Indianer im Krieg

1977 wird 30. Drei Jahrzehnte danach wird die italienische Bewegung von 1977 in aufwändigen Studien untersucht, in Romanen behandelt, in Polit-Talkshows diskutiert. Mal stehen die politischen Inhalte im Vordergrund, mal die kulturelle und existentielle Revolution – die in Italien nicht 1968, sondern eben 1977 mit ihrer ganzen Radikalität ausbrach –, deren berühmteste Parole lautete: »Wir wollen alles!« Die Bilder aus diesem Jahr, die auch heute noch präsent sind, bunte Stadtindianer und bewaffnete Autonome, erzählen von Poesie und Krieg. Ein Versuch der neuerlichen Annäherung. von sergio bologna

Von »Settantasette« (1977) redet man in Italien, als sei es eine Person. Es war das Jahr, in dem sich das politische Denken im Vergleich zum vorherigen Jahrzehnt beachtlich weiterentwickelte. Der Versuch, die Bedeutung dieses Jahres zu begreifen, geht für mich von der Feststellung aus, dass die Bewegung damals anfing, den Übergang des fordistischen Systems in die New Economy und den Postfordismus zu reflektieren. Aber es handelte sich nicht um eine ausschließlich reaktive Haltung, die bereits vorhandene Phänomene untersuchte und analysierte. Das politische Denken dieser Jahre antizipierte in gewisser Weise den Postfordismus, es war Bestandteil der kapitalistischen Transformation, die Ende der siebziger Jahre stattfand. Die Settantasette-Bewegung ist nie wirklich im Mainstream angekommen, denn ihre Historisierung hat sich immer als problematisch erwiesen.

Das kann man nicht verstehen, wenn man die Doppeldeutigkeit der Bewegung von 1977 nicht begreift. Damals ließ die Bewegung die historische Perspektive des Kommunismus hinter sich, sie nahm die Krise der kommunistischen Ideologie vorweg. Sie stellte die Frage der Freiheit, der Autonomie der Subjekte und ihrer Bedürfnisse. Sie setzte Bedürfnisse an die erste Stelle. 1977 war ein Jahr der Befreiung. Die wichtigste Befreiung, die nicht nur postuliert, sondern auch praktiziert wurde, war die von der Arbeit, insbesondere von der »normierten« Arbeit, die sich ein ganzes Leben lang hinzieht und die aus Konstanten wie Ort, Zeit, Aufgaben und Lohn besteht, die von anderen bestimmt werden.

Bedeutet dies, dass die politischen Theorien, die in diesem Jahr zum Thema Arbeit entwickelt wurden, der Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen den Weg ebneten und damit die Voraussetzungen für die heutige Situation von Millionen von prekären Arbeitnehmern schufen, sowie für die dramatischen sozialen Ungleichheiten, die daraus folgen? Meiner Meinung nach nicht. Die von der Settantasette-Bewegung erarbeiteten politischen Begrifflichkeiten haben die Menschen auf die Transformationen im kapitalistischen System vorbereitet, die Aktivisten haben versucht, eine gedankliche Werkzeugkiste zusammenzustellen, um diese Transformationen zu begreifen und auf sie einzuwirken.

Die Deregulierung des Arbeitsmarkts wurde in Italien erst in den neunziger Jahren besiegelt, zuerst mit den Tarifverträgen von 1993 und dann mit dem Arbeitsgesetz der Mitte-Links-Koalition im Jahr 1997. Dieses wurde später durch das berühmte »Biagi-Gesetz« der Regierung Berlusconi ergänzt – nicht aber verschärft, wie ein Großteil der Bewegung gegen prekäre Arbeitsverhältnisse in Italien behauptet. Dieses Gesetz wird fälschlicherweise alleine für die Umstrukturierung auf dem italienischen Arbeitsmarkt verantwortlich gemacht, die eine ganze Reihe prekärer Arbeitsverhältnisse erst möglich machte.

Dieses Gesetz ist aber auch aus einem anderen Grund bekannt: Sein Verfasser, der Wirtschafts­professor und Regierungsberater Marco Biagi, wurde 2002 von einem Kommando der »Neuen Roten Brigaden« in Bologna erschossen.

