Die Entstehung der Jungle World aus einem Streik bei der Tageszeitung junge Welt 1997

Wie man einen Dschungel pflanzt

1997 entstand die Jungle World als Ergebnis eines politischen Streiks bei der Tageszeitung junge Welt. Eine Chronik des Streiks und der ersten Schritte in den Dschungel
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Vorgeschichte
Neues wird auf den Ruinen des Alten aufgebaut. Um die Geschichte der Jungle World zu erzählen, kommt man nicht umhin, noch einmal einen Blick in jenen trostlosen, langen Flur einer kleinen linken Tageszeitung in Berlin-Treptow zu werfen, über die man heute eigentlich kein Wort mehr verlieren möchte. Denn aus ihr ist ganz und gar das geworden, was die späteren Jungle-World-Macherinnen und -Macher verhindern wollten, nein, es ist sogar noch viel schlimmer gekommen, als die meisten es je für möglich gehalten hatten. Die Rede ist von der jungen Welt.

Das frühere Zentralorgan der Freien Deutschen Jugend (FDJ) öffnete sich nach der Wende vergleichsweise zügig für die westdeutsche Linke. 1994 leistete Konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza konzeptionelle Hilfe und viele Konkret-Autoren schrieben von da an für die junge Welt. Zunächst war an eine Verbindung von Ost und West gedacht worden, aber sie funktionierte nicht ohne Reibungen. Altredakteure verspürten wenig Lust zu experimentieren, und vielen Westlern fehlte die Redaktionserfahrung. Erschwert wurde die Situation dadurch, dass die Post jeden Tag waschkörbeweise Abo-Kündigungen brachte. Nachdem zunächst mit Kathrin Gerlof und Günter Kolodziej ein Ost-West-Duo sich die Chefredaktion teilte, wur­de im November Oliver Tolmein als Chefredakteur eingesetzt. In dieser Zeit entstand der wohl einzigartige Pluralismus der Redaktion, der von antideutschen Hardlinern wie Jürgen Elsässer, über undogmatische Autonome, postmoderne und popkulturelle Linke bis zu DDR-Nostalgikern, DKP-Leuten wie dem späteren Geschäftsführer Dietmar Koschmieder und Nationalbolschewisten wie Werner Pirker reichte.

1995 stellte der Verlag die Produktion ein, angeblich aus wirtschaftlichen Gründen. Doch viele Beteiligte spürten, ja wussten, dass es Potenzial genug für einen zweiten Versuch gab. Wenige Tage später beschloss deshalb der wagemutige Teil der Redaktion, auf eigene Faust weiterzumachen. Klaus Behn­ken wurde Chefredakteur, Koschmieder Geschäftsführer der »Zeitung im Besitz der Belegschaft«. Zwei Jahre produzierte diese völlig heterogene Redaktion die junge Welt – in einer Zeit, in der vor dem Hintergrund der rassistischen Pogrome in Hoyerswerda und Rostock und dem nationalen Wiedervereinigungstaumel die Linke sich mehr und mehr zerstritt und auseinanderdriftete. Im Nachhinein betrachtet, ist es kein Wunder, und alles andere wäre eine Katastrophe gewesen, wenn diese Trennung der Wege nicht auch in der jungen Welt stattgefunden hätte. Dennoch waren es die DDR-Verklärer und Nationalbolschewisten, die im Früh­ling 1997 den Bruch herbeiführten, wofür man ihnen im Nach­hinein politisch betrach­tet dankbar sein muss. Und auch die Jungle World wäre sonst nicht entstanden.

Der Bruch
Denn hier beginnt die ungewöhnliche Geschichte dieser ungewöhnlichen Wochenzeitung. Sie beginnt damit, dass Dietmar Koschmieder eine nicht ganz unrichtige Beobachtung machte: In der Redaktion der jungen Welt habe »eine antifaschistische und antinationale Strömung ein Über­gewicht bekommen«. Dieser Einfluss müsse zurückgedrängt werden. Doch dabei ver­kalkuliert er sich. Die »Strömung« ist bereits so stark, dass er mit seinem Vorhaben fast die gesamte Redaktion gegen sich aufbringt. Am 15. Mai beruft Koschmieder eine Belegschaftsversammlung ein und verkündet eine Umstrukturierung der Chefredaktion, später dann die Absetzung des Chef­redakteurs Klaus Behnken. Koschmieder argumentiert, dass der gegenwärtige Kurs der Zeitung die Existenz des Betriebs gefährde, die wirtschaftliche Situa­tion lasse ihm keine andere Wahl. Er droht: Wenn seine Umstrukturierungsmaßnahme nicht ergriffen werde, müsse und werde er als Geschäftsführer Konkurs anmelden.

Es ist nicht nur die zu diesem Zeitpunkt in ihren Ausmaßen noch nicht richtig absehbare geplante Kursänderung, die die Belegschaft gegen Kosch­mieder aufbringt, sondern auch die Selbstherrlichkeit, mit der der Geschäftsführer eines sich bislang als selbstverwaltet verstehenden Kollektiv-Betriebs solche Entscheidungen fällt. Die Redaktion lehnt seine Pläne ab und will die Sache vertagen, um in Ruhe zusammen zu beraten, wie mit der Situa­tion umzugehen ist. Koschmieder lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass sein Vorhaben kein Vorschlag ist, sondern eine Ankündigung.

