»Manche glauben, sie könnten goldene Eier scheißen«

Noch bis zum 5. August ist in Basel die Ausstellung »Die Situationistische Internationale (1957-1972)« zu sehen. Die Jungle World sprach aus diesem Anlass mit dem Kunsthistoriker und Autor Roberto Ohrt über die Situationisten, ihre Kunst und Anti-Kunst, über Nicht-Kunst, die Kunstfeindlichkeit der Linken und das Kunstverwaltungsbeamtentum. Weil das ein bisschen viel Kunst auf einmal ist, gibt es erst eine kleine Einführung ins Thema.

Die »Situationistische Internationale« (S.I.) stand für die Schaffung revolutionärer Situationen und für die schöpferische Abschaffung der Kunst. Noch bis zum 5. August ist die Ausstellung »Die Situationistische Internationale (1957-1972)« im Baseler Museum Tinguely (www.tinguely.ch) zu sehen. Kunst, Zeitgeschichte, linke Theorie – warum nicht?

Der Kurator Stefan Zweifel schrieb über die Ausstellung in der Neuen Zürcher Zeitung einen nostalgischen Artikel mit dem Titel »Der letzte Resonanzkörper der Radikalität« und schloss mit einem rückblickenden Zitat des Situationisten Guy Debord: »Niemand zählte auf die Zukunft. Nie gab es größere Freiheit. Ein Film über diese Generation kann nur ein Film über das Fehlen ihrer Werke sein.«

Gerhard Hanloser nahm in analyse & kritik eine andere Perspektive ein: »Kontemplation, nicht Aktion und Veränderung sind das Ziel jedes Museumsbesuchs, so könnte eine aktuelle situationistische Kritik lauten.« Der Blick ist hier auf den konservativen Aspekt von Kontemplation gerichtet: den passiven Konsum.

Es stellt sich eine alte Frage. Welche Möglichkeiten birgt Kunst? In dem vorliegenden Interview mit Roberto Ohrt wird die Debatte über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit subversiver Kunst und Politik auf der Grund­lage situationistischer Theorie fortgeführt.

Was die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Kunst angeht, ging die neue Linke von verschiedenen Grundlagen aus. Normalerweise wurde die Vermischung von Politik und Kunst als Fortschritt für beide Seiten gewertet. Mit den 1968er-Bewegungen und der Konzeptuellen Kunst öffnete sich linke Politik der Frage der Ästhetik, Kunst vergegenwärtigte sich stärker ihrer gesellschaftlichen Verfasstheit. Politik elektrisierte viele 68er geradezu. Es galt, den Alltag und die Kunst zu politisieren.

Die S.I. kann hier als eine Gegenströmung angeführt werden. Sie hatte zwar eine Gemeinsamkeit mit der Politisierung: die Absicht, die Verhältnisse zu verändern. Aber mit der Überwindung von Kapital und Staatlichkeit wäre ebenfalls die Politik aufzuheben. Diese ist die Wissenschaft der rationalen Herrschaft – und nicht die ihrer Überwindung. Die Politisierung von 1968 schuf den Untertanen, der noch seine Fremdbestimmung aktiv mitgestalten will, und der Marsch durch ihre Institutionen führte bis in die Regierung der Hartz-Reformen. Politisierung fixierte den Horizont der Proteste auf der Ebene der vergleichenden Regierungslehre, und zugleich regredierte die Ästhetik der Linken teilweise wieder auf politische Plakate und Leninbilder.

Die S.I. bestand nicht einfach aus geschulten Marxisten. In manchem hing ihre Theorie beispielsweise der Kritischen Theorie hinterher. Aber da war, neben ihrer Verweigerung gegenüber dem Bestehenden, ein anderer Aspekt, von dem bis heute ihre Faszination ausgeht. Eine poetische, subjektive Sprechweise unterschied sich vom linken Herrschaftsmanagement und ließ einen in den besten Sätzen etwas Utopisches spüren, das sonst der Kunst vorbehalten ist. Im Ausblick der situationistischen Agitations­schrift »Das Elend der Studenten und der Beginn einer Epoche« fällt die Politik unter den Tisch, und die S.I. schreibt über das revolutionäre Proletariat: »Es kann sich nicht aufheben, ohne zugleich Kunst und Philosophie zu verwirklichen.« Der Ausblick oszilliert zwischen Programm und Poesie: »Radikale Beseitigung und ungehinderte Neugestaltung aller von der entfremdeten Wirklichkeit aufgezwungenen Werte und Verhaltensweisen ist sein Maximalprogramm, und die befreite Kreativität bei der Konstruktion aller Augenblicke und Ereignisse des Lebens ist die einzige Poesie, die es anerkennen kann, eine Poesie, die von allen gelebt wird, der Beginn des großen Festes der Revolution. (…) Das Spiel ist die letzte Rationalität dieses Festes, Leben ohne tote Zeit und Genuss ohne Schranken seine einzig anerkannten Regeln.«

