Die Wiederkehr des Mobs

Über die militanten Autonomen und unpassende Bemerkungen an einem unpassenden Ort. von klaus behnken

Franz Müller zieht am Ende der G8-Proteste für Bild Bilanz: »So viel Hass habe ich noch nie erlebt!« Franz Müller muss es wissen. Er ist Zugführer der Bereitschaftspolizei in Dachau und auch sonst ziemlich ahnungslos. Nicht viel schlauer, aber etwas eloquenter kommt Franz Walter, Politologe in Göttingen, bei Spiegel online daher. Er sieht in der »linksextremistischen Gewalt« die Wiederkehr des vorindustriellen »Mobs«, sie zeige »die allmähliche Auflösung etlicher industriegesellschaftlicher Strukturen, Organisationsformen und Bindemittel«: »Wo immer in den vergangenen 20 Jahren in Europa unorganisierte und unvorhergesehene Krawalle ausbrachen, dort wird man verlässlich auf solche gesellschaftlichen Leerstellen, auf entbundene Räume, sodann auf die Rückkehr des ›Mobs‹ treffen.« Zwar glaubt nur der Politologe, marginalisierte Gruppen und linksextreme Gewalt gäbe es erst seit 20 Jahren, aber jede Zeit hat sich ihren eigenen Reim auf sie gemacht.

Natürlich erschrecken die Bilder von Steinewerfern und brennenden Autos, weil sie für einen Moment Gewaltverhältnisse durchbrechen und sichtbar machen, die sonst anonym sind, im Elternhaus, in der Schule, im Betrieb, im Knast, auf Behörden, in Asylbewerberlagern und anderswo. Selbst die Medialisierung der G8-Proteste ist Gewalt gewesen, mit dem Ziel, die Demonstranten einzuschüchtern oder auch zu kriminalisieren. Dazu schien tagelang fast jedes Mittel recht, die polizeiliche Verletzten-Statistik, die am Ende auf ein halbes Prozent der anfangs genannten Zahlen heruntergerechnet werden musste, die Manipulation von Bildern, die Erfindung von Waffen, die Fälschung von Redebeiträgen auf den Kundgebungen und eine einseitige Berichterstattung, die allein die Demonstranten für die Auseinandersetzungen verantwortlich machte. Gewalt ist auch ganz unmittelbar spürbar geworden unter den Tonfas der Polizei, in den Schwaden von Reizgas und in den Metallkäfigen der Gefangenensammelstellen.

Der Diskurs über die Praxis oppositioneller Gewalt ist immer hilflos gewesen, weil er versucht hat, sie in einen Katechismus zu fassen. Gewalt gegen Sachen, ja, Gewalt gegen Personen, nein. Oder auch bei Herbert Marcuse, der in seiner »Nachschrift 1968« zur »Repressiven Toleranz« noch das Recht von Minderheiten auf intolerante und militante Unduldsamkeit gefordert hatte »gegenüber Verhaltensregeln, die Zerstörung und Unterdrückung tolerieren«, 1977 jedoch, unter dem Eindruck der RAF-Aktionen, zwischen defensiver und offensiver Gewalt differenzieren wollte. Jeder, der einmal auf einer Demonstration gewesen ist, weiß, dass eine solch feinsinnige Unterscheidung nur für den Sonntag taugt.

Vielleicht vergisst der eine oder andere autonome Militante, wie wirksam symbolischer Protest sein kann. Denn dieser fordert mehr als sportlichen Einsatz, gelegentlich sogar einen Schuss Theorie. Das kann man und muss man kritisieren. Diese Kritik aber muss von links kommen.

Ein Kollege aus der Redaktion dieser Zeitung hat während der G8-Aktionen an einem ziemlich unpassenden Ort, wie manche finden, ein »linkes Plädoyer« veröffentlicht, »sich endlich der Wirklichkeit zu stellen«, und in einem nachgeschobenen Interview mit Radio Corax Verständnis geäußert für die Repression durch die Polizei. 40 Jahre, auf fast den Tag genau, nachdem in Berlin ein Polizist den Startschuss in den Hinterkopf des Studenten Benno Ohnesorg gab, lesen wir in einer von vorauseilendem Gehorsam diktierten Erklärung, für Kritik am Staat und an seinen Maßnahmen gebe es keinen Grund, vielmehr rufe die radikale Linke mit ihrer Randale erst »harte Maßnahmen des Staates hervor, um diese dann wieder zu beklagen«: »Sie erfüllt sich ihre Prophezeiung selbst.« Außer diesem sich selbst bestätigenden Satz hat der Autor kein einziges Argument, stattdessen zitiert er Äußerungen aus der Linkspartei, der Sozialistischen Jugend, der Roten Hilfe und einen Open Posting-Beitrag bei Indymedia, um deren »blühende Phantasie« zu beweisen. Dass dabei auch eine Live-Sendung aus Rostock auf Phönix durchfällt, weil dessen Reporter an Ort und Stelle war und anderes gesehen hat, als der Kollege wissen wollte, ist dann nur konsequent.

