»Was wir wollten, war Demokratie mit Volkseigentum«

Klaus Wolfram, DDR-Oppositioneller

Klaus Wolfram arbeitet im BasisDruck-Verlag in Berlin. Der studierte Philosoph gehörte 1989 zum Neuen Forum in der DDR. Bereits 1975 bis 1977 war er Mitglied einer konspirativen Oppositionsgruppe Ostberliner Sozialisten, über die jüngst ein Dokumentarfilm für den WDR entstand: »Verraten. Sechs Freunde und ein Spitzel«. Auch der Verräter kommt darin zu Wort: Es ist der heutige Chefredakteur der jungen Welt, Arnold Schölzel. Über 1 000 Protokolle fertigte er für die Stasi über seine »Freunde« an.

interview: christian hufen

Was war das Ziel Ihrer Gruppe? Wollten Sie wirklich die Regierung der DDR stürzen?

Wir wollten auf eine Situation wie beim Prager Frühling vorbereitet sein.

Nach 1953, 1956 und 1968 – waren da nicht sow­jetische Panzer zu fürchten?

Wir rechneten mit einem großen öffentlichen Interesse an demokratischen Reformen. Ganz gleich, ob diese wie in der Tschechoslowakei von oben angeregt und durch eine Volksbewegung getragen waren oder von unten ausgingen, wie 1989 in der DDR. Sicherlich war die DDR von der Sowjetunion abhängig. So sah die politische Wirklichkeit des Kalten Krieges aus. Wir meinten aber, dass der sowjetische Weg des Sozialismus den Schritt der osteuropäischen Länder zur Demokratie nicht aufhalten durfte. Die sozialistischen Staaten in Osteuropa würden durchaus eine eigenständige Rolle spielen können. Und fremde Panzer … um die in Schach zu halten, hatten wir schließlich die Nationale Volksarmee. So etwas war freilich nur konspirativ zu diskutieren.

Worauf bauten Sie als Marxist Ihre Analyse der DDR auf?

Wir kannten den Schulmarxismus und suchten zunächst ein reales Bild der russischen Revolution, die unsere Epoche geprägt hat. Das fanden wir bei Trotzki, Bucharin und anderen verfolgten Revolutionären und Schriftstellern dieser Ära. Wir lasen auch die Schriften von Isaak Deutscher. Daraus ergab sich eine ganz andere politische Schärfe des marxistischen oder sozialistischen Standpunktes.

Welches Bild der DDR ergab sich für Sie daraus?

In der DDR war, auf höherem zivilisatorischen Niveau, eine usurpatorische Bürokratie entstanden, die im Grunde genommen die Arbeiterklasse um den Sinn, die Früchte des Sozialismus prellte. Das war sozusagen der Grundgedanke.

Mit welcher Entwicklung rechneten Sie?

Ich vertrat die These, dass alle osteuropäischen Staaten aus strukturellen Gründen zu gleichartigen Konflikten kommen, die auch gleichzeitig ausbrechen werden. Vermutlich durch Volksbewegungen von unten.

Die von Ihnen gewünschten Veränderungen sollten den sozialistischen Staat an sich aber nicht antasten?

Gemeint war, kurz gesagt, Demokratie mit Volkseigentum.

Ihnen ging es vor allem um die Demokratisierung des Systems, also zum Beispiel um freie Wahlen. Andere Bürgerrechte, wie Eigentumsrechte, freie Meinungsäußerung und Reisefreiheit waren noch kein Thema?

Bürgerrechte ließen sich auch auf der Grundlage von Gemeineigentum an großen Produktionsmitteln und Bodenschätzen realisieren. Für uns spielte der Begriff damals keine Rolle. Aber Rechts­sicher­heit sollte es geben, das setzte keine andere Eigentumsform voraus.

Sie stammen fast alle aus staatsnahen Ostberliner Familien. War das ein Grund, die Verhältnisse in der DDR als veränderbar anzusehen?

Nicht unbedingt. Für mich gab es keine Anknüpfungspunkte an den ostdeutschen Stalinismus. Wir rechneten trotz unserer familiären Hintergründe mit harten Repressionen. Die Elternhäuser bewirkten lediglich, dass man genauere Vorstellungen vom Staat besaß. Aber wir wollten es anders machen als unsere Eltern. Das immerhin verband uns mit den Achtundsechzigern.

Sie wollten verschiedene Artikel über die DDR schreiben und publizieren.

