ein? Hören wir sein Gedicht »Avenue of the Americas«, wiederum aus dem Band »Nach den Satiren«.

Dort an den Kistenholzständen, wo die VerkäuferMit hageren Händen Spielzeug und Elektronik,Asiatischen Tand in die Menge hielten:Erschien dir zum ersten Mal diesseits des Traums,Gesenkt den Kopf, wie auf den Bildern des Botticelli,Der schweigende Dante.Sarkasmus, das war sein Hund,An den Tanksäulen schnüffelnd, an einem Preisschild,Bevor er das Bein hob, erregt vom Benzingeruch.

Man mag bezweifeln, dass ein umständliches Kompositum wie »Kistenholzstände« wirklich Platz hat in einem so kurzen Gedicht. Immerhin ist es genau diese Kürze, die am meisten für »Avenue of the Americas« spricht. Welche äußere Realität aber wäre es, die in dem Gedicht geschildert wird? Avenue of the Americas wird die sechste Avenue genannt, eine der großen Längsachsen Manhattans. Wie ihre berühmtere Nachbarin, die Fifth Avenue, durchquert sie verschiedene Milieus und Bezirke: Im Süden in Soho beginnend, führt sie durch das West Village, streift Chelsea, führt am Rockefeller Center vorbei durch Midtown und endet schließlich im Norden am Central Park. Mit anderen Worten: Es gibt viel zu sehen auf dieser Straße. Dante »wie auf den Bildern des Botticelli«, noch dazu mit einem Hund namens »Sarkasmus« an seiner Seite, gehört nicht unbedingt dazu.

Auch diesmal vertraut Durs Grünbein nicht seinen Wahrnehmungen, sondern spickt sie mit Vergleichen aus dem abendländischen Kulturkreis. In diesem Fall könnte die drei­unddreißigste Zeichnung aus Sandro Botticellis Dante-Zyklus »Inferno« als Vorbild gedient haben. Sie zeigt Dante mit gebeugtem Kopf zwischen den nackten, gepeinigten Leibern von Vaterlandsverrätern. Die Straßenhändler auf der Avenue of the Americas sind dem Gedicht hingegen nicht mehr als einen Nebensatz wert. Im Hauptsatz aber macht sich wieder einmal jener prahlende Held der geschwollenen Rede breit, der bereits in »Club of Rome« und »Alzheimer Engel« die Strippen seiner Holzfiguren zog. Dieses Subjekt, das sollen wir allen Ernstes glauben, hat »Erscheinungen« und tauscht sich im Traum regelmäßig mit Dante aus (Hervorhebung v. m.):

Dort an den Kistenholzständen, wo die VerkäuferMit hageren Händen Spielzeug und Elektronik,Asiatischen Tand in die Menge hielten:Erschien dir zum ersten Mal diesseits des Traums,Gesenkt den Kopf, wie auf den Bildern des Botticelli,Der schweigende Dante.

Das Pathos des »Erscheinens«, das bedeutsam bebende »zum ersten Mal«, das zum »dir« übersteigerte lyrische Ich – all diese Reiz- und Wallungswörter beschwören eine höchst bedeutsame Erfahrung, wenn nicht gar ein Erweckungserlebnis. Doch das Gedicht mit seiner verknäulten Syntax und seiner geborgten Symbolik erfüllt die hochgesteckten Erwartungen nicht. Es bleibt, wie vieles bei Grünbein, ein uneingelöstes Versprechen. Oder, um es mit Grünbeins Vorliebe für knotige Gerundivkonstruktionen zu sagen:

Avenue of the Americas, das war sein Gedicht,im Buch Nach den Satiren stehend, mehrbehauptend als zeigend:So fand es sich nicht.

Finden Sie nicht auch, dass sich dieser Satz liest, als hätte ihn Goethes Hausmaus namens Schicksal auf einem Gemälde von Tischbein gepiepst?

*

Als der Band »Nach den Satiren« im Jahr 1999 erschien, zählte dieWahrnehmung der Außenwelt offenkundig nicht mehr zu Durs Grünbeins Stärken. Angestrengt musste unser Dichter durch den dichten Nebel seiner Selbstfixierung blicken, um überhaupt etwas wahrzunehmen. Das war nicht immer so. Sechsundzwanzig Jahre alt ist Durs Grünbein, als 1988 sein erster Gedichtband bei Suhrkamp herauskommt. Die Gedichte in »Grauzone morgens« sind in den letzten Jahren der DDR entstanden. Sie lassen sich als Lebenszeichen eines jungen Mannes lesen, den nichts so sehr umtreibt wie die Befürchtung, ein grauer Staat könnte ihm Gegenwart und Zukunft rauben.