Die Verwandlung der S.I. von einer Künstlergruppe zu einer ­Antikünstlerorganisation war nicht so widersprüchlich, wie es scheint. Die Antikunst war ein Versuch, die subversive Möglichkeit, die in Kunst steckt, aus ihrer abgetrennten Sphäre heraus in das Alltagsleben zu befördern. Kunst ist keine einfache Verlängerung der Herrschaftsverhältnisse, sondern sie beinhaltet Wandelbarkeit, Individualität und die Möglichkeit, einen Schritt weiter zu gehen als im realen Leben. Was ist schlecht an Kontemplation? Auch die Aburteilung einer l’art pour l’art hat ihre Schwäche. Ein Leben jenseits von Warenform und Zweckbestimmung? Es wird von unpolitischer Kunst weitgehender vorweggenommen, als es politische Kunst vermag. Claude Monets Versenkung in Seerosen, Wasseroberflächen, Farben, Stimmungen erzählen mehr von einem Leben jenseits der Warenform, als es künstlerische Agitationsbilder vermögen. Wenn sich Kunst als Zweck setzt, verliert sie einen Impuls, der über den vorherrschenden Verwertungszwang hinausweist. Die S.I. versuchte, die gesellschaftlichen Antagonismen mit den Schwächen und den Stärken von Kunst zusammenzuführen.

***

In der iz3w 299 wurden in einem Artikel »Allan Sekula, Martha Rosler und der künstlerische Internationalismus« vorgestellt. Es ging in dem Artikel darum, dass Kunst nicht an poetischer Kraft verlieren muss, um politisch zu sein. Vielmehr hat nach 1968 die Kunst die (linke) Politik und diese die Kunst bereichert. Aber zumindest im Realsozialismus gab es die Indienstnahme der Kunst – wie stellt sich dir diese Beziehung dar?

Vielleicht sollten wir etwas vorsichtiger sein mit dem doch sehr groben Werkzeug »Politik und/oder Kunst«. So genannte linke Kunst hat ja genauso viele Schwächen wie etwa linke Politik oder nicht-linke Kunst. Die Situationisten waren gegen beides, gegen die selbst verursachte Eingrenzung, die in beiden Bereichen herrscht. Sie konnten diese Verengung nicht gebrauchen, denn sie hatten eine Vorstellung von etwas Besserem. Eine Zeit lang war es hilfreich und verlockend, die Geschichte der Situationistischen Internationale in diesen Begriffen zu fassen. Grob gesehen gab es da zuerst eine »künstlerische« und dann eine »politische« Zeit, also die Jahre von 1957 bis 1962 und die Zeit von 1962 bis zur Auflösung 1972. Ich habe diese Vereinfachung auch deshalb benutzt, weil ich gegen die Geschichte des »Erfolgs« im Politischen an den überholten Konflikten und den verworfenen Bindungen aus der Anfangszeit der S.I. festhielt. Das Kunst/Politik-Schema lässt allerdings allzu leicht vergessen, wie sehr die Situationisten ihre Strategie gegen die gesamte linke Politik entwickelt hatten, und dieser Widerspruch, diese radikale Opposition, geriet vor allem aus dem Blick, wenn es um Kunst ging, denn die Linke lehnte ihrerseits im Zuge der sechziger Jahre und noch mehr in den Siebzigern nahezu jede Form der Kunst ab, wenn sie denn überhaupt einen Bezug dazu hatte. Sie schien insofern eine gemeinsame Grundlage mit den Situationisten zu haben, und natürlich gab es da tatsächlich einige bezeichnende und unerfreuliche Parallelen.

