»Ich fühle nichts«

Der Tag rückt näher, an dem Noël Martin sterben will. Seit ihn vor elf Jahren Branden­burger Neonazis angegriffen haben, ist er querschnittsgelähmt. von anke schwarzer

Als der Wagen anhielt, eilten Polizisten herbei. »Weiter, weiter«, riefen sie. Doch die Rampe wurde schon ausgefahren, Noël Martin fuhr in seinem Rollstuhl herunter. Die Polizisten drängten. »Die Kutsche der Königin kommt«, schrien sie. Martin trug Frack, Krawatte und Zylinder, an seinem Rollstuhl wehten die jamaikanischen Farben Schwarz, Grün, Gelb. Er schaute in die Menge, in der leuchtende Kleider und große Hüte das Bild bestimmten. Alle warteten auf die Königin. »Wissen sie denn nicht, dass der König angekommen ist?« fragte Martin schelmisch.

Das war im vorigen Jahr, als sein Pferd »Baddam« den ersten Preis beim traditionsreichsten Pferderennen Englands, dem Royal Ascot, gewann. Ein Traum ging in Erfüllung, er zeigte es den Aristokraten. Champagner floss, und es wurde gefeiert.

Nun möchte der König von Ascot sterben. Aufgeplatzte Hämorrhoiden, eine stinkende Druckwunde, die mit Eis gekühlt und mit dem Föhn belüftet wird, um das Gewebe anzuregen. Vom Pflegedienst im Stich gelassen, in den eigenen Exkrementen sitzend, die Batterie des Rollstuhls leer. Nach jedem Zug an einer Zigarette, nach jedem Schluck Wasser fragen müssen. Unvermitteltes Schwitzen und Krämpfe, die seine Beine in die Luft schleudern. Das morgendliche Aufstehen dauert mindestens vier Stunden.

In seiner Biographie »Nenn es: mein Leben« schildert Martin nicht nur seine Kindheit in Jamaika, den Rassismus in England, seine große Liebe zu Jaqueline Shields und den großen Tag in Ascot. Schonungslos beschreibt er auch sein Leben nach dem 16. Juni 1996, als ihn im brandenburgischen Mahlow junge Neonazis angriffen. Nach Wochen im Koma und mehreren Operationen stand fest: Noël Martin ist vom Hals ab gelähmt. Die damals 17 und 24 Jahre alten Täter wurden zu fünf und sieben Jahren Haft ver­urteilt. Beide leben mittlerweile wieder in Mah­low.

»Ich fühle nichts. Wenn du nicht fühlen kannst, kannst du die Welt nicht berühren. Und wenn du sie nicht berühren kannst, bist du kein Teil von ihr. Du kannst nur zusehen, wie die Welt an dir vorbeizieht«, sagt Martin. Viele Jahre habe er durch­gehalten, auch nachdem seine Frau vor mehr als sieben Jahren gestorben war. Am 23. Juli, an seinem 48. Geburtstag, wollte er ursprünglich in der Schweiz einen Giftcocktail nehmen und sterben. Warum er das öffentlich angekündigt hat? »Man hat mich eben gefragt, was ich in der nächsten Zeit zu tun gedenke, und ich habe geantwortet«, sagt Martin klar und bestimmt. Den Termin könne er aber nicht einhalten, denn vieles, vor allem Vermögensfragen rund um sein Haus und das Grundstück, wo seine Frau begraben liegt und auch er beigesetzt werden möchte, müssten noch geregelt werden. »Was andere in zwei Tagen erledigen, dauert bei mir zwei Wochen«, erklärt Martin. »Aber meine Entscheidung steht.«