Alles andere, was er brauchte, hat er sich aus den Agenturnachrichten geholt, deren inzwischen korrigierte Falschmeldungen eingeschlossen. Wir finden in seinem Text keinen Satz, der den Staat und seine repressiven Maßnahmen kritisierte, so als habe es Wochen vor Rostock nicht massive Razzien gegeben, die die Szene, und dazu gehörten auch Buchhandlungen, Verlage, Archive, terrorisieren sollten. Wir finden kein Wort zu den teilweise brutalen Interventionen gegen die so genannten friedlichen Demon­stranten vor dem Zaun in Heiligendamm, keinen Einwand gegen den Einsatz von Bundeswehr-Logistik und -Personal bei den G8-Protesten, nichts zu den ständigen Versuchen, das Grundgesetz von oben zu demontieren. Angesichts dieser Sprachlosigkeit ist der Schluss seines Gastkommentars ziemlich unglücklich: »Ein Märtyrer wie Carlo Giuliani in Genua würde das auf dem Kopf stehende Weltbild mancher Linker nur noch einmal bestätigen.« Dieser vielleicht unbedachte Satz ist nichts anderes als die vornehmere Form der rhetorischen Frage von Bild, »Wollt ihr Tote, ihr Chaoten?«

In seinem Radio-Interview wird der Kollege noch deutlicher. Auf die fast flehentliche Frage des Interviewers, ob denn nicht die Maßnahmen der Polizei doch angreifbar seien, antwortet er: »Man sollte das durchaus anprangern, aber irgendwie auch die Kirche im Dorf lassen«, durchaus anprangern, die Repression aber sonst Repression sein lassen, heißt das wohl. »Ich meine, man muss sich da einfach fragen, was erwartet man denn, wie der Staat agieren sollte. Soll er diesen Zaun öffnen, damit Tausende dahin laufen und dann womöglich die Hotels stürmen? Der Staat kann das nicht machen und wird es nicht machen. Man kann das zwar versuchen, das ist legitim, bloß, dass der Staat das nicht dulden wird, und das würde kein Staat auf der Welt dulden, … das muss man schon irgendwie auch verstehen.« Legitim, ja schon, aber irgendwie auch wieder nicht, denn kein Staat kann das dulden, und das muss man natürlich verstehen. Müssen wir das als Linke wirklich verstehen? Fehlt uns vielleicht das rechte Einfühlungsvermögen in die ordnungspolitischen Notwendigkeiten des kapitalistischen Staates?

Den militanten Autonomen jedenfalls fehlt diese Sensibilität, und das ist auch gut so. Bei allen Einwänden hat der Kollege in einem Recht, die Autonomen brauchen nicht erst die aktive Provokation der Polizei, um loszuschlagen. Es ist fast unerheblich, ob es Agents provocateurs gegeben hat oder ein paar Nazis, die sich unter die Demonstranten gemischt haben. Die Polizei als Stellvertreterin des Staates ist bereits die Provokation. Und genauso wenig braucht die Staatsmacht die Autonomen, um Gewalt gegen Demon­stranten zu üben, denn deren Kritik, wenn sie denn radikal ist, ist bereits die Negation des Staates. Nicht nur, dass die Autonomen die einzigen auf dem G8-Festival waren, die ihre Kapitalismuskritik mit der Kritik des Antisemitismus verbanden, sie haben für ein paar Tage auch verhindert, dass die Proteste zu einer beliebigen zivilisatorischen Übung verkamen und Heiner Geißlers in der FAZ geäußerte Hoffnung, die Demonstrationen könnten der Kanzlerin nützen, enttäuscht wurde.

Und dafür müssen wir dem schwarzen Mob dankbar sein.