Immer noch gelten in Sachen Kunst/Politik gewisse Vorlieben, die schon damals zu beobachten waren. Immer noch wird von der Linken eine bestimmte Art der Kunst bevorzugt oder wird von so genannten linken Künstlern ein Instrumentarium geschätzt, das Übereinstimmung mit diesen alten Vorlieben signalisiert, wie etwa der dokumentarische Stil, das Versprechen der Parteinnahme oder eine Ästhetik, die keine Ästhetik sein will. In diesem Spektrum fallen zwei Tendenzen auf:

Eine Tendenz legt besonderen Wert auf Solidarität mit den Opfern und entwickelt im Hinblick auf das Elend oder die Armut der Schwachen eine demonstrative Zurückhaltung im Ausdruck. Die Anhänger dieser Tendenz suchen also alle möglichen Stilmittel, die diesem Leiden – wie sie meinen – gerecht werden, was durchaus an eine kirchliche Enthaltsamkeit oder Opferbereitschaft erinnert und die ganze Problematik der Stellvertreterpolitik und Befreiungs­ideologien aufwirft. Sie bevorzugen einen antiheroischen Stil der Betroffenheit – obwohl sie zumeist erst dann wirklich »betroffen« sind, wenn das verehrte Opfer seine Sprachlosigkeit aufgibt und sich äußert.

Die Protagonisten der anderen Tendenz inszenieren sich als Akteure oder Aktionisten. Sie umgeben sich mit Zeichen des Konflikts, der Straße oder radikaler Theorie, auch wenn es sich nur noch um Zeichen handelt, wenn also weder Aktionen noch theoretische Kämpfe stattfinden und die »kämpferischen« Spuren diesen Mangel nicht mitteilen oder fokussieren, sich also mit der Ahnung einer aktionistischen Stimmung begnügen.

In beiden Fällen treten nun auch wieder einige alte Nebenwirkungen und Hauptdarsteller der Arbeiterbewegung auf. Da wäre vor allem die Figur der moralischen Entrüstung zu nennen, die den Konflikt um ihre Behauptungen mit einer erhitzten Moralisierung verwaltet und sich für erlittene Kritik oder verletzte Eitelkeit an ihren Gegnern rächt, indem sie sie mit Ausschluss überzieht: Einkreisen, Anklagen und Verurteilen war schon immer das Programm der Moralisierung.

Formalismus und die Indienstnahme der Kunst sind jene anderen Phänomene, die aus der linken Tradition bekannt und immer noch beliebt sind. Die Künstlerinnen und Künstler sollen sich gegenüber dem Zentrum der Aus­einandersetzung, dem wirklichen Kampf oder den wahren Interessen (oder was auch immer da die Führung beansprucht) auf eine illustrative Funktion, das Zuliefern von lustigen Ideen oder Designfragen beschränken. Diese Ansprüche an die Kunst haben heute bekanntlich weder eine große Organisation noch einen bürokratischen Apparat hinter sich, also nichts, was in der Vergangenheit die komischen Beiträge der Bürokraten garantierte, aber sie blühen sehr prächtig auch ohne diesen Hintergrund; ob sie sich nun Aktivisten, Kuratoren oder Künstler nennen, als Helden der nicht mehr vorhandenen Partei machen sie sich den »Auftrag« umso rigoroser individuell zu eigen.

Gibt es nicht auch gute Gründe für die Autonomie der Kunst?

Es gibt nicht nur genügend Gründe für die Autonomie der Kunst, sondern für jede Art der Autonomie; es gibt immer noch genügend Gründe dafür, dass jeder sein Leben selbst bestimmt, jede Art der Freiheit, des Glücks, des Überflusses, der Verschwendung und des Rausches sucht. Die Kunst ist ein Feld, eine Form der Produktion, die einen Begriff von diesen Wünschen bereithält, Wissen und Techniken dazu übermittelt, sie mit ihrer ansteckenden Kraft erinnert und ihre Dimensionen ständig erweitert.

Ich habe die Ausstellung im Museum Tin­guely gesehen. Aber ich fand sie nicht aufregend (Die Maschinen von Jean Tinguely haben mich mehr angesprochen). Aber dann dachte ich: Die Situationisten darf man heute ins Museum stecken, warum nicht. Aber sie sind dafür nicht geeignet. Ein Beispiel: Ich betrachte eine »Carte De Paris Avant«, Zeugnis des Umherschweifens. Aber es sagt mir wenig. Situationistische Aktionen waren nicht so gedacht, dass man sie betrachtet und dann etwas erfahren hat. Es kann nicht wirklich funktionieren (Die Tinguely-Maschinen sind genau für diesen Zweck gemacht und haben funktioniert).

