»Die antisyrische Regierung ist fortschrittlicher«

Abdullah* und Michel*, libanesische Anarchisten

Die Alternative Communiste Libertaire ist die einzige offen anarchistische Organisation in der gesamten arabischen Welt. Als libertäre Kommunisten wollen sie der liba­nesischen und arabischen Gesellschaft zu direkter Demokratie, Freiheit, sozialer Gleich­heit und Laizismus verhelfen. Mehr dazu findet sich auf ihrer Internetseite www.albadilaltaharrouri.com. Der Gründer, Michel*, und ein junger Aktivist der Gruppe, Abdullah*, wollen wegen der angespannten Situation im Libanon anonym bleiben.

interview: thomas schmidinger

Wie kommt man im Libanon auf die Idee, ­Anarchist zu werden?

Abdullah: Das ist doch nahe liegend, gerade hier Anarchist zu werden, wo wir es mit alltäglicher Unterdrückung durch autoritäre Regime, gesellschaftlichen Tabus und konservativen Familienstrukturen zu tun haben.

Trotzdem ist Anarchismus in der arabischen Welt nicht gerade ein Massenphänomen.

Michel: Leider nicht, aber wir bemerken schon, dass wir auf offene Ohren stoßen. Der Anarchismus oder der libertäre Kommunismus als organisierte politische Bewegung ist etwas Neues für die arabisch-islamischen Staaten. Aber wir können auf eine lange Tradition von Intellektuellen und sozialen Bewegungen zurückblicken, die sich für individuelle und soziale Befreiung eingesetzt haben. Insofern ist diese Region gerade wegen des autoritären politischen Systems und der Alltagsstrukturen reif für anarchistische Ideen.

Ich habe 15 Jahre in Frankreich gelebt. Als ich von hier weg ging, war ich Mitglied der Kommunistischen Partei des Libanon. In Frankreich habe ich dann einige Anarchisten und libertäre Kommunisten kennen gelernt und schnell gemerkt, dass deren Ideen meiner Kritik am Autoritarismus der Kommunistischen Partei sehr nahe waren. Nach meiner Rückkehr in den Libanon habe ich mich mit ein paar Leuten zusammengeschlossen, die sich als libertäre Kommunisten und Kommunistinnen verstanden.

Wie lange gibt es eure Gruppe jetzt?

Michel: Ungefähr zehn Jahre. Seit einige jüngere Leute zu uns gestoßen sind und mit großem Enthusiasmus die anarchistischen Ideen verbreiten, konnten wir auch unsere Aktivitäten endlich etwas ausweiten und etwa eine eigene Internetseite gestalten.

Abdullah: Wir sind heute immer noch eine kleine Gruppe von zehn bis 15 Leuten. Wichtiger als die Zahl ist aber, dass wir diese Ideen hier nun verbreiten können und damit auch auf ein positives Echo stoßen.

Wie sehen eure Aktivitäten konkret aus?

Michel: Mit unserer Website und Publikationen in Zeitschriften versuchen wir, unsere politischen Überzeugungen zugänglich zu machen. Wir haben auch das Buch von Daniel Guérin über den Anarchismus ins Arabische übersetzt. Es ist das erste arabische Buch zum Thema Anarchismus.

Gab es Reaktionen auf das Buch aus anderen arabischen Ländern?

Michel: Ja, wir haben viele E-Mails aus anderen arabischen Staaten, insbesondere Marokko und Ägypten, bekommen.

Positive Reaktionen?

Abdullah: Zum größten Teil. Selbstverständlich bekommen wir auch ständig Drohmails, aber das sind wir schon gewohnt.

Organisationen eurer Art gibt es aber in Marokko oder Ägypten nicht?

Michel: Nein, aber es ist dort auch nicht so einfach, eine anarchistische Gruppe zu gründen wie im Libanon, dem wahrscheinlich freiesten arabischen Land.

Habt ihr jenseits der theoretischen Positionierung als Anarchisten auch eine konkretere Meinung zur aktuellen libanesischen Politik?

Michel: In der aktuellen Auseinandersetzung stehen wir zwischen dem Lager des 8. und des 14. März, also dem Oppositions- und dem Regierungslager. Dabei nehmen wir allerdings keine Position der Äquidistanz ein, sondern glauben, dass die antisyrische Regierung fortschrittlicher ist als die Opposition mit Hizbollah und Michel Aoun.

