Venezuela und der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«

Das Werkzeug Gottes und seine Mission

Eine ausufernde Staatsbürokratie, Inflation, Verwaltungschaos, Versorgungsmängel und ein sich immer autoritärer gebärdender Ex-Offizier als Präsident. Warum in Venezuela trotz der Einnahmen aus dem Ölgeschäft der Großteil der Bevölkerung arm bleibt und der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« nichts anderes ist als eine karitative Kleptokratie.

Seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist das Erdöl das wichtigste Exportprodukt Venezuelas geworden. Seither bestimmt es das gesamte wirtschaftliche, politische und soziale Leben des Landes. Im Gegensatz zu landwirtschaftlichen Produkten gehörten die Bodenschätze schon damals dem Staat. Als direkter Geschäftspartner der ausländischen Erdölkonzerne verfügte er somit über eine Geldquelle, die von den übrigen wirtschaftlichen Aktivitäten im Lande weitgehend unabhängig war und es bis heute ist. Seit bald 100 Jahren versucht dieser Staat nun, seine Machtposition bei den Verhandlungen mit den transnationalen Ölkonzernen zu verbessern, um ein möglichst großes Einkommen aus dem Ölgeschäft zu erzielen, ohne aber die Produktion und Lieferung des Öls ernsthaft zu gefährden. Dies ist der Kern seines ewigen Antiimperialismus. Wie hart verhandelt wird, welche Konzessionen gemacht werden, das ist der Dreh- und Angelpunkt der Außenpolitik. Das politische Leben wird bestimmt vom Ringen um die Staatsmacht, von der Diskussion um die Haltung gegenüber den Ölkonzernen (bzw. den USA) und um die Verwendung der kassierten Ölrente. Auch die sozioökonomischen Strukturen haben sich historisch in direkter Abhängigkeit vom übermächtigen Staat und von seinen scheinbar unerschöpflichen Geldquellen gebildet. Dies führte auch zu einer frühen Verstädterung in den Verwaltungszentren und den Gebieten, in denen Erdöl gefördert, verarbeitet oder exportiert wird. Heute leben nicht mehr als 15 Prozent der Bevölkerung auf dem Lande.

In Venezuela, wo der Erdölsektor mit einem Prozent der Beschäftigten für 85 Prozent des Exports, 60 Prozent der Staatseinnahmen und 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sorgt, hängen das Einkommen der Bevölkerung und die Profite der Unternehmer maßgeblich von der Verteilung einer Ölrente ab, die einen Teil des weltweiten produzierten Mehrwerts darstellt. Alle Blicke richten sich auf den Staat. Ein Großteil des wirtschaftlichen Lebens besteht darin, sich im Gerangel um staatliches Geld zu behaupten. Und der Staat verteilt: In Form einer ausgedehnten Bürokratie, durch Aufträge, Kredite und Subventionen aller Art und manchmal sogar in Form sozialer Ausgaben. Steigen die Staatseinnahmen entsprechend dem internationalen Erdölpreis explosionsartig an (z.B. durch eine Verdreifachung des Erdölpreises von 1973 bis 1975 oder auch von 2003 bis 2006), so gerät die ganze Gesellschaft in Trance: Die Reichen wollen noch reicher werden, und gut platzierte Leute sehen endlich die Zeit gekommen, um richtig Geld zu verdienen.