DEN GANZEN MORGEN GING  dieses Geräusch gleichförmig und offenbar       unterirdisch       diesesGeräusch so unablässig daß   kaum jemand es hörte

dieses Geräusch        tausender Reißwölfe einer unsichtbaren  Institution       die  jeden  lebendigenAugenblick  frisch  vom  Körper  weg    wie Papierkram verschlangen.

Befreiung aus dem niederdrückenden Einheitsgrau der DDR verspricht schon damals ein fernes Land namens Amerika. »Grund, vorübergehend in New York zu sein« heißt eines der Gedichte, und es handelt keineswegs von der Sehnsucht, auf der Sixth Avenue kunsthistorische Kenntnisse unter Beweis zu stellen. Es ist das innige Verlangen nach einem ideologisch unbelasteten Alltag, das aus Zeilen wie diesen spricht:

(...) In New York

hättest du todsicher jetzt denFernseher angestellt, dich zurückgelehntblinzelndvom Guten-Morgen-Flimmern belebt.

»Guten-Morgen-Flimmern« statt »Grauzone morgens« – das ist das einfache, aber einleuchtende Programm, dem Durs Grünbein als Mittzwanziger mit aller mitreißenden Kraft eines ungestillten Verlangens folgt.

Die Amerika-Connection durchzieht das Buch recht deutlich. »Glimpses & Glances« ist eines der Kapitel in »Grauzone morgens« betitelt, dessen Miniaturen sich als simple, aber einleuchtende Kontrafakturen auf W. C.Williams’ berühmtes Gedicht von den Pflaumen im Eisschrank lesen lassen (nachzuschlagen im siebten Kapitel unserer Untersuchungen). Am deutlichsten wird das Vorbild in dem Gedicht »Verdorbene Fische« nachbuchstabiert:

›Erschrick nicht, wenn du die KrustenBrots, die Kartoffelschalen weg

wirfst, am Boden der Futtertonne

liegt wohl ein Halbdutzend verdorbenerFische (Makrelen) mit steifaufgerichteten Schwänzen und starren

Augenringen, die Bäuche geschlitzt, neinerschrick nicht, es ist einso sinnloser Anblick, verzeih...‹

Während freilich Williams’ Miniaturen das Leben in allen unwiderstehlichen Erscheinungsformen feiern, benutzt Grünbein die vorgeprägte Form vorzugsweise, um Ekel an seiner Umwelt zu artikulieren. Die angebliche Kälte angesichts einer »Wärmeplastik nach Beuys« verdankt ihre Attitüde nicht nur Williams, sondern auch den »Morgue«- Gedichten des jungen Benn:

Erst als der geile Fliegenschwarmaufstob in äußerster Panikum seine Beute tanzte wie

eine Wolke von Elektronen mithohem Spin, sah man die beidenJungvögel nackt.

Es war Zwölf Uhr mittags und dieserböse Zufall nichtsals eine Gleichgewichtsformel

für zwei gedunsene Madennesterwie Spiegeleierleicht angebraten im Straßentiegelaus Teer und Asphalt.

»Gleichgewichtsformel«, »Elektronen mit hohem Spin« – in solchen verbalen Auspolsterungen lässt sich bereits die spä­tere Masche Grünbeins vorausahnen. Aber das abschließende Bild von den »Spiegeleiern... im Straßentiegel« ist präzise ausgemalt. Grünbein begeht nicht den Fehler, seine Alltagswahrnehmung durch möglichst edle und entlegene Assoziationen nobilitieren zu wollen.

In Grünbeins frühen Gedichten sind viele typische Merkmale talentierter Anfängerschaft versammelt, gute wie schlechte. Vorbilder werden im Stil eher nachgeahmt als anverwandelt; ein adoleszent wirkender Narzissmus äußert sich teils weltschmerzverzerrt, teils hochtrabend; auch ein Hang zu schwerfälligen Metaphern, die gerne mit den Wör­tern »Wie« und »Als ob« eingeführt werden, zeigt sich aller­orten. Doch all das lässt sich hier, im Erstling, noch als Kinderkrankheit abtun. In seinen besten Momenten gelingen dem jungen Lyriker ebenso schwungvolle wie einprägsame Zeilen. Ein frischer Blick auf die Welt macht wett, was den Gedichten manchmal an gedanklicher Tiefe fehlen mag, ge­le­gentliche Laxheit schlägt als Lässigkeit zu Buche, und selbst die Lücken im Versbau lassen Licht und frische Luft herein.

