»Mich nervt die Harmlosistan-Kultur«

Dirk von Lowtzow

Tocotronic ist eine der am meisten beachteten deutschsprachigen Bands. Dieser Tage erscheint ihr neues Album. Ein Gespräch mit dem Sänger Dirk von Lowtzow über Kapitulation, Pop, Politik, Natur und die Jungle World.

Die beiden Auftaktkonzerte zu eurer neuen Platte sind in den Feuilletons bejubelt worden, bis in die Welt und die FAZ hinein. Seid ihr inzwischen Mainstream?

Ich glaube, diese Unterscheidung in Mainstream und Nicht-Mainstream funktioniert heutzutage nicht mehr so, wie sie noch zu der Zeit funktioniert hat, als ich angefangen habe, Musik zu hören. Es gibt heute viel Musik, die unter Mainstream läuft oder klassisch mainstreammäßig vermarktet wird, die tausendmal interessanter ist als Musik, die nicht mainstreammäßig vermarktet wird. Man kann sich darüber streiten, inwiefern es eine Auswirkung des Main­stream ist, wenn jetzt im Feuilleton über einen berichtet wird, oder ob so etwas wie das Feuilleton vielleicht sogar eine letzte Nische von Absonderlichkeiten ist. Popkultur und Popmusik haben seit gut zehn Jahren ihren festen Platz im Feuilleton. Davor hat man, wenn man das FAZ-Feuilleton aufgeschlagen hat, hauptsächlich Artikel über Aufführungen von Bach-Kantaten gefunden. Man kann sich darüber streiten, ob man das gut oder schlecht findet. Irgendwann hat man diese ganze Pop-Berichterstattung auch über.

Viele eurer früheren Texte handeln davon, alleine und unverstanden der Masse, die prima klar kommt, gegenüberzustehen …

Ja, die neuen aber auch, das ist etwas, das sich nie groß verändert hat. Wenn man aber seinen Standpunkt nie reflektieren würde und bis in alle Ewigkeit, auch wenn man tatsächlich nach acht Platten relativ etabliert ist, immer noch darauf beharren würde, klein und unverstanden zu sein, das wäre ja kokett und wahnsinnig naiv.

Wie erklärst du dir, dass so viele Leute sich damals damit identifiziert haben, als letzter alleine auf der Bank zu sitzen?

Diese Texte wurden irgendwann paradox oder absurd, weil sich eben so viele Leute damit identifiziert haben. Wobei es so viele Leute dann doch nicht waren, sonst würden wir ein bisschen mehr Platten verkaufen. Es gibt viele Bands, die verkaufen locker mal das Zehnfache von uns, insofern würde ich sagen, wir haben da so ein ganz gutes Nischendasein.

Immerhin seid ihr »Deutschlands wichtigste Band«, liest man.

Das sind solche Zuschreibungen, die als journalistische Rechtfertigung dafür dienen, uns auf das Cover zu nehmen. Die Texte wurden damals tatsächlich auch zu stark für bare Münze genommen und zu sehr authentisch rezipiert. Es gibt eigentlich kaum etwas, das ich schrecklicher finde als dieses ewige Insistieren auf Authentizität. Dabei wird oft übersehen, dass es eben überhaupt kein Gegengift zur herrschenden Gesellschaft ist, dieses besonders Ehrliche, sondern dass es von der Macht nur gewünscht sein kann, dass alle immer ganz besonders ehrlich, ganz besonders authentisch sind. Deshalb finde ich das als Gefühl nicht besonders interessant. Uns ging es schon von Anfang an als Band darum, Kunst zu machen, und nicht darum, authentische Gefühle auszudrücken.

Zumindest habt ihr damit offenbar einen Nerv getroffen.

Ja, aber das liegt nicht daran, dass die Sachen so authentisch sind, sondern vielleicht daran, mit Verlaub gesagt, dass sie ganz gut waren. Sie hatten halt eine bestimmte Qualität dahingehend, dass viele Leute sehr viel hineinprojizieren konnten. Das war aber eher etwas, das uns eher unheimlich war, weshalb wir dann auch nach drei, vier Jahren gesagt haben, wir müssen das verändern, man wird hier vereinnahmt von Leuten, die man vielleicht nicht so toll findet und wo auch der Witz schief wird. Und man darf auch nicht vergessen: Man ist damals eben in ein relatives Vakuum gestoßen. Es gab wahnsinnig wenig gute deutschsprachige Musik. Als wir angefangen haben, gab es ein paar Bands, die uns beeinflusst haben und mit denen wir uns ausgetauscht haben, Blumfeld, die Sterne und ein paar andere, und davor gab es eben nichts.