Das Gros der Bevölkerung dagegen hofft, dass der Staat sie aus der täglichen Misere erlöst. Unter anderem durch große Investitionen in die Infrastruktur und vielfältige soziale Maßnahmen werden neue Verteilungskanäle geschaffen, die zugleich die Armut lindern können und dazu führen, dass Gruppen von Neureichen entstehen. Stagnieren oder sinken die Erdölpreise, bleibt dennoch vor allem der gewachsene Appetit der Neureichen. Da sie am längeren Hebel sitzen, sind sie in der Lage, ihn zu stillen, indem sie die Staatsausgaben und den Import weiter in die Höhe treiben, während die Bevölkerung in die Röhre schaut. Diesem gesamten Verteilungssystem ist auch die Korruption inhärent. Ein weit verbreitetes Korruptionsnetz, das bei den sich selbst bedienenden Staatsangestellten anfängt und über Mittelsmänner, Subunternehmer, Transporteure, Händler, Gewerkschafter etc. weiter gesponnen wird, erfasst die gesamte Gesellschaft. Die Korruption manifestiert sich ebenso in der Kleinkriminalität, die die Verteilung vor allem in den verarmten Wohnvierteln mitgestaltet und durchschnittlich mehr als 20 Tote am Tag zur Folge hat. Werden die Profite vor allem aufgrund staatlicher Subventionen erzielt, dann sind die üblichen Voraussetzungen des kapitalistischen Ausbeutungsprozesses, wie Investitionen, Produktion oder die Gestaltung der Arbeitsabläufe, zweitrangig. Sowohl im privaten wie im öffentlichen Sektor sind Instandhaltungsmaßnahmen sekundär. Groß angelegte Projekte werden mal stümperhaft, mal gar nicht zu Ende geführt. Nicht selten verrotten Maschinen, Infrastrukturen und Gebäude. Es verwundert nicht, dass noch heute etwa zwei Drittel der Lebensmittel importiert werden müssen. Als Ende der siebziger Jahre die staatlichen Ausgaben weiter stiegen, obwohl der internationale Erdölpreis stagnierte, geriet auch Venezuela in die Schuldenfalle. In den achtziger Jahren wurde die Hälfte der Bevölkerung zu reinen Beobachtern degradiert, während diejenigen, die direkten Zugang zum Staat hatten, sich um so gieriger bedienten. Doch 1989 platzte den Ausgegrenzten der Kragen: Sie hatten das Vertrauen in den Staat und die Politiker verloren. Drei Tage lang bediente sich die marginalisierte Bevölkerung direkt aus den Regalen der Läden und aus den Warenlagern und drohte, alles kurz und klein zu schlagen. In den Tagen darauf führten die Polizei und die Armee Razzien in den armen Wohnvierteln durch und setzten dem Treiben gewaltsam ein Ende: Offizielle Quellen gaben damals ca. 300 Tote an, inoffizielle meinen, dass es zehnmal so viele gewesen sein könnten. So endete zunächst der so genannte Caracazo (alles hatte in der Hauptstadt Caracas angefangen).

Danach waren beide Kontrahenten erschrocken und gelähmt. Die Herrschenden betrieben zögerlich weiter ihre politischen und ökonomischen Geschäfte und gaben vage soziale Versprechen. Doch die verarmte Bevölkerung misstraute den Beteuerungen und fraß ihre Wut in sich hinein, ohne jedoch die Grundlage der eigenen Misere anzupacken – nämlich die Entscheidungsmacht über Produktion und Verteilung sowohl dem Staat als auch den privaten Unternehmen streitig zu machen. Linksnationalistische Tendenzen hat es bei Studenten, Intellektuellen und Militärs in Venezuela seit eh und je gegeben. Sie meinten, dass zu viel Geld an eine parasitäre Bourgeoisie verschwendet werde und mehr aus dem Erdölgeschäft herauszuholen sei, wenn man sich dezidierter gegen die Interessen der USA stellen würde. So wahr es ist, dass sie entschiedene Gegner einer Bourgeoisie waren, die von der Gunst des venezolanischen Staats abhing und die Macht im Staat für sich beanspruchte, so stimmt es auch, dass sie mit der Abschaffung der Lohnarbeit und des Staats nichts am Hut hatten. Solange die Erdölrente, wenn auch in sehr unterschiedlichen Anteilen, bis in die letzten Winkel der Gesellschaft drang, konnten die Linksnationalisten keine nennenswerte Unterstützung in der Bevölkerung gewinnen. Der »Caracazo« zeigte, dass sich in dieser Hinsicht die Lage grundsätzlich geändert hatte: Die Ausgegrenzten, die nicht wussten, wie sie von einem Tag auf den andern überleben sollten, und von den staatlichen Institutionen so gut wie ignoriert und allesamt mehr oder minder als potenzielle Kriminelle behandelt wurden, waren empfänglich für einen Diskurs, der den totalen Bruch mit den verhassten »Reichen« und der vor sich hin verwaltenden Staatsbürokratie versprach, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu