Profit ohne Ende

Debatten über den »Sozialismus des 21. Jahr­hunderts« haben derzeit Konjunktur. Doch wird dieses Jahrhundert zunächst eher eines des Kapitalismus als des Sozialismus werden. Nicht, weil mal wieder ein Aufschwung existiert. Prosperität und Krise wechseln sich im Kapitalismus beständig ab, doch stehen hinter diesen Aufs und Abs Tendenzen zur Ausdehnung wie auch zur Weiterentwicklung des Kapitalismus, die noch längst nicht an ihr Ende gekommen sind. von michael heinrich

Der moderne, industrielle Kapitalismus begann im 18. Jahrhundert in England. Die nachholende Entwicklung in Frankreich, Deutschland und den USA stellte die englische Hegemonie aber bereits am Ende des 19. Jahrhunderts in Frage. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich der Kapitalismus auch in Lateinamerika und Süd­europa, während mit der russischen und später mit der chinesischen Revolution ein großer Teil des Erdballs dem direkten Zugriff des Kapitals entzogen wurde. Staatliche Entwicklungs­diktaturen trieben dort eine Industrialisierung voran, die nicht weniger menschliche Opfer kostete als die Entwicklung des Kapitalismus im Westen.

Nach zwei Weltkriegen, einer Weltwirtschaftskrise, die alle bisherigen Krisen in den Schatten stellte, nach Nationalsozialismus und Holocaust, etablierten sich die USA als kapitalistische Hegemonialmacht mit der Sowjetunion als Gegenspieler. Besondere wirtschaftliche und politische Bedingungen führten in Westeuropa und Nord­amerika zwischen 1955 und 1974 zu einer beispiel­losen Prosperität, die auch zur kapitalistischen Entwicklung Japans beitrug. Während dieses »Wirtschaftswunders« stiegen die Realeinkommen stark an, und sozialstaatliche Leistungen wurden ausgebaut. Der Kapitalismus schien zumindest in den Metropolen Krise und Elend überwunden zu haben.

Doch in den späten siebziger und achtziger Jahren wurde deutlich, dass die Weltwirtschaftskrise von 1974/75 nicht bloß eine Unterbrechung dieses Wirtschaftswunders darstellte. Die kapitalistische Entwicklung blieb krisenhaft, und wie stets wurde der Ausweg aus der Krise neben verstärktem Export und beschleunigter technischer Entwicklung vor allem in einer erhöhten Ausbeutung der Arbeitskraft gesucht. Die Realeinkommen stagnierten oder gingen zurück, sozialstaatliche Leistungen wurden immer weiter eingeschränkt.

Die Wirtschaftswunderzeit war bloß eine Episode in der Entwicklung des Kapitalismus. Doch sie hat sich vor allem in Deutschland tief ins kollektive Bewusstsein eingegraben. Noch immer herrscht im eher linken Teil des Parteienspek­trums der Glaube vor, durch eine »richtige« Wirtschaftspolitik könne Vollbeschäftigung herbeigezaubert werden, der »entfesselte« Kapitalismus müsse nur wieder anständig reguliert werden. Aber auch bei Teilen der etwas radikaleren Linken beherrscht die Wirtschaftswunderzeit die Wahrnehmung, gilt ihnen die Entwicklung seither doch als Absturz in Richtung Endkrise oder zumindest als Niedergangsphase des Kapitalismus – als sei es jemals die Bestimmung des Kapi­talismus gewesen, Vollbeschäftigung und Wohlstand unters Volk zu bringen. Krise und Arbeitslosigkeit sind keineswegs Zeichen kapitalistischen Niedergangs, sondern kapitalistischer Normalität.

Der Ausdehnung des Kapitalismus ging jedenfalls munter weiter, vor allem in Ostasien. Dem Aufstieg der vier »kleinen Tiger« (Taiwan, Hongkong, Singapur, Südkorea) in den siebziger und achtziger Jahren folgten zu Beginn der neunziger die vier »kleinen Drachen« (Thailand, Indonesien, Malaysia, Philippinen).