Als er merkt, dass sein autoritärer Eingriff scheitern könnte, versucht er, seiner Entscheidung nachträglich eine demokratische Legitimation zu verpassen. Er lässt eine Vertrauensabstimmung zur Unterstützung seines Plans durchführen, den er mit einem weiteren Ultimatum unterfüttert: »Behnken geht oder ich gehe.« Der größte Teil der 41 Beschäftigten von Verlag und Redaktion beteiligen sich aus Protest nicht an der Abstimmung. Von den 17, die ihren Wahlzettel abgeben, stimmen 14 für Koschmieder. Der wertet das Ergebnis als Zustimmung zu seinem Plan und »beurlaubt« Klaus Behnken.

Nun beginnen Tage voller Gespräche, Verhandlungen, Sitzungen, Streit. Viele im Hause bemühen sich, die Wogen zu glätten, nach Möglichkeiten für Kompromisse zu suchen, aber Koschmieder will keine Kompromisse. Der Konflikt polarisiert sich an der Absetzung Klaus Behnkens, obwohl allen bewusst ist, dass es um viel mehr geht. Am 20. Mai kommt die Redaktion zu einer »Notsitzung« zusammen. Da Koschmieder sich als nicht verhandlungsbereit erweist, wird beschlossen, in den Streik zu treten.

Der Streik
Am 21. Mai tritt die gesamte Redaktion mit Ausnahme von zwei Redakteuren, Holger Becker und Werner Pirker, die sich der Position der Geschäftsführung angeschlossen haben, in den Streik und besetzt die Redaktionsräume. Im Archiv und im Interviewzimmer werden Isomatten ausgerollt, man sitzt den ganzen Tag zusammen und berät, wie es weitergehen soll. Zwei Wochen wird diese Besetzung dauern, eine Zeit voller Anspannung, Diskussionen, Kämpfe, Tränen, aber auch bizarrer und lustiger Momente. Solidaritätsbekundungen aus aller Welt treffen ein, man rückt zusammen, zugleich wächst die Feind­se­ligkeit zwischen den streitenden Parteien.

Koschmieder, Pirker, Becker und Mitarbeiter des Verlags, denen der Zutritt zu den Redaktionsräumen verwehrt wird, ziehen in ein provisorisches Büro zwei Stockwerke tiefer. Sie versuchen, die junge Welt weiter herauszugeben, denn klar ist, wenn die Zeitung ein paar Tage hintereinander nicht erscheint, wird das ihr Ende sein. Auch die streikende Redaktion will weitermachen, hat aber weder Zugriff auf die Abonnentenadressen noch Möglichkeiten für den Druck und den Vertrieb. Die hat Koschmieder, dem wiederum eine Redak­tion fehlt.

Am 22. Mai wird bekannt, dass Andreas Köhn, der stellvertretende Landesvorsitzende der IG Medien, statt sich auf die Seite der Streikenden zu stellen, versucht, innerhalb der Redaktion Streikbrecher für Koschmieder anzuwerben. Ein entsprechender Rekrutierungsversuch wird auf einem Anrufbeantworter aufgezeichnet. Am 22. Mai erscheint die erste Streikzeitung mit dem Namen jungle World mangels anderer Publikationsmöglichkeiten als Beilage in der taz und im Neuen Deutschland. Die Koschmieder-Fraktion beliefert die Abonnenten von nun an mit »Notausgaben« der jungen Welt. Da ihr der Inhaber der Rech­te für den Titelschriftzug zunächst dessen Verwendung untersagt, greift die junge Welt auf den Schriftzug aus DDR-Zeiten zurück und gibt damit schon einmal einen ersten Eindruck von ihrem neuen politischen Kurs. Behnken schlägt vor, als Chefredakteur zurückzutreten, um »psychische Blockaden« aus dem Weg zu räumen und einen neuen Chefredakteur aus der Mitte der Redaktion wählen zu lassen. Koschmieder erklärt, er höre sich dergleichen nicht mehr an.

Am 23. Mai findet eine gemeinsame Sitzung von Aufsichtsrat und Vorstand der Genossenschaft LPG statt, die seit ein paar Monaten exis­tiert, um mittelfristig den Zustand zu beenden, dass Koschmieder als Geschäftsführer rechtlich Alleineigentümer der Zeitung ist. In der Genos­senschaft, in der sehr schnell Ost-Kommunisten und alte Stasi-Kameraden durch Anteilskauf ihren Einfluss festigten, verhindern die Mehrheitsverhältnisse im Vorstand zunächst eine Intervention in den Konflikt. Es wird eine Vollversammlung der LPG beschlossen. Am 23./24. Mai erscheint eine doppelseitige Streikzeitung jungle World, die von Hand verteilt wird. Am 24. Mai findet ein Schlichtungs­gespräch in den Räumen der IG Medien unter Leitung des politischen Vermittlers Thomas Kuczynski statt. Als gewerkschaftlicher Vermittler fungiert Günter Frech. Das Gespräch dauert neun zähe Stunden und endet ohne Ergebnis. Frech fasst düpiert zusammen: »Der Sinn von Vermittlungsverhandlungen war der Seite des Verlags nicht vermittelbar.« Das Gespräch soll am 25. Mai fortgesetzt werden, aber Koschmie­der lässt den Termin platzen.