berücksichtigen und die Armen wieder in die Gesellschaft zu integrieren, sie also in die Mechanismen der Verteilung des Staatsgelds einzubeziehen. In der Bevölkerung wuchs das Vertrauen in die Politik wieder, und nach dem Wahlsieg von Chávez im Jahr 1998 auch das Vertrauen in die Institutionen des Staats – unter der Bedingung, dass dieser ein neues Gesicht bekam. In diesem Sinn hat der »Kommandant« Chávez Recht, wenn er betont, dass er, anstatt die Spaltung der Gesellschaft zu vertiefen, das Land vor dem Bürgerkrieg zwischen Armen und Reichen bewahrt hat. Um Chávez gruppierten sich einerseits diejenigen, die eine Chance ahnten, endlich selbst an der Geldquelle zu sitzen, und andererseits einige »Techniker«, die ernsthaft die teilweise katastrophalen Lebensbedingungen der Bevölkerung verbessern wollten. Die neue Regierung, die anfänglich nur auf einen Teil des Militärs zählen konnte, war auf die Unterstützung der Massen angewiesen, um sich gegen das traditionelle politische und ökonomische Establishment behaupten zu können. Nicht von ungefähr wurde zuallererst eine neue Verfassung verabschiedet, die den Unterschied zur bisherigen Vierten Republik unterstreichen sollte. Charakteristisch für diese neue Verfassung ist die systematische Verwendung der weiblichen Form, die Betonung der »partizipativen und protagonistischen« im Gegensatz zur »repräsentativen« Demokratie und die Einräumung spezieller Rechte für die indigene Bevölkerung. Die ersten Jahre vergingen damit, traditionellen Nutznießern des Staats den unmittelbaren Zugriff auf die Staatseinnahmen zu verweigern. Dies war mit personellen Umbesetzungen in entscheidenden staatlichen Institutionen verbunden und gipfelte in einem Putschversuch der verdrängten Eliten sowie im Kampf um die Kontrolle des staatseigenen Erdölkonzerns PDVSA. Diese Konfrontation zwischen einer entstehenden neuen und der alten Machtelite wurde als Kampf der »Armen« gegen die »Reichen« präsentiert. Die Ausgegrenzten, die eigentlich auf materielle Verbesserungen warteten, sahen in dem Feind ihres altbekannten Feindes ihren Freund und Retter. Die spektakuläre Beschlagnahmung brachliegender Ländereien von Großgrundbesitzern und das Ausbleiben jeder Repression durch das Militär, das stattdessen seine Krankenhäuser für die Allgemeinheit öffnete, festigten das Gefühl, die Regierung sei wirklich eine Regierung der Armen. Als die von der Macht verdrängten Eliten im Jahr 2002 den Staatsstreich probten, war diese Identifikation der Armen mit dem Staatschef mitentscheidend dafür, dass sie auf die Straße gingen und der Putsch scheiterte. Nach diesem fehlgeschlagenen Staatsstreich blieb die PDVSA eine Festung, in der die alte Elite sich verschanzte. Als die Regierung Ende 2002 versuchte, die Leitung der PDVSA auszuwechseln, rief diese mit Unterstützung der alten Gewerkschaftskonföderation CTV zum Streik im Erdölsektor auf. Bald dehnte sich der zweimonatige Unternehmerstreik auf private Firmen vor allem im Handel, Gütertransport- und Bankensektor aus. Der Streik bei der PDVSA wirkte sich landesweit direkt auf die Benzinversorgung aus, und selbstverständlich traf er den Erdölexport empfindlich. Ein Teil der Arbeiter erhielt aber die Produktion und den Transport halbwegs aufrecht, woraus Stolz und ein gewisses Machtgefühl entstanden. Am Ende wurden die Leitung und 18 000 Mitarbeiter der PDVSA entlassen. Einige mittlere Unternehmer, die sich wegen des Streiks mit der Regierung überworfen hatten, hielten es unter diesen Umständen für unsinnig, den Betrieb wieder aufzunehmen. Als daraufhin die Arbeiter und Angestellten den Erhalt ihrer Arbeitsplätze forderten, antwortete die Regierung mit dem Konzept der Mitbestimmung. Die rechte Opposition war politisch geschlagen, was nicht hieß, dass der akkumulierte Reichtum der bisherigen Eliten ernsthaft angetastet wurde. Aber sie konnten sich nicht mehr nach Lust und Laune aus der Staatskasse bedienen. Nun war die Zeit gekommen, in der die Regierung ihre Macht festigen und den Appetit der neuen Aufsteiger, insbesondere der Militärs, stillen musste. Auch die Erwartungen der Ausgegrenzten, die ein Ergebnis ihrer aktiven Beteiligung am Scheitern des Putsches sehen wollten, galt es zu erfüllen. Gleichzeitig erwarteten die Arbeiter, dass auch ihr Beitrag zum Fiasko des Unternehmerstreiks honoriert wird. Ausgegrenzte wie Arbeiter waren, wegen des vordringlichen Kampfs mit der bürgerlichen Opposition, nicht mehr bereit, Geduld an den