Das gilt insbesondere für das vielleicht originellste Gedicht des Bandes, das den Titel »Badewannen« trägt. Klar, es gibt einen schlechten Kalauer darin – Badewannen werden ihrer Unbeweglichkeit wegen als »typische Immobilien« bezeichnet –, und es gibt ein schiefes, wenngleich nicht unwitziges Bild in Gestalt einer »Oase voller nostalgischen Schaums«. Aber es findet sich auch manches Gute in dieser Wanne: gusseiserne alte Ladies, jede Menge Dreck, und sogar »ein einzelnes vögelndes Paar«.

Was für liebliche klare Objekte dochBadewannen sind makellosemailliert ganz unnahbar mit dem

heroischen Schwung rundum gußeisernerAlter Ladies nach ihrenWechseljahren noch immer frisch.

Typische Immobilien (wann hätte jemalssich eine vom Fleckgerührt) sind sie doch immer

wieder von neuem gefüllt, aller Dreckaufgelöst in die Kanalisationfortgespült muß unfehlbar

durch dieses enge Abflußloch auf demWannengrund. Wahre Selbst-mordmaschinen auf ihren

stummeligen Beinen, Warmwasserbetten mitPlatz genug für ein ein-zelnes vögelndes Paar in

sovielen Wohnungen etwas wie eine Oasevoller nostalgischenSchaums.

*

Heute steht Durs Grünbein seinem Frühwerk denkbar kritisch gegenüber. Kürzlich hat er »Grauzone morgens« einer »Revision« unterzogen, und er ist dabei zu einem wenig schmeichelhaften Ergebnis gekommen:

Dieses erste Buch liegt so lange zurück, dass es mir wirklich leid tut: daran, wie es zustande kam, kann ich mich kaum noch erinnern. Unvorstellbar der Gedanke, ich sollte bei einer der üblichen öffentlichen Lesungen daraus vortragen. Seit Jahren lasse ich, wenn ich auf Lesereise gehe, das kleine Debüt-Büchlein mit dem Titel »Grauzone morgens« zuhause. Dieser zitronengelbe Broschurband mit seiner zerrauften Typographie erinnert mich an das hässliche junge Entlein aus Andersens Märchen, von dem gesagt wird, es hätte zu lange im Ei gelegen und darum sei es etwas missraten. (...) Nichts um alles in der Welt kann den Autor dazu bringen, dieses Dokument seiner Unmündigkeit noch einmal in Betrachtung zu ziehen.

So spricht einer, der glaubt, Besseres im Angebot zu haben und den Besuchern »einer der üblichen öffentlichen Lesungen«, wie es etwas herablassend heißt, keine hässlichen zitronengelben Entlein, sondern majestätische Schwäne vorführen zu können. Die weitere Rezeptionsgeschichte scheint ihm recht zu geben. Nicht »Grauzone morgens« markiert den Durchbruch Grünbeins, auch nicht der Folgeband, »Schädelbasislektion«, sondern der 1994 erschienene dritte Gedichtband, »Falten und Fallen«. Schon ein Jahr später wird Grünbein der Büchner-Preis zuerkannt; mit dreiunddreißig Jahren ist er einer der jüngsten Preisträger in der Geschichte dieser Auszeichnung.

Den Erfolg von »Falten und Fallen« bezeichnet maßgeblich eine einzelne Besprechung von beträchtlicher Signalwirkung: Im März 1994 eröffnet die Frühjahrs-Literaturbeilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit einer ebenso umfangreichen wie euphorischen Rezension des Bandes. Verfasser ist der damals leitende Literaturredakteur des Blattes, Gustav Seibt. Seibt hat seinen Posten erst kurz zuvor angetreten; der seitenfüllende Artikel über »Falten und Fallen« ist also nicht nur für den Rezensierten, sondern auch für den Rezensenten von karrieretechnischer Bedeutung. Entsprechend auftrumpfend präsentiert der Kritiker seinen Fund:

Am 12. November 1989 schrieb der damals siebenundzwanzig Jahre alte Ost-Berliner Dichter Durs Grünbein ein paar Zeilen, die, wie man jetzt sieht, eine neue Epoche in der deutschen Literatur eröffneten.

