Verfemtes denken, Flüchtiges lieben

cord riechelmann würdigt einen Freund und ein viel zu knappes Lebenswerk: zum Tod von Harald Fricke

Das geht ja gar nicht mehr!« singen die höhe­ren Töchter auf den explodierenden Kunstmärkten der Gegenwart, und ihre Chauffeu­re, die Kunstkritiker neuen Typs, übersetzen den Quatsch in Kulturtipps. Mit Harald Fricke, dem langjährigen Kunstredakteur der taz, ist einer der wenigen Kritiker verstummt, die dem Horror der neuen Schlachtenmalerei konkrete Kriterien entgegensetzen konnten. Im Alter von nur 44 Jahren erlag er einer langen heimtückischen Krebserkrankung.

Harald Fricke war aus Hamburg nach Berlin ­gekommen, seine Sozialisation fand ab Mitte der achtziger Jahre in dem für Westberlin typischen Bermuda-Dreieck zwischen dem Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft, dem vom jüdischen Religionsphilosophen Jacob Taubes geleiteten Institut für Hermeneutik, die beide in Dahlem zur FU Berlin gehörten, und den Nächten in Schöneberg und Kreuzberg statt. Es war die Zeit, als Künstler und Musiker dominierten, die sich selbst als geniale Dilettanten bezeichneten, und Haus­besetzer und Taxifahrer mit Philosophiepropädeu­tikum die Stadt bevölkerten.

Harald Fricke hat in einem für seine Ästhetik zentralen Text auf diese Zeit zurückgeblickt: »Anfang der achtziger Jahre bestimmt Malerei die Kunstszene Berlins. Überhaupt ist die Stadt schon seit einiger Ewigkeit neben München und Düsseldorf das Zentrum deutscher Malkunst. Dass es so bleiben soll, dafür sorgen die ›neuen Wilden‹ vom Moritzplatz. Während dort unglaubliche Mengen an Leinwand mit Rosa und Grün und Gelb und wenigen Pin­selstrichen von Elvira Bach oder Helmut Middendorf, von Salome oder Rainer Fetting übertüncht und zu unglaublichen Preisen verkauft werden, gibt es in Kreuzberg gleich nebenan eine kleine Szene von Künstlern, die ihr Interesse auf Musik, Video oder Film und vor allem Performances verlagert.«

Der Text findet sich als Epitaph in einem 1996 erschienenen Katalog des Künst­lers Nikolaus Utermöhlen und heißt programmatisch »Flüchtige Vorlieben«. Uter­möhlen, der im Erscheinungsjahr des Textes an den Folgen von Aids gestorben ist, gehörte zu den Gründungsmiftgliedern der Tödlichen Doris, der neben den Einstürzenden Neubauten prägends­ten Gruppe der Berliner Dilettanten. Und es ist Harald Frickes unendlicher Höflichkeit geschul­det, dass er sein eigenes Kunstcredo in diesem Text von Utermöhlen vortragen lässt: »Mit jedem Gedanken ändert sich nicht nur das Objekt, auf das diese Kraft wirkt, mit jedem Teil ändert sich auch in gleichem Maße die Gesamtheit des Ganzen. Dieses Ganze ist aber, wie es scheint, selbst durch die größtmögliche Öffnung der Wahrnehmung, nie als irgendwie begrenzt erfahrbar. Vielmehr arbeiten Wahr­nehmung und Erfahrung unter anderem mit dem Bewusstsein so zusammen wie ein Kaleidoskop, durch das das Bewusstsein mit endlosen Mustern genährt wird. Diese Muster und Strukturen bauen sich immer nur aus einem Teil oder Teilen eines Ganzen als Grundelemente auf. Durch eine ständige Bewegung von innen heraus entstehen und erhalten sich Formen in den verschiedensten Ebenen.«

Kunst, heißt das, über den Sinn der Sätze hinaus, kann man nur verstehen, wenn man die Position und Produktionsbedingungen des Künstlers mitbedenkt. Auch deshalb gab es in Berlin, seit Harald Kunstkritiken schrieb, keine Galerie, keine Ausstellung, keinen Künstler und keine Künstlerin, die er nicht selbst in Augenschein nahm. Dabei gelang ihm das Kunst­stück, jeden Klüngel, jede männer­bünd­lerische Schulterklopferei und jede eitle Macke der Kunstproduzenten aus seinem Urteil herauszuhalten. Während man selbst einen Galeristen schon mit »Hallo, Werner« begrüßte, sagte Harald noch nach 20 Jahren: »Guten Tag, Herr Müller!«

Mit seiner aus einem Distinktionsaffekt geborenen zarten Empirie sah er selbst über die übelsten Nachreden von Künstlern und die stupidesten Anfeindungen intellektuell unterlegener Kollegen großzügig hinweg. Er besuchte auch weiterhin die Austellungen der Künstler, die den Kritiker verwünschten, und druckte als Redakteur die Texte jener Kritiker weiter, denen das eigene Netzwerk näher war als der blitzende Funke des Schönen. Harald wusste, dass der Gattungsakt der Kunst, in dem der Mensch aus seinen Verstellungen, aus Lüge und Irrtum heraustritt, unvorhersehbar überall auftreten kann.

Ich habe mich mit ihm über Jahre hinweg, meis­tens montagnachmittags, im »Kumpelnest« getroffen und manchmal heftigst gestritten. Dass der Streit nicht, wie so oft üblich, irgendwann aus dem Ruder lief, hatte drei Gründe. Wir konnten uns jederzeit ohne die geringste Dissonanz auf zwei Texte und eine Musik einigen. Die Musik, das waren die Soulproduktionen um das amerikanische Motown-Label, und die Texte, das waren Jacob Taubes 1986 in der taz erschienene Würdigung des Staatsrechtlers Carl Schmitt, »Ein Apokalyp­tiker der Gegenrevolution«, sowie Michel Fou­caults »Das Leben der infamen Menschen«. Dass ein jüdischer Philosoph einen mit den Nazis verbandelten »furchtbaren Juristen« auf hohem historisch-theoretischem Niveau behandeln konnte, entsprach Haralds Traum von der taz-Kultur. Auch im Diskurs wollte er wie in der Kunst die Gattung vor die Klassen, Staaten, Bezirke und Vereine stellen – ganz wie Foucault in seinem Meisterwerk über die verfemtem Existenzen.

Harald Fricke war auf die Suche nach jenen Teilchen gegangen, deren Energieladung umso größer ist, je kleiner und unscheinbarer sie selber sind. Sie zu finden, war für ihn die Aufgabe der Kunst.