Tag zu legen. Im Jahr 2003 wurde die Ära der misiones eingeläutet. Sie wurden unter dem Motto »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« präsentiert. Dass diese Maßnahmen, die immer von oben entschieden wurden, in erster Instanz dazu dienten, die mit den alten Eliten verbundenen Bürokraten im Staatsapparat auszuschalten, die Gelegenheit zu neuen mehr oder weniger korrupten Geschäften zu schaffen und die Ausgegrenzten durch ihre Eingliederung in ein neues Netz von Organisationen sozial und politisch zu kontrollieren, wird meistens übersehen. Ein Merkmal dieses neuen »Sozialismus« ist es, dass klassische Lohnempfänger stiefmütterlich behandelt werden. Sie werden eher als Privilegierte betrachtet, die schon »in Lohn und Brot« stehen. Im privaten wie im öffentlichen Bereich sind die meisten Tarifverträge abgelaufen, wovon etwa drei Millionen Lohnarbeiter betroffen sind. Beispielsweise sind seit vier Jahren Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und dem Gesundheitsministerium fällig. Die Kaufkraft der Beschäftigten im privaten Bereich ist seit 1998 um ca. 25 Prozent gesunken. Der Mindestlohn wird direkt vom Präsidenten festgelegt und betrifft vor allem Beschäftigte von Mikrounternehmen (auch von Kooperativen) im oder am Rande des informellen Sektors, wo kein Tarifvertrag existiert. Adressat der sozialen Maßnahmen ist in erster Linie die marginalisierte Bevölkerung, immerhin 50 Prozent der Gesamtbevölkerung. Dass die meisten und bekanntesten Maßnahmen unter dem Konzept misiones laufen, ist bezeichnend. Eine »Mission« kann sowohl im Sinne eines militärischen Auftrags verstanden werden als auch im christlichen Sinne. Auf der ideologischen Ebene wird dem Kapitalismus vorgeworfen, er verwende die Profite für egois­tische Zwecke, während der »Sozialismus« durch die Verwendung derselben für die Interessen des Volkes charakterisiert wird. Die Armut soll durch Geldtransfers bekämpft werden, ohne das Privateigentum ernsthaft in Frage zu stellen.

Missionen« gibt es inzwischen in allen möglichen Bereichen, von der Gesundheit bis zur Erziehung, über Lebensmittelversorgung, Wohnungsbau, Erhalt von Arbeitsplätzen, Energie u. v. m. Allen Missionen ist gemeinsam, dass sie an den eigentlich zuständigen Ministerien vorbei organisiert werden. Eine neue Verwaltungsbürokratie entwickelt sich neben der alten, so dass die traditionellen Verbindungen zwischen Ministerialbürokratie und Wirtschaftsoligarchie unterbrochen werden. Außerdem finanzieren sich die Missionen größtenteils aus undurchsichtig verwalteten Sonderkassen der mittlerweile gefügigen PDVSA. Eine Rechnungslegung gibt es weder für diese Kassen noch für die Missionen selbst, womit neuen Begünstigungen, der Korruption und der Vetternwirtschaft Tür und Tor geöffnet werden. Von einer Koordinierung aller Maßnahmen kann nicht die Rede sein. Der ständige Wechsel des verantwortlichen Personals auf allen Ebenen führt dazu, dass alte Entscheidungen ignoriert und neue getroffen werden, so dass man eher von einer systematischen Improvisation reden müsste. Eine der erfolgreichsten Missionen ist »Barrio Adentro«, die Mission im Gesundheitssektor. Es handelt sich um ein Netz präventiver Medizin, um direkt an ihren jeweiligen Wohnorten die Menschen kostenlos zu betreuen, die früher ihre Viertel verlassen und oft tagelang Geduld, aber auch Medikamente oder Material mitbringen mussten, um überhaupt in öffentlichen Institutionen behandelt zu werden. Die Logistik wird vor allem von Kuba sichergestellt, das circa 20 000 Ärzte und medizinisches Personal sowie Medikamente zur Verfügung stellt. Dafür erhält die Karibikinsel venezolanisches Erdöl. Die Ärzte wohnen in so genannten módulos, in denen sich auch die Praxisräume befinden und die in den Vierteln der Patienten liegen sollen, hinzu kommen Hausbesuche. Vor allem auf dem Land und in abgelegenen Gegenden bringt dies der Bevölkerung eine Verbesserung der medizinischen Versorgung. Dass das kubanische Personal sich nicht nur um die Gesundheit der Bevölkerung kümmert, sondern auch ideologisch Einfluss nimmt, zeigt in den entsprechenden módulos die allgegenwärtige Präsenz von Plakaten, die die kubanische Revolution hoch halten. Angesichts des notorisch gut organisierten Polizei- und Spit­zel­apparats in Kuba ist die in Venezuela manchmal geäußerte Vermutung, dass einige Ärzte auch »Sonderdienste« übernehmen, nicht von der Hand zu weisen. Manche sehen die Hausbesuche auch als Versuch, die