Der Putsch
Am 25. Mai kommt es zum Putsch in der LPG-Genossenschaft. Zwei von drei Aufsichtsräten aus dem Umfeld der Kommunistischen Plattform der PDS erklären den Vorstand der LPG für entlassen und beanspruchen die Führung der Genossenschaft. Dem Vorstand wird der Zugriff auf die LPG-Akten verweigert, Koschmieder nimmt die Akten an sich. Hermann L. Gremliza schaltet sich am 26. Mai in den Konflikt ein und unterbreitet einen Vermittlungsvorschlag, dem die Redaktion zustimmt. Koschmieder antwortet nicht.

Am 27. Mai versucht die Redaktion noch einmal, zu einem Kompromiss zu kommen. Sie schlägt vor, dass sowohl Koschmieder als auch Behnken ihre Ämter zur Verfügung stellen und sich der Rest neu zusammenrauft. Koschmieder lehnt ab. Der vorletzte DDR-Ministerpräsident, Hans Modrow, versucht am 29. Mai, in Einzelgesprächen zwischen den Parteien zu vermitteln. Modrow war von der streikenden Redaktion als Vermittler vorgeschlagen worden, weil sie damit rechnete, dass er für die Koschmieder-Gruppe akzeptabel sei und vielleicht Einfluss haben könne. Koschmieder erklärt, dass er keine weitere Vermittlung wünscht. Modrow resümiert: »Koschmieder verhält sich im gegenwärtigen Streit als Eigentümer und will seine Position durchsetzen; dies ist jedoch keine Konfliktlösung.«

Das Ende und der Anfang
Am 31. Mai erscheint die zweite Ausgabe der doppelseitigen Streikzeitung jungle World. Am selben Tag findet in der TU Berlin eine Podiumsdiskussion im Rahmen des Benno-Ohnesorg-Kongresses mit Koschmieder und Jürgen Elsässer statt. Das Gespräch dauert und dauert, aber Koschmieder erklärt, es gebe für ihn keine Kompromissmöglichkeit – und bekommt eine Torte ins Gesicht. An eine Übereinkunft glaubt inzwischen kaum noch jemand. Bei den zahlreichen Verhandlungen und Gesprächen mit Anwälten und der IG Medien geht es nur noch um etwaige Abfindungen und rechtliche Fragen.

Vor den Toren von Verlag und Redaktion findet eine Kundgebung gegen Koschmieder statt, unterstützt von vielen radikalen Linken, vor allem aus dem autonomen Spektrum und der »IG Medien«-Jugend. Es wird versucht, durch eine Blockade die Auslieferung der im selben Haus gedruckten Notausgabe der jungen Welt zu verhindern. Die Redaktion wird in diesen Tagen von vielen Unterstützerinnen und Unterstützern besucht, die unter anderem auch einen netten Cocktail-Abend für die Streikenden organisieren.

Am 2. Juni stecken bei den streikenden Redakteurinnen und Redakteuren die Kündigungen im Briefkasten, die Begründung lautet: »Arbeitsverweigerung«. Nun ist endgültig klar, dass es keine Einigung mehr geben wird. Am 3. Juni veranstaltet die Redaktion im Berliner Kato eine jungle-World-Release-Party. Dabei werden die in der Redaktion aufgefundenen Plastiksandalen (»Cubaletten«) von Werner Pirker versteigert. Am folgenden Tag, also dem 4. Juni, erscheint die erste 48seitige jungle World erstmals bundesweit am Kiosk und in linken Buchläden. Datiert als Nr. 5, »herausgegeben von den Redakteurinnen und Redakteuren der Tageszeitung junge Welt«, erstellt in den Räumen der jungen Welt.

Am 6. Juni erklärt die Redaktion die Besetzung und den Streik für beendet und verlässt, von zwei Ausnahmen abgesehen, die Redaktionsräume der jungen Welt für immer. Die Produktionsmittel lässt die Redaktion zurück und fegt sogar noch den Boden, bevor sie die Tür hinter sich zuzieht. Die Redakteurinnen und Redakteure richten sich in der Wohnung Klaus Behnkens, der ehemaligen Ton-Steine-Scherben-WG, provisorisch ein und fangen an, ohne Geld und mit geliehenen Computern, eine regelmäßige Wochenzeitung zu produzieren. Am 25. Juni erscheint die zweite 48seitige Jungle World bundesweit. Datiert als Nr. 6, »herausgegeben von der Redaktion Jungle World«. Die unmöglichste Wochenzeitung ist geboren.