Wir kritisieren natürlich weiterhin auch die Re­gierung, die sich aus neoliberalen und teilweise sektiererischen Kräften zusammensetzt, und hal­ten daran fest, dass das totalitäre syrische Ba’ath-Regime für viele Verbrechen an libanesischen De­mokraten verantwortlich ist. Die Kritik am syrischen Ba’ath-Regime halten wir für absolut notwendig. Dabei kann die oppositionelle Hiz­bollah mit ihrem islamistischen Extremismus und ihren extrem reaktionären Positionen gegenüber Frauen, Homosexuellen und jeder Form politischer und gesellschaftlicher Emanzipation kein Bündnispartner für die Linke sein.

Die Libanesische Kommunistische Partei scheint dies anders zu sehen. Auch sie ist im Lager des 8. März vertreten und besetzt seit Monaten gemeinsam mit der Hizbollah den Märtyrerplatz im Zentrum Beiruts.

Michel: Die Entscheidung der Parteiführung, mit der Hizbollah, der Syrischen Nationalsozialistischen Partei und anderen reaktionären Kräften gemeinsame Sache gegen die Regierung zu machen, hat zu massiver Kritik innerhalb der Kommunistischen Partei geführt. Mit dieser innerparteilichen Opposition rund um die »Bewegung zur Rettung der Kommunistischen Partei« stehen wir in gutem Kontakt.

Hat die Zusammenarbeit zwischen KP und Hiz­bollah auch etwas mit dem großen Anteil von Schiiten innerhalb der Kommunistischen Partei zu tun?

Michel: Sicher, aber wir dürfen nicht der Propaganda der Hizbollah glauben, dass alle Schiiten die Partei unterstützen würden. Würde der Iran seine massive Finanzhilfe für die Hizbollah einstellen, wären wohl viele Anhänger der »Partei Gottes« wieder verschwunden. Die meisten Leute unterstützen die Hizbollah ja nur, weil sie dort zum Beispiel eine kostenlose Gesundheitsversorgung erhalten, die ihnen der Staat verweigert. Ich kenne viele ehemalige Kommunisten, die deshalb bei der Hizbollah gelandet sind. Einige europäische Genossen haben uns während des letzten Krieges davon zu überzeugen versucht, die Hizbollah zu unterstützen.

Wer sind diese europäischen Genossen?

Michel: Die »Alternative Libertaire« in Frankreich, mit der wir früher sehr eng zusammengearbeitet haben, hat damit gedroht, uns in der interna­tionalen anarchistischen Bewegung zu isolieren, wenn wir nicht mit der Hizbollah zusammenarbeiten würden. Sie folgen der Logik, dass der Feind meines Feindes mein Freund ist. Wenn man aber die Situation besser kennt, muss man rasch einsehen, dass auch die Feinde der Feinde Feinde sein können. Nur weil wir die israelische oder US-amerikanische Politik kritisieren, heißt das nicht, dass wir alle Feinde dieser Politik unterstützen würden, egal wie reaktionär diese sind. Ich habe den französischen Freunden damals gesagt, dass ich, wenn ich zwischen Hassan Nasrallah und Jacques Chirac wählen müsste, sofort für Chirac votieren würde. Wenn man selbst in einer gefestigten liberalen Demokratie lebt, will man das aber offensichtlich nicht hören.

Ihr verteidigt also als Anarchisten einen liberalen Staat?

Michel: Das mag auf den ersten Blick absurd sein, aber gerade hier im Libanon wissen wir, dass es noch schlimmere Herrschaftsformen als eine libe­rale Demokratie gibt, etwa die Herrschaft von Warlords.

Nicht nur europäische Linke, sondern auch große Teile der arabischen Linken verfolgen diese Logik des Feindes meines Feindes, insbesondere wenn es um den arabisch-israelischen Konflikt geht. Könnt ihr euch einen Frieden mit Israel vorstellen?

Michel: Wir sind gegen die derzeitige israelische Politik, aber wir Araber müssen uns trotzdem da­mit abfinden, dass es diesen Staat gibt und dass auch dort bereits Generationen von Menschen geboren worden sind und dort leben. Wir sind für eine Zweistaatenlösung und für irgendeine Form von offenem Zugang zu Jerusalem.

*Name von der Redaktion geändert