Eure Musik firmierte damals unter dem Titel »Diskursrock«. Welche Aufgabe seht ihr heute für euch innerhalb des gesellschaftlichen Diskurses?

Mir wäre es ganz recht, wenn wir überhaupt keine Aufgabe hätten. Aufgabe klingt mir ein bisschen zu autoritär, so als würde man in die Pflicht genommen werden, als hätte man innerhalb der Gesellschaft eine Aufgabe zu erfüllen. Wir machen das, weil es uns Spaß macht, und nicht, weil wir hier eine Mission zu erfüllen haben. Insgesamt klingt mir das auch zu konstruktiv. Rockmusik hat destruktiv zu sein oder negativ.

Wäre dann die Aufgabe vielleicht, Zweifel zu verbreiten?

Wenn man Kunst macht, dann hat man zumindest die Verantwortung, okaye Kunst zu machen. Und ich bin davon überzeugt, dass Kunst immer nur dann gut ist, wenn sie den Zweifel einschließt. Selbstbewusste Kunst, Kunst, die nicht zweifelt, ist das Schlimmste überhaupt.

Wie gehst du mit schlechten Kritiken um, zum Beispiel dem Verriss der Platte »Pure Vernunft« in der Jungle World? Fühlst du dich missverstanden?

Das kommt darauf an. Die Kritik in der Jungle World damals hat mich geärgert. Ich finde es völlig in Ordnung, wenn jemand sagt, mir gefällt das nicht, oder ich habe da eine andere Haltung dazu. Aber das war doch eine recht unoriginelle Herangehensweise. Mir war das zu Indie-Scheiß-mäßig, so nach dem Motto: »Ich hab’ die früher schon gekannt, da waren die aber besser.« Wenn so etwas in einer Zeitung steht, die ich verabscheue, dann ist mir das egal, dann sage ich mir, die können das ja auch gar nicht verstehen. Aber bei einer Zeitung wie der Jungle World, mit der man sich irgendwie verbunden fühlt, da hätte ich mir eine etwas fundiertere Auseinandersetzung gewünscht. Das war eines der wenigen Beispiele, die einen wirklich mal geärgert haben.

Wenn alle zum G8-Gipfel fahren, kann man in der Jungle World lesen, warum man nicht hinfahren sollte. Die globalisierungskritische Bewegung wollte möglichst viele Menschen mittels der G8-Proteste politisieren – Tocotronic macht eine Platte, die »Kapitulation« heißt. Seid ihr bewusst antizyklisch, oder ist das Zufall?

Das ist etwas, weshalb ich mich mit der Jungle World ganz gut identifizieren kann. Ich kann es eben nicht leiden, wenn alles gleichgeschaltet ist. Ich finde es super, dass sich da kritische Berichte zum linken – und im Fall von dieser Globalisierungsgegnerschaft auch oft pseudo-linken – Kontext finden. Man darf ja auch nicht vergessen, was es bedeutet, wenn jetzt auch Heiner Geißler Attac beitritt. Es ist natürlich auch interessant, dass man bei diesen G8-Demons­trationen dieselben Slogans mit nur hauchfeinen Unterschieden auch von Neonazis hören konnte. Ich finde, die wichtigste Aufgabe für links sozialisierte und links denkende Menschen, als die wir uns auch bezeichnen würden, ist es, kritisch diese Sachen zu hinterfragen. Bei diesem Heiligendamm-Protest fehlte mir auch ein wenig der Inhalt. Da wurde so viel mit Symbolen gearbeitet, auch mit so dankbaren Symbolen wie diesem Zaun, etwas Besseres hätte ja dieser Anti-G8-Bewegung überhaupt nicht passieren können. Es bleibt aber trotzdem nur ein Zaun. Ich finde eine Haltung gut, die gegen solche Konsense arbeitet. Ich will diesen Anti-G8-Protest gar nicht diskreditieren, ich finde das schon grundsätzlich okay, es ist nur eben keine dezidiert linke Haltung, die da zum Ausdruck kommt. So eine breite Form von Protest macht es schwer, sich damit zu identifizieren. Und klar, eine Platte »Kapitulation« zu nennen, ist natürlich auch in der Hinsicht völlig unzeitgemäß.

»Kapitulation«, heißt es im Manifest zu eurer neuen Platte, sei »das schönste Wort in deutscher Sprache«. Da denken viele, die euch als bewusst anti-nationale Band kennen, an die Debatte »Besiegt oder befreit« von 2005, in der ihr Stellung bezogen habt. Gleichzeitig scheint diese Platte zunächst eine eher unpolitische Platte zu sein.