Stimmung in der Bevölkerung zu messen: Die medizinische Versorgung geht mit einer gewissen Einschüchterung einher. Von den ursprünglich mehr als 5 000 vorgesehenen módulos ist bis heute kaum die Hälfte gebaut worden; die »dringenden« Bauaufträge wurden meist Unternehmen zugespielt, bei denen hohe Militärs ihre Finger im Spiel haben und die oftmals lediglich die Aufträge an Subunternehmen weiterleiten. Wegen mangelnder Instandhaltung müssen immer mehr módulos geschlossen werden. Nach vier Jahren hat die Euphorie nachgelassen. Problematisch ist auch die Koordination mit dem offiziellen Gesundheitssektor: Müssen Kranke zur Weiterbehandlung von der »Mission« in Krankenhäuser verlegt werden, wechselt in der Regel abrupt die Behandlungsstrategie. Daher entstand inzwischen ein ganzer kubanischer Medizinzweig mit eigenen Diagnosezentren, spezialisierten Kliniken und gegebenenfalls sogar einer Weiterbehandlung in Kuba. So gibt es zwei gleichzeitig nebeneinander bestehende und fast hermetisch abgeschlossene Strukturen des Gesundheitswesens. Und trotzdem ist der allgemeine Gesundheitszustand im Lande kritisch: Während bei den Frauen der alten und neuen gehobenen Schichten ein Hype um plastische Chirurgie herrscht, ist im vorigen Jahr u.a. die Zahl der Masern-, Malaria- und Dengue-Fieber-Erkrankungen um 30 Prozent gestiegen. Noch spektakulärer sind die »Missionen« für Erwachsene ohne Schulabschluss oder Ausbildung. Sie reichen von Alphabetisierung – obwohl Analphabetismus unter Erwachsenen sehr selten ist und meist ältere Menschen betrifft – über das Nachholen des Abiturs bis zur Berufsausbildung. Eine bolivarianische Universität für diejenigen, die an den öffentlichen Universitäten keinen Platz gefunden haben oder rausgeflogen sind, vervollständigt dieses parallele Erziehungssystem. Die Hoffnung, eine Qualifikation erlangen zu können, um sein Einkommen zu verbessern, hat anfänglich einen riesigen Andrang verursacht. Dies wurde auch dadurch unterstützt, dass manche Teilnehmer Stipendien erhielten. Selbstverständlich gab es auch bei diesen Maßnahmen Abbrecher, vor allem unter den Nicht-Stipendiaten. Das pädagogische Konzept ist problematisch: Das gesamte Lehrmaterial stammt aus Kuba, und der Unterricht besteht hauptsächlich aus dem Abspulen einer Videokassette. Für Fragen stehen meistens Assistentinnen zur Verfügung, die den Mindestlohn bekommen und deren Kenntnisse oft kaum über das Niveau des Videos hinausgehen. Statt eines Dialogs herrscht passives Konsumverhalten, ein kontinuierliches Glotzen auf eine Mattscheibe. Hier findet keine Selbstermächtigung statt, sondern es verstärkt sich die Autoritätshörigkeit. Fast alle Teilnehmer an der misión zur beruflichen Qualifikation erhalten ein Stipendium. Immerhin sind mehr als 500 000 Leute qualifiziert worden. Am Ende jedes Kurses sollten die Graduierten Kooperativen bilden, denen Kredite, Aufträge und eventuell Land versprochen wurden. Das funktionierte zunächst ziemlich gut, und die Regierung hatte sich sogar das Ziel gesetzt, mittelfristig knapp 100 000 Kooperativen zu schaffen. Aber inzwischen tummeln sich so viele Kooperativen auf dem Markt, dass nicht mehr alle vom Staat systematisch bedient werden können und nur noch etwa 5 000 real existieren. Auch was die Ernährung angeht, gibt es umfangreiche Maßnahmen. Die misión Mercal hat die Aufgabe, Lebensmittel zu besorgen und der Bevölkerung zu Preisen zukommen zu lassen, die durch Subventionen um etwa 30 Prozent vermindert werden. Etwa die Hälfte der Bevölkerung kauft dort ein. Im Prinzip sollten diese Lebensmittel von Kleinproduzenten oder den ländlichen Kooperativen stammen, aber ein Blick auf die Regale widerspricht dem: Das Angebot besteht fast nur aus trockener Nahrung, Dosen oder Flaschen. Frischware wie Obst, Gemüse oder Fleisch kann fast nur auf den gelegentlichen Großmärkten gekauft werden. Jeder muss zusätzlich wichtige Lebensmittel in den konventionellen Geschäften oder bei den fliegenden Straßenhändlern einkaufen, schon allein, weil die misión Mercal umgerechnet nur etwa 150 Gramm Lebensmittel pro Einwohner und pro Tag liefert. Die »Mission« versorgt die Menschen nicht nur mit Lebensmitteln, sondern auch mit geistiger Nahrung: Auf ihre Verpackungen gedruckte Comics dienen der Verbreitung der bolivarianischen Ideologie. Das Militär sorgt für die Logistik, und es eröffnen sich neue Korruptionsfelder entlang der gesamten Kette von Einkauf, Lagerung, Verteilung und Verkauf.

