Der Arnold Hau der DDR

Der Autor Michael Rudolf ist tot. Von Klaus Bittermann

Als ich Michael Rudolf zum ersten Mal Anfang der Neunziger auf der Frankfurter Buchmesse traf, war er mir auf Anhieb sympathisch. Es gibt eben diese besonderen Menschen, die Offenheit, Wärme und Großzügigkeit ausstrahlen und zu denen man auf Anhieb einen Draht findet. Als Verleger des »Weissen Stein« hatte er einige Autoren in seinem Programm, um die ich ihn beneidete. Fanny Müller zum Beispiel, Fritz Tietz, Eugen Egner, F.W. Bernstein u.a. Vielleicht hatte sich Michael Rudolf von der gesamtdeutschen Euphorie anstecken lassen. Vielleicht lag es auch an seinem gutmütigen Optimismus, der ihn glauben ließ, die kleinen Taschenbücher von Autoren aus dem Umfeld der Titanic ließen sich im vereinten Dtschl wie geschnitten Brot verkaufen. Schnell sammelte sich ein großes Lager unverkäuflicher Titel an. Er musste den »Weissen Stein« liquidieren.

Dem missglückten Abenteuer als Verleger ging eine Menge odd jobs voraus wie »Beifahrer, Braumeister, Ingenieur und Denkmalpfleger«. Danach versuchte er, sich als freier Autor durchzuschlagen, was ja auch keine schöne Alternative ist. Aber Michael Rudolf war in dieser Hinsicht hart im Nehmen, auch wenn die Mühseligkeit des Geschäfts nicht spurlos an ihm vorüber ging. Er machte sich in den folgenden Jahren nicht nur als Beiträger für die gesamte Linkspresse einen Namen, sondern vor allem auch als Buchautor. Erfolgreich war er mit dem »Bierlexikon«, von dem es mehrere, immer wieder neu überarbeitete und erweiterte Auflagen in verschiedenen Verlagen gab. Er kannte sich da aus, denn er hatte Gärungstechnologie studiert. Und er machte Furore mit dem »Bierlexikon«, denn er handelte sich immer wieder Klagen von Brauereien ein, die ihr Produkt verunglimpft sahen.

Michael Rudolf entwickelte sich zum Spezialisten auf sehr unterschiedlichen Gebieten, und er hatte eine beeindruckende Veröffentlichungsliste von Büchern vorzuweisen. Mit Pilzen kannte er sich ebenso aus wie in der Rockmusik. Er schrieb ein Rockgitarristenlexikon, eine Auftragsarbeit für den Fischer-Verlag über »Die Thüringer Pauschal«, ein unglaublich lustiges kleines Büchlein über einen in Deutschland lebenden Eingeborenenstamm, ein Buch mit »Gebündelten Ost-West-Vorurteilen«, den »Politpornothriller« »Chefarzt Dr. Fischer im Wechselbad der Gefühle« und eine Art fiktive Auto­biografie, »Morgenbillich. Die Wahrheit über Holger Sudau«, in der sein alter ego am Ende »irrtümlich« verschwindet. Das war aber noch lange nicht die vollständige Liste seiner Buchveröffentlichungen. Nebenher war er auch noch als Herausgeber und Beiträger für zahlreiche Anthologien tätig. Es schien, als wolle er in der kurzen Zeit, die ihm blieb, ein umfangreiches Lebenswerk hinterlassen.

Immer mehr machten ihm jedoch gesundheitliche Probleme zu schaffen. Er litt an einer Bierunverträglichkeit, an Migräne, einem Burn-Out-Syndrom und schließlich an heftigen Depressionen. Aber er machte kein großes Aufhebens davon und nur wenige wussten, wie es wirklich um ihn stand. Am 1. Februar 2007 gab er das fertige Buchmanuskript »Atmo. Bingo.Credo. Das ABC der Kultdeutschen« beim Verlag ab. Einen Tag später verschwand er in den thüringischen Wäldern um Greiz, wo er mit Frau und Tochter wohnte. Er hatte einen Rucksack dabei, in dem sich, wie sich später herausstellte, ein Strick befand. Am Montag, dem 9. Juli, fand eine Pilzsucherin die Leiche Michael Rudolfs in einem schwer zugänglichen Dickicht.

»Wer war diese sagenhafte Gestalt?« fragt Michael Rudolf in der Biografie über Holger Sudau. Ich schätze, er hat sich auf ironische und witzige Weise selber seinen besten Nachruf geschrieben: »Zunächst einmal (war er) ein wüster Säufer, ein Blender und dreister Scharlatan, der den Staat DDR, eine waschechte, menschenverachtende Diktatur immerhin, vollrohr ignorierte; ein begnadeter Dichter, ein unbeirrbarer Mahner und unvergessener Visionär (…) Kurz: ein Mann mit neunhundertneunundneunzig Gesichtern – ein Arnold Hau der DDR.«