Ich finde es schwierig zu bestimmen, wann Kunst politisch ist. In den meisten Fällen, in denen sich Kunst politisch gibt, gibt sie sich eben nur politisch, das verfolgt so ein Modell von Repräsenta­tion oder Instrumentalisierung, und das Politische gerinnt zu einem Image. Ich finde, Kunst und Politik sind zwei ganz verschiedene Felder, und die zusammen zum Schwingen zu bekommen, ist ein Prozess, der nur ganz allmählich passieren kann. In vielen Stücken wird diese Niederlage, die Kapitulation, die Schwachheit gefeiert. Das richtet sich gegen ein explizit bürgerliches Streben nach Kontrolle und Größe. Es ist auch durchaus provokant gemeint, wenn man eine Platte in Deutschland »Kapitulation« nennt, gegenüber all diesen Leuten, die permanent ausrufen, wir sollen doch jetzt unverkrampft patriotisch sein. Außerdem setzt sie diesem Wahn der Authentizität und der Selbstliebe, diesem Mythos vom nicht-entfremdbaren Selbst, das Lob der Vielheit entgegen. Es ist eine sehr widerständige Platte gegen einen allgemeinen Zeitgeist, gegen dieses Kontrollstreben, gegen diesen Optimierungszwang, gegen diesen optimistischen und optimierenden Imperativ, diesen Selbstverwirklichungszwang, der einhergeht mit diesem »Mach was aus dir!«, das permanent postuliert wird. Deswegen wundert es mich, ehrlich gesagt, dass du diese Platte als unpolitisch empfindest.

»Aus meiner Festung« heißt ein Lied. Darin heißt es: »Morgens früh / lief ich hinaus / das Gras war feucht / vom frischen Tau« – das klingt doch sehr nach Rückzug ins Private, in die Natur.

Mit dem Wort »Festung« assoziiere ich sofort so etwas wie »Festung Europa«. Wenn man das Stück auf dieser Ebene liest, und dann heißt es: »kommt alle her«, dann ist das doch etwas, das genau diesen Rückzug ins Private sprengen will, sowohl auf einer persönlichen als auch auf einer politischen Ebene.

»Imitationen« und »Wehrlos« sind Liebeslieder?

»Wehrlos« ist ein Lied über Sucht, über die Sucht nach Anerkennung und Geborgenheit. Es ist kein ungebrochenes Liebeslied, weil es eigentlich völlig hysterisch ist. Es nimmt eine total anti-männliche und anti-machtbesessene Position ein, und es korrespondiert ja auch mit Stücken wie »Kapitula­tion«. Beides sind Worte, die aus dem Feld der Strategie kommen, und ich finde es in dem Zusammenhang interessant zu sagen, man ist wehrlos.

Das ist nicht eskapistisch?

Eskapistisch ist doch gerade, sein Heil in der Alltäglichkeit, in der total langweiligen Banalität zu suchen. Aber die Sehnsucht nach etwas zu formulieren, von mir aus auch nach Natur, das ist nicht eskapistisch, das zeugt von der Unzufriedenheit mit dem, was da um einen herum ist. Der wirkliche Eskapismus, den formulieren doch andere Leute, andere Künstler, die permanent Zeug verbreiten von wegen »es ist ein neuer Tag« und »alles ist super« und »ich fühl’ mich auch noch gut in Deutschland«. Es gibt auf der Platte zwar viele Stellen, die von der grünen Wiese handeln, aber das ist doch immer gebrochen und unheimlich, da ziehen schon die Schatten auf, das ist doch eher gefährlich, und außerdem darf man eben auch nicht vergessen, es funktioniert ja auch mit der Musik zusammen, und es ist ja keine harmlose Musik.

Kapitulation ist für dich also Stärke?

Kapitulation ist eine große, theatralische Geste, eine schöne Geste. Es ist ja auch ein großes Thema für Rockmusik. Vor bestimmten Sachen zu kapitulieren, etwas zuzulassen, das hat etwas Produktives. Wenn man sagt »Ich kann nicht mehr«, dann hat das Kraft. Diese gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen man lebt, die ganzen neoliberalen Strukturen, produzieren ja permanent nichts anderes als Überforderung am eigenen Selbst, so eine Art erschöpftes Selbst. Man muss ja permanent an sich arbeiten, und auch noch der ärmste Schlucker muss sich selbst verwirklichen und kreativ sein. Innerhalb dieses Zeitgeistes und dieser Gesellschaft zu behaupten, dass es befreiend sein kann, zu sagen »Ich kann nicht mehr«, ist das absolut Verbotenste, was heutzutage jemand sagen darf. Und dann hat es auch als Lied so gut funktioniert, weil es ein bisschen wie so ein perverses Kirchenlied ist. Mein Wunsch wäre, dass das wirklich wie ein Schlag ins Gesicht all derer ist, die ständig von Optimismus faseln und ihre Harmlosigkeit dazu so offen zur Schau stellen.