Auch im Versorgungssektor lässt die ursprüngliche Euphorie daher nach. Seit fast einem Jahr sind Grundnahrungsmittel wie Milch, Zucker, schwarze Bohnen oder Sardinen in Büchsen nur sporadisch zu finden, wobei die ersehnten Waren oft zu erhöhten Preisen im Straßenhandel gleich um die Ecke auftauchen. Auch wenn sich die Lage vor allem für die Ärmsten verbessert hat, ist die Versorgung der gesamten Bevölkerung noch lange nicht garantiert. Man muss den ganzen Tag auf Trab sein, um die nötigen Lebensmittel zu besorgen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass der Mindestlohn knapp über 200 Euro liegt, während die Lebensmittelpreise mit den Sonderangeboten europäischer Billigsupermärkte vergleichbar sind. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung leben in extremer Armut und können sich nicht einmal die notwendigsten Lebensmittel für eine gesunde Ernährung leisten. Zunächst wäre festzuhalten, dass in den meisten privaten wie staatlichen Unternehmen »business as usual« herrscht. Neu ist lediglich, dass überall ein mehr oder weniger regierungstreuer Gewerkschaftsverband, die UNT, Fuß gefasst hat, der sich im Alltag wie die sozialdemokratische CTV unter den alten Regierungen verhält. Die Führungsbürokratie ist so stark mit Richtungs- und Machtkämpfen beschäftigt, dass seit Gründung der UNT im Jahr 2003 nicht einmal interne Wahlen stattfinden konnten. Nach dem Unternehmerstreik 2003 blieben einige Betriebe geschlossen. Die Frage nach dem Erhalt der Arbeitsplätze wurde akut. In einzelnen Fällen haben die Arbeiter die Anlagen besetzt (aber nicht die Produktion übernommen), als Zeichen an den Staat, er möge etwas tun. Tatsächlich ergriff er allerlei Maßnahmen, die als Mitbestimmung bezeichnet wurden: Zum einen bot man den Besitzern finanzielle Unterstützung an, wenn sie den Betrieb aufrechterhielten, einen Teil der Profite für soziale Projekte abzweigten und die Arbeiter durch Aktien zu stolzen Unternehmensbesitzern machten. Darüber hinaus mussten die Arbeiter Ko­operativen bilden, um als Partner tätig zu sein. Dass dies für manche Unternehmer eine Möglichkeit war, über Umwege an Staatsknete zu gelangen, liegt auf der Hand. Kommt es zu keiner Einigung, dann bemüht sich der Staat, den Betrieb bei Zahlung einer angemessenen Entschädigung zu enteignen. In diesem Fall tritt der Staat als neuer Besitzer auf und verfährt mit den Arbeitern auf die gleiche Weise: Man fasst sie in Kooperativen zusammen und verkauft ihnen Aktien. Die Mitbestimmung sieht im besten Fall so aus, dass die Arbeiter über Probleme des Alltags in den Werkhallen beraten und entscheiden, während strategische Fragen weiterhin in den Händen der wirklichen Besitzer bleiben, nämlich der privaten Eigentümer oder des Staats. In etwa 1 000 meist kleineren Betrieben wurde diese Art der Mitbestimmung eingeführt, wobei die Arbeiter höchstens 49 Prozent der Aktien besitzen dürfen, so dass im Ernstfall klar ist, wer das Sagen hat. Weil die Kooperativen eine Art kollektiver Ich-AG der Arbeiter darstellen, die mit den Betrieben einen Werkvertrag schließen, fallen diese Arbeiter aus dem Arbeitsrecht heraus. In Venezuela entstanden seit Beginn der »bolivarianischen Revolution« sukzessive zahlreiche verschiedene »Basisorganisationen«. Keine davon ist aus einer Eigeninitiative der Bevölkerung oder gar aus sozialen Kämpfen entstanden. Ausnahmslos wurden sie vom Staat initiiert. Dennoch sind sie »Basis«-Organisationen: Sie stellen ein Angebot an die Ausgeschlossenen dar, sich so zu organisieren, dass sie als Partner des Staates akzeptiert werden. Zunächst entstanden die »bolivarianischen Zirkel«. Sie verfügten über kein Geld und waren nicht für lokale Entscheidungsprozesse vorgesehen, brachten also keine unmittelbaren Vorteile. Nach einer kurzen Blütezeit sind sie heute völlig bedeutungslos geworden. Danach kam eine Reihe von lokalen Komitees wie z.B. Gesundheitskomitees, Runde Tische zum Thema Wasser, städtische Landkomitees und lokale Planungskomitees, die bis heute existieren. Diese Komitees haben vor allem die Aufgabe, die jeweiligen Zustände auf dem spezifischen Gebiet von den Betroffenen selbst erfassen zu lassen, das jeweilige Defizit zu ermitteln und eventuell Verbesserungsvorschläge zu formulieren. Trotz der anfänglich vielfältigen Aktivitäten geschah relativ wenig. Daraus folgte, dass die wenigen Verbesserungen nur einzelnen Gruppen oder Individuen zugute kamen und die Komiteeaktivisten teilweise von den offiziellen Gemeindeverwaltungen vereinnahmt wurden. Angesichts der Ernüchterung in der Bevölkerung über die Ergebnisse der lokalen Komitees propagierte der Staat die massive Bildung von Kooperativen. Mit mindestens fünf Mitgliedern sollten sie u.a. die »selbstverwalteten« Unternehmen sein, an die der Staat kleine Aufträge zur Durchführung lokaler Maßnahmen vergeben wollte.