Das war schon der letzte Schritt, deswegen wohl flog die Gruppe auf. Zunächst ging es ganz praktisch darum, die Kommunikation zu erweitern. In Ostberlin gab es noch zwei Gruppen. Wir nahmen auch Verbindung auf mit Westberlin, es gab einen Draht nach Paris und Brüssel, zu Ernest Mandel. Er war für mich der wichtigste lebende Theoretiker. Wir kommunizierten mit Prag, Budapest und Warschau. Wir brauchten viele Kontakte. Wir mussten ja dauernd über Leute beraten. Wer war geeignet, später eventuell unser Fachmann für Ökonomie, Gesundheits- oder Bildungswesen zu werden?

Gab es so etwas wie ein konspiratives Netz in Ostdeutschland?

Das ergab sich wie von selbst. Kaum hatte man die Schwelle überschritten und nicht mehr nur darüber nachgedacht und bloß die Faust in der Tasche geballt, entdeckte man plötzlich, was sich sonst noch so tat im Land. In Jena etwa war noch viel mehr los, der Schriftsteller Jürgen Fuchs fing zur selben Zeit an zu opponieren.

Konnte die Bürgerrechtsbewegung von 1989 darauf aufbauen?

Das scheint mir übertrieben, aber die Vernetzung ging in den achtziger Jahren durchaus weiter, landesweit. Allerdings gab es später andere Mentalitäten und politische Standpunkte. Das hatte dann viel mit Kirchendach, Friedensbewegung und Ökologie zu tun.

Welche Aktionen haben Sie geplant?

Als wir uns umfangreich konstituiert und orientiert hatten, wollten wir an die Öffentlichkeit gehen – das ging nur über den Westen. Die Frage war nur, nimmt man ein bürgerliches Medium? Wir entschieden uns für ein sozialistisches. Geplant war eine Serie von sechs Einzelbeiträgen, Analysen der politischen Stimmung unter Künstlern, in der Jugend, bei den Arbeitern und zur wirtschaftlichen Stagnation. Ich wollte mir den Partei- und Staatsapparat vornehmen. Die Beiträge sollten in den Blättern des Sozialistischen Ost­europa-Komitees erscheinen, die Peter Brandt herausgab.

Der Film »Verraten. Sechs Freunde und ein Spitzel« thematisiert den Verrat Ihrer Gruppe im Sommer 1977. In welcher Phase traf Sie das?

Der Kreis hat zweieinhalb Jahre bestanden und intensiv gearbeitet. Wir hatten genug gelernt und probiert, um Zugang zur politischen Wirklichkeit der DDR und Osteuropas und auch der Sowjetunion gefunden zu haben. Aber die Aufdeckung der Gruppe war dann selber noch ein sehr interessanter Schritt in die Wirklichkeit. In der Konspiration kommt man in keine reale Öffentlichkeit. Wenn die Bevölkerungsmehrheit auf politischen Widerstand verzichtete, dann nicht aus Feigheit und Duckmäusertum. Sie bewies vielmehr Realitätssinn und Lebensweisheit. Was wir angefangen hatten, musste nun auf andere Weise fortgesetzt werden. Es mussten neue Strukturen aufgebaut werden. Erstaunlicherweise hinderte das MfS uns nicht daran. Es gab lediglich soziale Strafen, Berufs- und Promotionsverbote. Nach der politischen Natur, dem politischen Zustand unserer sozialistischen Welt, durfte ich nun deren sozialen Zustand kennen lernen. Dieser Weg führte mich in die Fabrik.

Die Konspirateure kamen nicht vor Gericht?

Nein, die wollten uns aus mehreren Gründen – auch wegen der Biermann-Affäre – nicht einsperren. Jeder von uns konnte Schlüsse daraus ziehen und seinen Weg weitergehen.

Der Verräter Arnold Schölzel stellte sich für den Film über Ihre Gruppe der Kamera. Er rechtfertigte seine Tat: Jawohl, sechs Freunde habe er verpfiffen, aber 17 Millionen DDR-Bürger vor Verrat gerettet.

Arnold kam aus dem Westen. Er war seinem Staat ausgewichen. Nun verteidigte er den Staat, unter dessen Dach er sich geflüchtet hatte. Er verhielt sich ähnlich wie viele frühere Antifaschisten: Nach den Schrecknissen der Vergangenheit traten sie stur für die DDR als ihren Staat ein, bis die Leute, die hier lebten, es nicht mehr ertragen konnten. Arnold arbeitete mit geheimdienstlichen Mitteln gegen uns. Dass er denkt, damit etwas gerettet zu haben, damit muss er nun selber fertig werden. In Wahrheit hat er so lange am doppelten Boden mitgebaut, bis das ganze Gebäude einstürzte.