Seid ihr eigentlich noch wütend?

Auf jeden Fall! Ich finde, diese Platte ist wahnsinnig wütend. Sie ist ganz schnell geschrieben, auch die Texte, und sie ist ein einziges Aufbegehren gegen diese Harmlosistan-Kultur, die mich so nervt. Das geht los bei diesem unverkrampften Patriotismus und geht weiter über das, was man bei so vielen Künstlern feststellt, dieses überemotionalisierte Sich-selber-Einbringen in alles, dann gegen diesen Backlash in den Geschlechterbeziehungen. Deshalb auch so ein Stück wie »Wehrlos«, wo man sagt, man muss seine eigene Zerbrechlichkeit ausstellen, seine Fragilität. Das ist als Gegenmittel zu verstehen gegen diese Jürgen-Vogel-Welt, dieses »Ich hau mal der Frau hier auf den Arsch«, diese ganze Männer-Kumpel-Welt. Ich finde, es ist mit Sicherheit auch die, so doof das klingt, weiblichste Platte, die wir je gemacht haben. So ein Stück wie »Wehrlos« ist ja wahnsinnig feminin.

Etwa, weil es schwach ist?!

Nicht weil es schwach ist, weil es eben nicht männlich ist.

Weil es das Konzept von Männlichkeit dekonstruiert?

Ja, genau, darum geht es mir. Insofern nimmt die Platte auch eine Antihaltung ein gegenüber einem Männerbild, das es in der Rockmusik gibt, in dieser ganzen Indie-Kultur. Da herrscht ein Männer- und Frauenbild, das fast so ist wie vor 50 Jahren. Und damit meine ich jetzt nicht Eva Hermann. Allein, was es bei deutschsprachigen Indie-Bands gibt: Diese komische Jungs/Mädchen-Kultur, die da herrscht, diese Verdummung, diese Sprachlichkeit, das finde ich so grässlich.

»Verschwör’ dich gegen dich« hat Anlagen zum perfekten Lied. War das gewollt?

Es gibt ja immer diese Idee des »perfekten Popsongs«. Manchmal gelingt einem so was, und wenn man es dann merkt, muss man es auch ausreizen. Es passt auch ganz gut zum Text, weil das so ein Dandy-Topos ist. Die Idee des Dandys, der immer gegen sich selbst arbeitet. Und natürlich ist es auch eine sehr trotzige Haltung. Heutzutage wird ständig Leistung eingefordert, man muss ja immer zeigen, was man kann. Die Idee ist zu sagen, man muss das überhaupt nicht.

Geht es um dieses Ich, das übrig bleibt, wenn man die Zivilisation abzieht, verleugnet?

Nein, das ist vielleicht auch ein bisschen das Missverständnis mit dieser Natur. Das ist etwas, das mich überhaupt nicht interessiert, das wäre Rousseau. Die Natur, um die es mir da geht, ist eher aus Plastik oder aus Diamanten, mich interessiert eine übertriebene Künstlichkeit, eine übertriebene Verfeinerung.

Handelt nicht die ganze weiße Platte davon?

Das ist ein Thema, das wir seitdem eigentlich immer haben. Das ist etwas, das uns grundsätzlich interessiert: Künstlichkeit gegen Authentizität. Mir geht es nie um dieses Zurück zur Natur, um dort das wahre Ich zu finden. Wenn, dann ist das eher eine Theaterkulisse.

Zehn Jahre Jungle World. Schenkst du uns eine Ansprache?

Wir, die Gruppe Tocotronic, sind keine großen Redner, wir singen lieber (Zwischenrufe: Hört, hört!). Und ein Loblied zum Jubiläum wollen wir auch singen auf die Jungle World, mit der wir nicht immer einer Meinung, aber doch zumeist ein gutes Stück Weg gemeinsam gegangen sind. (Gemurmel) In diesem Sinne singen wir ein kleines Kampflied zusammen und freuen und freuen uns auf die nächsten zehn Jahre (Applaus).

interview: josefine haubold