Im Jahr 1977 war ich Herausgeber der Zeitschrift Primo Maggio, die sich mit den Themen des Operaismus beschäftigte. Wir verfolgten mit großer Aufmerksamkeit die Klassenkämpfe im Bereich von Industrie und Logistik (Häfen, Eisenbahn, Flughäfen, Lkw-Transportwesen), während der Großteil der außerparlamentarischen Linken sich für andere Sachen interessierte. Aus diesem Grund beschäftigten wir uns bereits früh mit den ersten Symptomen einer großen Transformation. In diesem Jahr versuchten wir, unsere Erkenntnisse mit Hilfe einer Broschüre, die den Titel Der Stamm der Maulwürfe trug, in der Bewegung zu verbreiten. 30 Jahre später kann man sagen, dass die dort gesammelten Schriften eine gewisse Aktualität behalten haben.

Und was war nach 1977? Die Bewegung lehnte jegliche Form von politischer »Organisation« ab. Sie versuchte, andere Formen zu finden, jenseits der politischen Parteien. Es war eine Bewegung der Antipolitik, die zugleich versuchte, Politik neu zu definieren. Der von Michel Foucault eingeführte Begriff »Biopolitik« spielte dabei eine große Rolle, auch seine Schriften über die »Mikrophysik der Macht« und die »totalen Institutionen«.

Gleichzeitig wurde die politische Szene in den Jahren 1977 bis 1980 von den Roten Brigaden und den mit ihnen rivalisierenden beziehungsweise sie ergänzenden bewaffneten Gruppen vollständig vereinnahmt. Über das Verhältnis dieser Bewegung zur »Gewalt« und zum bewaffneten Kampf, der das politische Klima der folgenden Jahre bestimmte, herrscht bis heute – auch innerhalb der Linken – eine vereinfachende Sichtweise. So wird etwa die Bewegung des Jahres 1977 als notwendige Prämisse für den späteren bewaffneten Kampf gedeutet und damit die Vielfältigkeit und Komplexität dieser Bewegung auch in Hinblick auf die »Gewaltfrage« ausgeblendet, die bereits damals zu endgültigen Spaltungen führte.

Fest steht aber: Der bewaffnete Kampf hatte den Tod des innovativen politischen Denkens zur Folge, das 1977 hervorgebracht worden war.

Die Roten Brigaden und ähnliche Gruppen hatten einen stark paralysierenden Einfluss auf die letzte Phase der Kämpfe der Massenarbeiter (ope­raio-massa), die daran gehindert wurden, neue Formen der Selbstverteidigung gegen die Umgestaltung im kapitalistischen System zu entwickeln. Die Arbeiterkämpfe wurden mit den alten Waffen ausgetragen. Die Niederlage war für die Settantasette-Bewegung gewaltig. Die Repres­sion des Staats brachte Tausende von Menschen in die Gefängnisse. Die so genannten Basisaktivisten wurden durch Sanierungspläne allmählich aus den Fabriken entfernt oder kalt gestellt und isoliert.

Viele Fabrikarbeiter und politische Aktivisten flüchteten, um überleben zu können, in die neuen Formen der Selbständigkeit oder in ein von prekären Jobs bestimmtes Leben, in dem die Grenze zwischen Leben und Arbeiten nicht mehr vorhanden ist. Seitdem ist das antagonistische und libertäre Denken immer diffuser geworden. Ein Zeichen dafür ist, dass der Begriff »Widerstand« immer mehr mit Symbolen der kommunistischen und antifaschistischen Tradition aufgeladen und unkritisch mit den »Befreiungsbewegungen« in Lateinamerika identifiziert wurde.

Ein neues revolutionäres Denken ist in Italien noch möglich, wenn der Bezug zu den radikalen Intuitionen von 1977 nicht verloren geht. Wer sich auf die Tradition des Operaismus bezieht, wird die neuen Formen untersuchen müssen, mit denen die postfordistische Arbeit sich organisiert. Heute, wie vor 30 Jahren, sind die Arbeitsverhältnisse das Hauptproblem.