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion änderte sich das geopolitische Koordinatensystem. Einerseits hatte das westliche Kapital nun direkten Zugriff auf Osteuropa und Russland. Anderer­seits hatten die ostasiatischen Schwellenländer als Bollwerk gegen den »Kommunismus« ausgedient. Als dort 1997/98 eine gewaltige Spekula­tionsblase platzte und erhebliche industrielle Überkapazitäten sichtbar wurden, störte der Absturz dieser Ökonomien die führenden kapitalistischen Länder nicht weiter. Einen geopolitischen Gegner, dem dieser Absturz in die Hände hätte spielen können, gab es nicht mehr.

Vor diesem Hintergrund bildete sich in den neunziger Jahren ein globaler Konkurrenzkapitalismus heraus, der von einem internationalisierten Finanzsystem angetrieben wurde, das sich in den siebziger Jahren entwickelt hatte und seither ständig angewachsen war. Weltweit wurden nicht nur neue Märkte erschlossen, sondern über internationale Wertschöpfungsketten auch alle Möglichkeiten der Profitsteigerung ausgenutzt.

Zugleich erreichte das neoliberale Credo vom schlanken Staat ohne Schulden den Höhepunkt seiner Wirksamkeit. In immer neuen Steuersenkungsrunden wurden Unternehmen und obere Einkommensgruppen entlastet und die staatlichen Haushalte unter einen permanenten Spar­zwang gestellt, der eine Kürzung sozialer Leistun­gen und die Privatisierung staatlicher Unternehmen erforderte.

Für das Kapital verbesserten sich die Verwertungsbedingungen, und neue Anlagesphären boten sich an: nicht nur privatisierte Staatsbetriebe, sondern auch die privatisierte Daseinsvorsorge (Krankenversicherung, Altersvorsorge). Die von den Bürgern permanent geforderte »Eigenverantwortung« bedeutete lediglich, dass sie mehr zahlen müssen und in neuen Sektoren Profite gemacht werden können. Die Weiterentwicklung des Kapitalismus, die Unterwerfung immer neuer Lebensbereiche unter die Logik der Profitmaximierung ist auch in bereits entwickelten kapitalistischen Ländern im Gang.

Mit China und Indien machten sich in den neunziger Jahren zwei neue kapitalistische Mächte deutlich bemerkbar, die mit 1,3 bzw. 1,1 Milliarden Einwohnern zusammen mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung umfassen. Beide Länder hatten über Jahre hinweg enorm hohe Wachstumsraten. Während in China die Masse der Arbeitskräfte unter Bedingungen wie im Frühkapitalismus ausgebeutet werden, so dass der Weltmarkt mit Billigprodukten überschwemmt werden kann, ist es Indien gelungen, durch enorme Investitionen ins Bildungssystem auch eine große Zahl von hochqualifizierten und trotzdem billigen Arbeitskräften (Ingenieure, Softwareentwickler, Pharmazeuten) hervorzubringen, die für ausländische Investoren besonders attraktiv sind. Gleichzeitig haben sich die Einkommensunterschiede, wie auch die Unterschiede in der Entwicklung von Regionen in beiden Ländern erheblich verschärft.

Die kapitalistische Entwicklung Indiens und Chinas steht erst am Anfang; sie dürfte zukünftig einen maßgeblichen Einfluss auf Weltwirtschaft und Weltpolitik haben. Wenn sich dort in den nächsten Jahrzehnten eine kaufkräftige Mittelschicht herausbildet, die lediglich 20 bis 30 Pro­zent der Bevölkerung umfasst, während der Rest in Armut lebt, dann ist allein dies ein Markt von 600 bis 700 Millionen Menschen, der weit größer sein wird als die erweiterte EU. Gleichzeitig sichert das riesige Heer von Armen auf Jahrzehnte hinaus einen Zustrom von billiger Arbeitskraft. Für das Kapital mag im 21. Jahrhundert alles Mög­liche knapp werden, billige Arbeitskräfte werden nicht dazu gehören. Die Mehrwertrate wird weltweit zunehmen – der »relative« Mehrwert steigt mit der technologischen Entwicklung, der »absolute« Mehrwert mit der Verlängerung der Arbeitszeit und/oder der Senkung der Reallöhne.

