Godesberger Programm

Vor fünf Jahren war die Angst vor der Is­lamisierung der Türkei groß. Heute kann die Entwicklung der ehemaligen Mili-Görüs-Partei nüchtern betrachtet werden. kommentar von dilek aydin

Es war Mitte November 2002 – wenige Wochen zuvor war in der Türkei die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) siegreich aus den Par­lamentswahlen hervorgegangen –, als in Nigeria militante Islamisten mit blutigen Ausschreitungen die Wahl zur »Miss World« verhinderten.

Die Veranstaltung wurde nach London verlegt, wo mit Azra Akin zum ersten Mal eine Türkin zur »schönsten Frau der Welt« gekürt wurde. Jener Abdullah Gül, mit dessen Nominierung für das Amt des Staatspräsidenten im Frühjahr der gegenwärtige Konflikt in der Türkei begann, hielt zu diesem Zeitpunkt den Posten des Ministerpräsidenten für Recep Tayyip Erdogan warm. Die Auszeichnung für Frau Akin, so ließ er wissen, mache ihn und das Land »stolz und glücklich«, wenig später empfing er sie in seinem Amts­sitz. Diese Episode erhält in nuce alles Wesentliche, das man zur AKP sagen kann: Zum einen zeigt sie, dass es sich bei der Partei nicht um einen Haufen finsterer Gesellen handelt, die nach der Einführung der Sharia trachten. Zum anderen zeigt sie, dass es sich auch bei der AKP um türkische Nationalisten handelt, die jeden internationalen Erfolg eines Landsmanns oder einer Landsfrau, bei einem Schlagerwettbewerb, im Fußball oder im Sackhüpfen, als nationalen Triumph feiern und dabei aller Welt ihren kollektiven Minderwertigkeitskomplex demonstrieren.

Freilich konnte man damals skeptisch sein, ob die AKP sich von Islamisten zu einer islamisch-konservativen Partei gewandelt habe oder ob es sich bei ihnen nur um eine besonders clevere Gattung von Islamisten handele, die aus Rücksicht auf die Machtverhältnisse im Land durchdachter vorgingen.

Heute kann man diese Frage eindeutig beantwor­ten: In ihrer Regierungszeit hat die Partei die Islamisierung von Staat und Gesellschaft nicht weiter gebracht. Dass es in ihren Reihen noch viele gibt, die von einem Gottesstaat träumen, ändert nichts an dem Befund. Dies dürfte auch noch lange so bleiben, schließlich soll es in der SPD ein halbes Jahrhundert nach dem Godesberger Programm noch Marxisten geben. Allerdings bestimmen diese Leute so wenig die Politik der SPD wie der AKP. Der verlässlichste Garant für Mäßigung ist noch immer die Korrumpierung durch die Macht, die schon so manche linke Bewegung zur Räson gebracht hat.

Kritisieren kann man die AKP dafür, dass die Tür­kei immer noch ein halbdemokratischer Staat ist, dass sie sich den nationalistischen Stimmungen nicht entgegenstellt, sondern sich ihnen im Zweifel anschließt, dass sie etwa, um es konkret zu machen, den Straftatbestand der »Verunglimpfung des Türkentums« eingeführt hat, den Rechtfertigungsparagrafen für politische Ehrenmörder.

Dennoch bleibt die Demokratisierung des politischen Islam ein Projekt von welthistorischer Bedeutung. Dass es von Leuten gefährdet und möglicherweise sogar beendet werden wird, die allein ihre eigenen Privilegien verteidigen und deren Nationalismus zwar echt, deren Laizismus oder Aufgeklärtheit aber mindestens fragwürdig ist, wäre tragisch. Für den Rest der Welt, aber vor allem für die Türkei, die Gefahr läuft, in den Bürgerkrieg der neunziger Jahre zurückzufallen.