Die pragmatische Hoffnung auf ein Einkommen aus der Staatskasse – und nicht etwa die Einsicht in die Notwendigkeit kollektiven Handelns – führte zu einem regelrechten Gründungsboom überall im Land. Die Aufträge können von vielfältigen staatlichen Stellen und wieder nach Gutdünken vergeben werden, und auch hier spielen oft Schmiergelder sowie »fiktive Kooperativen« eine Rolle. Das Einkommen der Kooperativmitglieder bewegt sich in der Regel etwa in der Höhe des Mindestlohns. Im Grunde genommen handelt es sich um Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Obwohl inzwischen gut 100 000 Kooperativen mit 1,5 Millionen Mitgliedern registriert sind, existieren die meisten nur noch auf dem Papier. Nur die größeren Kooperativen und solche, die über Produktionsmittel verfügen, funktionieren wirklich. Anfang 2006 entstanden dann die »Gemeinderäte«, deren Gründungsmodalitäten, Organisationsstrukturen und Befugnisse vom Parlament gesetzlich festgelegt wurden. Es handelt sich um Nachbarschaftsorganisationen, die die vor sich her werkelnden lokalen Basisorganisa­tionen koordinieren sollen. Im Unterschied zu den vorherigen Basisorganisationen dürfen sie ein Budget von maximal 30 000 Euro selbst verwalten. Wie bisher erwarten die Vertretenen, dass diese neue Instanz sich endlich ef­fizient um sie kümmert – aber so funktioniert es nicht. Nach den ersten zwei oder drei Sitzungen bleiben meist nur ein paar Leute übrig, die entweder demotiviert werden oder aber anfangen, in geringem Umfang in die eigene Tasche zu wirtschaften. Großspurig angekündigt wurden auch die »Arbeiterräte«. Als Antwort an Gewerkschafter, die durch die Einführung der »Arbeiterräte« ihre eigene Rolle gefährdet sahen, erklärte der neue Arbeitsminister Rivero: »Die sozialistische Ausbildung, die in den Betrieben nach der Verabschiedung dreier Dekrete stattfinden wird, wird von den Arbeiterräten geführt – also von Organismen, die aus der Arbeiterbasis entstehen werden, um die Richtlinien zu implementieren, die die Regierung durch ein Institut festlegen wird, das zu diesem Zweck noch gegründet wird.« Daher würden sich die »Arbeiterräte« nicht in die Entscheidungsprozesse der Unternehmen einmischen. Die »Basisorganisationen« erweisen sich als vieldeutige Gebilde. Viele nutzen sie als Mechanismen, um die Gunst des Staats zu ergattern, andere hingegen, um Forderungen an die Behörden Nachdruck zu verleihen. Für den Staat wiederum sind sie ein institutionelles Vorfeld, um große Teile der Bevölkerung wieder zu integrieren und Protestbewegungen zu kanalisieren. Bis heute dienen sie eher dazu, den sozialen Frieden zu gewährleisten und die neue Macht im Staat zu konsolidieren, indem Probleme immer vom Staat und nicht durch Eigeninitiative gelöst werden sollen. Seit der letzten Wiederwahl des »Comandante« im Dezember 2006 zeichnet sich eine neue autoritäre Wende ab: Chavez konzentriert mehr und mehr Macht in seinen Händen und zieht die Kontrolle an.