Was soll man noch schreiben über Martin und seinen angekündigten Freitod? Er ist kein vergessenes Opfer – im Gegensatz zu den vielen namen­losen und fast unbekannten Arslans, Yebo­has, Gomondais, Yusufoglus und Guendouls. Er fuhr zur Demonstration nach Mahlow, schrieb seine Lebensgeschichte auf, gründete eine Stiftung für Jugendbegegnungen, trat in Talkshows auf. »Wenn die Medien denken, dass das News sind, dann berichten sie eben darüber«, sagt Martin. Er hat noch viele Ideen: »Es müsste ein großes Treffen abgehalten werden, auf dem Opfer und Angehörige zusammenkommen und für ihr Anliegen eintreten.« Könnte er noch einmal nach Deutschland fahren, würde er sich darum bemühen, obwohl es sehr schwer sei, die Betroffenen zu so etwas zu bewegen. Viele seien bereits abgeschoben, andere seien mit dem Kampf um ihre Existenz ausgelastet, manche könnten oder wollten sich nicht öffnen, weil sie um ihr Leben fürchteten und Angst hätten.

Vielleicht könnte man ihn als lebendiges Mahn­mal für die von Nazis und Rassisten Ermordeten, Verletzten und Gedemütigten bezeichnen? Vielleicht sollte man sich darüber auslassen, dass er einem gefährlichen Diskurs Nahrung gibt, wenn er sein eingeschränktes Leben als lebensunwert bezeichnet? Oder könnte man vielleicht darüber schreiben, dass er mit seinem Freitod das vollzieht, was die Nazis in Mahlow wollten? Aber sollte er deshalb davon ablassen?

»Jedem Menschen steht es natürlich frei, sich das Leben zu nehmen. Auf der anderen Seite stehen aber die gesellschaftlichen Widersprüche und die Notwendigkeit, dafür zu sorgen, dass Einzelne nicht in die Situation gebracht werden, den Freitod als Ausweg zu sehen«, sagt Gesa Köbberling. Sie tue sich aber schwer damit, die Sache zu beurteilen, zumal sie Martin nicht kenne. Köbberling ist Mitarbeiterin der Opferperspektive Brandenburg, einer Beratungsstelle für Opfer rechtsex­tremer Gewalt und deren Angehörige, die erst einige Jahre nach dem Angriff auf Martin entstanden ist.

Nach ihren Angaben hat es im vorigen Jahr erneut viele Angriffe in Blankenfelde-Mahlow gegeben, gerade auch in der Bahnhofsgegend. »Das Problem besteht nach wie vor und sehr massiv.« Die Opferberatungsstellen hätten aber Teile der Polizei, der Justiz und der Behörden in den vergangenen Jahren sensibilisiert. Äußerungen wie »Was geht der Afrikaner auch nachts allein durch den Park?« kämen nicht mehr so schnell über die Lippen von Bürgermeistern oder Richtern. Dennoch würden Opfer nach wie vor allein gelassen, und das Thema werde klein geschwiegen, um dem Ruf der Stadt nicht zu schaden, sagt Köbber­ling.

Auch um die Präventions- und Aufklärungsarbeit ist es schlecht bestellt. Zwar hat die Bundesregierung ihre Zahlungen an die Opferberatungsstellen nach deren Protest doch nicht, wie beabsichtigt, eingestellt. Aber das neue Bundesprogramm, über das die Opferberatungsstellen ab Juli 2007 zum Teil finanziert werden, setzt in­halt­lich andere Akzente und beschränkt sich auf zeit­lich eng begrenzte Beratungen. Das Programm heißt: »Förderung von Beratungsnetzwerken – Mobile Kriseninterventionsteams gegen Rechtsextremismus«. Antifaschistische Blauhelmeinsätze, um No-Go-Areas wieder begehbar zu machen, sind damit freilich nicht gemeint.

Über die nach wie vor bestehende Bedrohung für Migranten spricht Martin so ruhig und zuversichtlich wie über sein Rennpferd »Baddam«. »Es braucht Zeit«, sagt er und hat schlechte Nach­richten für die Nazis: »Von den sechs Milliarden Menschen auf der Welt sind etwa fünf Milliarden coloured. Irgendwann werden sie sich alle miteinander vermischen.«