Widerstände gehen online

Das Online-Projekt European Resistance Archive dokumentiert die Kämpfe gegen das NS-Regime, die nicht von alliierten Truppen geführt wurden. von jerome seeburger

Der 8. Mai 2007 war der 62. Jahrestag des Sieges der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland. Nach dem Gedenkjahr 2005 kümmerte das Datum dieses Jahr allerdings nur wenige. Ein Projekt, das im Kontext des Gedenkjahrs entstanden ist und sich kontinuierlich mit der Geschichte der Befreiung beschäftigen will, ist das European Resistance Archive (ERA). Das Internetarchiv konzentriert sich auf diejenigen, die nicht den alliierten Truppen angehörten und dennoch für das Ende des nationalsozialistischen Regimes ihr Leben riskierten: bewaffnete und unbewaffnete Wider­stands­kämpfer. Finanziert wurde das Projekt zum größten Teil aus EU-Fördermitteln, die anlässlich des 60. Jahrestags der Befreiung ausgeschrieben worden waren.

20 Videointerviews mit Widerstandskämpfern aus Slowenien, Österreich, Frankreich, Polen, Italien und Deutschland bilden den Grundstock des Archivs, das beständig erweitert werden soll. Ergänzt werden sie durch Kartenmaterial, ­Fotos, ein Glossar sowie Texte, die einen Überblick über die Geschichte des Widerstands in den verschie­denen Län­dern geben. Außerdem können sämtliche Transkriptionen der Interviews für Schul- oder Uni­versitätszwecke heruntergeladen werden.

Neun Projektpartner aus sechs Ländern haben sich an der Recherche beteiligt, die Interviews vorbereitet und durchgeführt, Transkriptionen verfasst und ins Englische übersetzt. Doch wurden diese Aufgaben zu einem großen Teil nicht von Wissenschaftlern, sondern von politisch engagier­ten Menschen erledigt. Unterstützt wurden sie von Historikern und Pädagogen, dem italienischen Videokollektiv Pulse und der Berliner Gruppe lieb­linx, die die Homepage eingerichtet hat.

In Deutschland haben sich die DGB-Jugend Hessen und die Forschungsgesellschaft Flucht und Migration Berlin in Kooperation mit der Jugendantifa Berlin beteiligt. Die Ergebnisse sind Interviews mit Lorenz Knorr und Erwin Schulz. Die Suche nach Zeitzeugen stellt für Holger Kindler, Jugendbildungs­referent der DGB-Jugend Hessen, das größte Problem der praktischen Arbeit für das ERA in Deutsch­land dar, bei der ihnen die Vereinigung der Verfolg-ten des Nationalsozialismus/Bund der Antifaschisten behilflich war.

Ein Problem ist die Definition des Begriffs »Wider­stand«, die eines der vielen erinnerungspolitischen Kampffelder darstellt und jüngst in der Oettinger/Filbinger-Groteske auf die Spitze getrieben wurde. Deshalb ist es gerade in Deutschland umso wichtiger, »ganz eindeutig eine engere Vorstellung von Widerstand im Kopf« zu haben, wie es das größtenteils studentische, junge Team aus Hessen gehabt habe. Holger Kindler konkretisiert: »Wir suchten Leute, die den Faschismus bereits vor seiner nationalsozialistischen Etablierung generell ablehnten und die NS-Herrschaft insgesamt bekämpfen wollten.«

Auch wenn sehr viele der Biografien der bislang interviewten Widerständigen dieser engeren Vorstellung gerecht werden, ermög­licht das Archiv einen Einblick in das Leben von sehr unterschiedlichen Menschen. Das mag auch daran liegen, dass die von der DGB-Jugend formulierte Leitlinie bei weitem keine für alle Projektgruppen verbindliche gewesen sei, wie Steffen Kreuseler berichtet. Er arbeitet für das deutsch-italienische Forschungsinstitut Istoreco, welches Ideengeber und Koordina­tions­stelle für das ERA ist.