Durch die Gründung der »Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas« (PSUV) versucht er, die totale Kontrolle über seine Anhänger zu erlangen. Dabei deutet sich eine Verschmelzung von Partei und Staat an. Nicht nur aus Überzeugung haben sich bereits rund fünf Millionen Menschen als Parteikandidaten eingeschrieben. Das Motto lautet: »Wer nicht für mich ist, ist gegen mich«, was durchaus die Drohung beinhaltet, Stellen oder staatliche Zuwendungen zu verlieren. Auch gewaltsame Polizeieinsätze gegen Proteste sind inzwischen keine Ausnahme mehr. Man kann vermuten, dass diese neue Entwicklung mit der wirtschaftlichen Situation Venezuelas zusammenhängt. Die Erdölproduktion geht leicht zurück, aber die staatlichen Ausgaben wachsen rasant – 2006 um 47 Prozent. Der Import ist im vorigen Jahr um 40 Prozent gestiegen und frisst inzwischen 75 Prozent der Erdöleinnahmen auf. Die allgemeine Inflationsrate erreicht 18 Prozent, Lebensmittel sind sogar um 30 Prozent teurer geworden. Die sozialen Ausgaben machten 2006 nur etwa zehn Prozent des Bruttosozialproduktes aus, davon entfällt weniger als die Hälfte auf die Missionen. Gleichzeitig machen die Banken, der private Bausektor und der Handel die größten Geschäfte und erzielen Wachstumsraten zwischen 20 und 25 Prozent. Die Entstehung einer Schicht von Neureichen drückt sich nicht zuletzt darin aus, dass der Verkauf neuer Pkws 2006 um 50 Prozent gestiegen ist. Um diese Dynamik finanzieren zu können, hat sich die gesamte Staatsverschuldung im Laufe der »bolivarianischen Revolution« fast verdoppelt, vor allem durch immer neue Staatsanleihen, die von den privaten Banken im Inland gekauft werden. In anderen Worten: Während eine gut platzierte Minderheit die Erdölrente anzuzapfen vermag und eine rasante Reich­tums­vermehrung erfährt, schauen alle auf die kleinen Verbesserungen fürs Volk, auf die diese Minderheit frenetisch hinweist. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts? Eine karitative Kleptokratie! Die landwirtschaftliche Produktion stagniert, und die Versorgungssituation bleibt kritisch. Konflikte in einzelnen Betrieben mit Mitbestimmung haben verdeutlicht, wie tief die Kluft zwischen Verstaatlichung und Vergesellschaftung sein kann. Die Kooperative bei Cacao Oderí hat es so ausgedrückt: »In Venezuela muss die Zivilgesellschaft als Wirtschaftsakteur gestärkt werden, nicht der übermächtige und korrupte Ölstaat (…) Das ist überholter Staatskapitalismus. Für uns heißt Sozialismus Selbstverwaltung.« Ein Staatsbürokrat sah das anders. Zur Begründung, warum nicht die Arbeiter bestimmen sollten, sondern der Staat das Sagen im Betrieb haben sollte, erklärte er: »Präsident Chávez ist ein Werkzeug Gottes«. Täglich gibt es etwa 50 Protestaktionen, manchmal begleitet von Straßenblockaden mitten in der Stadt oder auf wichtigen Verkehrsachsen. Langsam wird die Regierung nervös. Die Lebensbedingungen der ärmsten Bevölkerung haben sich in mancher Hinsicht verbessert.

Dass Almosen besser sind als zu verrecken, ist unbestritten. Doch man sollte auf dem Ziel eines Lebens ohne Not, ohne Geld, ohne Nationen beharren, in dem der Mensch als Gattungswesen seine Bedürfnisse bewusst zum einzigen Kriterium des gesellschaftlichen Lebens macht. Die Potenziale, die in der modernen Gesellschaft schlummern, erlauben dies längst. Aber sie können nur durch die Eigentätigkeit der Ausgebeuteten verwirklicht werden. Angesichts dieser Möglichkeiten bleiben die in Venzuela erreichten Verbesserungen miserabel – und sind zudem nicht einmal abgesichert. Der chaotische Prozess der ständigen Ankündigung neuer Kampagnen und Institutionen, neuer Basisorganisationen und Versprechen enthält für die neuen Machthaber aber auch ein gewisses Risiko. Denn die Leute nehmen die Versprechen immer öfter beim Wort und fordern sie selbstbewusster ein. Die Frustration führt zu alltäglichen Protesten und in kleineren Kreisen auch zu theoretischen Diskussionen über einen Sozialismus, der über die reine Armutsbekämpfung und den »sowjetischen Marxismus« hinausgeht. Aber neue Organisationsformen, die nicht vom Staat initiiert sind und tatsächlich einen autonomen Kampf führen, sind bis heute weder innerhalb noch außerhalb der Betriebe entstanden. Eine praktische Kritik der Lohnarbeit, die die Aufhebung sämtlicher Warenbeziehungen impliziert, blieb bisher aus, allenfalls geht es um eine Selbstverwaltung der eigenen Ausbeutung und der eigenen Misere. Redaktionell bearbeiteter und stark gekürzter Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber aus der neuen Zeitschrift »Kosmoprolet«, die dieser Tage erscheint. www.klassenlos.tk