Dass Beschäftigte, wie jetzt bei der Telekom, auch im Aufschwung Verlängerungen der Arbeitszeit und zusätzlich Lohneinbußen hinnehmen müssen, wird in Zukunft keine Ausnahme mehr sein. Es wird nur weniger auffallen. In Deutschland gab es den größten Arbeitsplatzzuwachs bei der Zeitarbeit. Um hier Verschlechterungen durchzusetzen, muss man nicht erst Tarife ändern und entlassen, es genügt, Beschäftigungsverhältnisse nicht zu verlängern.

Ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse breiten sich aus, doch gaukelt die Rede vom »Prekariat« eine nicht vorhandene Gemeinsamkeit vor. Die gering qualifizierte Frau, die zwischen dem »Minijob« an der Supermarktkasse und diversen Putzjobs pendelt, hat mit dem in wechselnden Drittmittelprojekten beschäftigten Akademiker nicht viel gemeinsam.

Die Unterschiede werden nicht nur innerhalb sondern auch zwischen den Ländern zunehmen. Armut wird in Westeuropa auch in den nächsten Jahren noch etwas anderes bedeuten als in den Elendsquartieren der Schwellenländer. In Ländern wie Deutschland werden die überflüssigen Arbeitskräfte vielleicht durch ein »bedingungsloses Grundeinkommen« über Wasser gehalten werden: ein Einkommen auf dem Niveau von Hartz IV, bei dem die aufwändige »Bedürftigkeitsprüfung« wegfällt und mit dem dann der Abbau aller weiteren sozialstaatlichen Leistungen gerechtfertigt wird.

Den USA als einziger Supermacht stehen eine Reihe von aufstrebenden Mittelmächten gegen­über: die BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) sowie die mal mehr, mal weniger einheitlich auftretende EU. In internationalen Institutionen wie der WTO haben die Konflikte bereits zu einer teilweisen Lähmung geführt, der IWF hat in den vergangenen Jahren einen erheblichen Bedeutungsverlust erfahren.

Konkurriert wird aber nicht nur um knapper werdende Ressourcen wie Öl, sondern auch um das Weltgeld. Der Dollar als Weltgeld ermöglicht den USA eine riesige Verschuldung, die nicht nur zu ihrem Wohlstand beiträgt, sondern auch die Finanzierung eines Militärhaushalts ermöglicht, der so groß ist wie die Militärausgaben der gesamten übrigen Welt zusammen. Mit der wirtschaftlichen Stärke und dem militärischen Drohpotenzial kann dann wieder die Rolle des Dollars gestützt werden.

Mit dem Euro, dessen Bedeutung als Handels- und Reservewährung stark zugenommen hat, gibt es zum ersten Mal einen potenziellen Konkurrenten zum Dollar. Die weltweit größten Dollarreserven werden wegen ihrer riesigen Export­überschüsse von Japan und China gehalten. Eine auch nur teilweise Umschichtung dieser Reserven in Euro würde den Dollar erheblich schwächen und die hegemoniale Position der USA untergraben. Zwar ist den asiatischen und europäischen Exportländern nicht an einem Absturz der USA gelegen, aber durchaus an deren Schwächung. Dem wird der Hegemon aber nicht tatenlos zusehen. Bereits im letzten Irak-Krieg ging es nicht nur um den Zugang zu billigem Öl, sondern auch um die Verteidigung des Dollars als Ölhandelswährung.