Kreuseler erinnert sich daran, dass bei dem ersten Projekttreffen im Spätsommer alle Be­teiligten darin übereinstimmten, dass unter »Widerstand« nicht nur der bewaffnete Kampf von slowenischen oder italienischen Partisanen zu verstehen sei. Im Projekt werde deshalb auch häufig von »Widerständen« gesprochen, da es eine Vielzahl von Wider­stands­formen gegeben habe. Dazu gehörten Aktivitäten wie »Menschen verstecken, bewaffnet kämpfen, Informa­tionsdienste über­nehmen oder die Partisanenbewegung unter­stützen«.

Entscheidend sei, welches Verständnis dem Widerstand zu Grunde liegt: »Widerstand bedeutet, sich aktiv gegen den nationalsozialistischen Terror und Krieg gewehrt zu haben. Nicht nur etwas gesagt, sondern auch etwas gemacht zu haben.«

So kommen neben überzeugten Antifaschisten aus sozialistischen Familien auch Personen zu Wort, die sich aus religiösen oder humanistischen Beweggründen für den Widerstand entschieden. Steffen Kreuseler findet es deshalb sehr schwierig, über die einzelnen Motive für Widerstandshandlungen zu urteilen, da diese immer mit dem Risiko von Gefangenschaft, Folter und Tod verbunden gewesen seien. Kreuseler sieht auch die besondere Problematik, den »Widerstand« von bspw. einem Großteil der ita­lie­nischen Streitkräfte überhaupt als solchen zu bezeichnen: Dieser Großteil wurde nach der Kapitulation Italiens in Deutschland interniert und entschied sich gegen eine Unterstützung der Wehr­macht und damit für die Gefangenschaft. Kreuseler hofft, »dass zum Bei­spiel so eine Diskussion darüber, was eigentlich ›Widerstand‹ ist, auch auf der Projektseite geführt wird«.

Sicherlich wird das Visual History Institute der Shoa Foundation wohl für immer an Umfang und Bekanntheit weit vor dem Kleinprojekt ERA rangieren. Trotzdem hat die Webseite im Umgang mit »Oral History« einen ähnlichen Pionierstatus inne. Die digitale Archivierung der Videointerviews er­möglicht eine dezentrale und unkomplizierte Arbeit, die bis vor kurzem in diesem Ausmaß nicht möglich war. Bislang mussten Interessierte zu den jeweiligen Museen und Archiven reisen, um dort das Material sichten zu können.

Im Falle des Visual History Institute ist durch eine eingeschränkte Freischaltung des Archivs für bestimmte Universitäten und Institutionen ein Mechanismus vorhanden, der das Material nur einem fachlich interessierten Publikum zugänglich machen soll. Das ERA hingegen verzichtet auf dergleichen vollständig, weil es nach Kreuseler darum ging, »einen virtuellen Ort aufzubauen, an dem es allen möglich ist, Menschen zu treffen, die Widerstand geleistet haben«. Im Rahmen seiner Arbeit mit Istoreco habe er bemerkt, dass bei vielen jungen Leuten ein Interesse bestehe, sich auf diese Art mit Geschichte auseinanderzusetzen. Schließlich hätten nur sehr wenige Menschen die Möglichkeit, zum Beispiel in die Reggio Emilia nach Italien zu fahren, um dort an einer der zahlreichen Veranstaltungen mit Zeitzeugen teilzunehmen.

Der Umgang mit solch persönlichen Zeugnissen ist nicht unumstritten. Johannes Blum, der für das jüdische Museum für Deportation und Widerstand im belgischen Mechelen Hunderte Zeitzeugeninterviews gesammelt hat, befürchtet, dass das Online-Archiv keinen angemessenen Umgang mit dem Vermächtnis dieser Menschen darstelle. Steffen Kreuseler widerspricht: »Ich finde, dass das ERA eine sehr große Würdigung der Taten dieser Menschen darstellt und so viele Menschen wie möglich die Gelegenheit dazu haben sollten, sich diese anzuhören.« Ein Konflikt, der sich wahrscheinlich noch stärker zeigen wird, wenn es darum geht, bereits existierende Interviews in das Archiv einzubinden.

www.resistance-archive.org