Nähme man Seibt beim Wort, wäre nicht etwa mit dem Mauerfall eine neue Epoche in der deutschen Geschichte und Literatur angebrochen, sondern mit Zeilen wie diesen:

Komm zu dir Gedicht, Berlins Mauer ist offen jetzt.

Nein, sie ist nicht jetzt offen, die Berliner Mauer, sie ist »offen jetzt«, weil, das ist ja so dichterisch. Schade nur, dass der sächsische Genitiv »Berlins Mauer« der poetisierenden Inversion einen ziemlich provinziellen Riegel vorschiebt. Aber es kommt noch schöner:

Wehleid des Wartens, Langweile in Hegels Schmalland

Vorbei wie das stählerne Schweigen... Heil Stalin.

Im Grunde ist Seibts hochtönende Eröffnungsfanfare für den, der zu lesen versteht, jetzt bereits als schrille Karnevalströte erkennbar. Heil Stalin, Helau Grünbein – auf die sprachlichen und historischen Feinheiten kommt es offenbar nicht mehr an, wenn sich in »Hegels Schmalland«, was immer das sei, geschichtliche Umwälzungen vollziehen. Wer glaubt, dass neue Epochen der Literatur mit spät­pubertären Sprachklingeleien eingeläutet werden, sollte freilich unbedingt weiterlesen:

Letzter Monstranzen Glanz, hinter Panzern verschanzt.

Langsam kommen die Uhren auf Touren, jede geht anders …

Der Rezensent räumt munter ein, dass das »etwas albern« ist, meint aber seltsamerweise, man könne »diesen Versen ihre grellen Effekte (...) nicht übelnehmen«. Lieber greift er, nach eigenem Bekenntnis, »zu hohen Vergleichen«. Und, bei Zeus und Wotan, das tut er:

Seit den Tagen des jungen Enzensberger, ja, vielleicht seit dem ersten Auftreten Hugo von Hofmannsthals hat es in der deutschsprachigen Lyrik einen solchen alle Interessierten hinreißenden Götterliebling nicht mehr gegeben. (...) Die Kritik hat seine ersten Bände (...) mit wachsender Zustimmung aufgenommen. Überrascht entdeckte sie den souveränen Rückgriff auf die klassische Moderne, auf den hohen Anspruch von T. S. Eliot, Pound und Williams. Die anspruchsvollsten Literaturzeitschriften drucken ihn, Preise, Stipendien, Einladungen an die German Departments in aller Welt ließen nicht auf sich warten.

Gewährsmann um Gewährsmann wird in den Zeugenstand gerufen und mit keiner einzigen Silbe um Auskunft befragt. Enzensberger, Hofmannsthal, Eliot und Pound – soviel name­dropping lässt stutzen. Misstraut da einer dem eigenen Urteil? In Wahrheit hat es mit dem vollmundig behaupteten »souveränen Rückgriff« nicht viel auf sich. Gewiss, Grünbein übt seine Skalen, spielt fleißig seine Etüden und hat manche schöne Eigenkomposition im Repertoire. Vieles von dem, was er macht, zeichnet sich durch Charme aus, und manches durch einen Anhauch potentieller künftiger Größe. Aber für eine Grünbein-Eloge dieses Ausmaßes mit anschließender Ernennung zum inoffiziellen Staats­dichter ist es bei Erscheinen von »Falten und Fallen« schlicht­weg verfrüht.

Und seitdem ist es zu spät für sie. Denn das frühe Lob hat Grünbeins weitere Entwicklung bis auf weiteres verdorben. Weil ihm nicht die Stärken, sondern die Schwächen seines Schreibens den größten Erfolg bescherten, hat er fortan ebendiese Schwächen in Serie reproduziert: die Bildungshuberei, die sprachliche Überorchestrierung, die intellektualistische Dünnbrettbohrerei. So ist neben allen Misslichkeiten der Lektüre auch eine verpasste Chance zu beklagen.

Vorabdruck mit freund­licher Genehmigung des Verlags aus: Steffen Jacobs: Der Lyrik-TÜV. Eichborn-Verlag, Frankfurt am Main 2007. 360 Seiten, 30 Euro. Das Buch erscheint dieser Tage.