Ich habe die aktuelle Ausstellung über die Situationistische Internationale auf ihrer ersten Station in Utrecht, also im kleineren Umfang und etwas anderer Form, und in Basel gesehen: sie ist – verglichen mit dem Üblichen im Bereich der musealen Verwaltung – eher ungewöhnlich aufgebaut, verglichen mit einer von Künstlern frei gestalteten Ausstellung allerdings eher hilflos und bemüht. Kuriose Momente lassen sich wohl bei dem Zusammentreffen der situationistischen Geschichte mit den bestehenden Institutionen nicht vermeiden. Die Eröffnungsfeier für die Ausstellung in Utrecht beispielsweise fand in einer Kirche statt, gleich neben dem Museum. Für Holland und seine Situationisten konnte das bestenfalls als Witz verstanden werden, aber die Sache war todernst, also eine richtige Farce. Dass eine Kirche soziale Verständigung weder will noch braucht, ist zunächst befremdend, im Grunde aber konsequent. An diesem Tag allerdings beglückten die kahlen Wände des Puritanismus ein nichtreligiöses Publikum mit ihrem Überfluss an Schall. Während verschiedene Redner sich am Mikrofon abmühten, um die S.I. irgendwie zu würdigen, zogen die schmucklosen Mauern jedes Wort in ein undurchdringliches Gemisch aus Echo und Hall.

Eine Ausstellung mit dem Nachlass der Situationisten zu machen, ist übrigens ähnlich schwierig und gelingt genauso selten wie etwa eine Ausstellung über die Surrealisten oder Dadaisten, eine Hommage für Marcel Duchamp oder Kasimir Malewitsch, ein Rückblick auf Paul Thek, Martin Kippenberger, Jason Rhoades oder Dieter Roth … um nur einige aktuellere Beispiele zu nennen. Es ist ohnehin schwierig, in Museen oder anderen Institutionen auszustellen. Wer die Kunst der vier zuletzt genannten Künstler kennt, kann das sofort sehen, und jeder Künstler, der heute in diesem Bereich mit einer deutlichen Vorstellung seiner eigenen Praxis agiert, kann über die entnervenden Probleme mit Verwaltungsbeamten, Kuratoren, Archivaren, Museumsdirektoren oder wie sie alle heißen … all diese Figuren, die in der Kunst eigentlich nichts zu suchen haben, länger reden als ihm lieb ist – die Realität ist immer noch überraschender als all unsere Befürchtungen. Das ist im Übrigen ebenso lästig wie etwa die so gern beklagten Vermarktungsprobleme, also der Einfluss von Galeristen, Sammlern und Auktionshäusern oder Lifestyle-Magazinen und Journalisten.

Die »Werke« der Situationisten werden heute in Museen oder in privaten Sammlungen aufbewahrt und dort gezeigt, wie auch immer das nun aussehen mag. Das sind die Bedingungen, das sind die Zustände, mit denen wir ja nicht nur in dieser Frage im Konflikt leben. Ich würde weder sagen, situationistische Dokumente dürfen dort nicht gezeigt werden, noch einfach zustimmen und dann auch gleich den ganzen Rest schlucken, also etwa eine Ausstellung, die an dem Auftrag, ihren Gegenstand angemessen in Erinnerung zu halten, scheitert. Das gilt – wie schon gesagt – in viel größerem Umfang. Die Verwaltung der kulturellen Güter wurde im Zuge der Umschichtung ihrer finanziellen Grundlage so sehr unter Druck gebracht, sie wurde so sehr auf größeren Publikumsverkehr, mehr Ausstellungen oder andere Signale einer vermeintlichen Effektivität getrimmt, dass der Nachlass nicht nur inhaltlich nicht mehr begriffen wird, sondern fast schon materiell in Gefahr ist.

Was nun die Exponate selbst betrifft, die erwähnte psychogeographische Karte etwa, so sind dies die Gegenstände, die von den Situationisten produziert wurden. Jedem steht frei, sie für sehenswert zu halten oder nicht. Jeder kann damit sein ästhetisches Vergnügen haben oder aber bezweifeln, dass sie einen solchen Genuss fördern oder diese Dimension haben. Mag sein, dass die mit den Exponaten verbundenen Phantasien in den Texten oder vom Hörensagen brisanter, spannender oder intensiver waren und dass das »museale Erlebnis« nun enttäuschend verläuft. Der historische Beitrag der Bewegung sollte für diesen Mangel nicht in die Waagschale geworfen werden. Im Archiv können die Schriften untersucht, als Exponate können sie nur »betrachtet« werden, und wenn es um das Verhältnis der Situationisten zur Ästhetik oder die Ästhetik der Situationisten geht, dann müssen sie betrachtet werden. Das gilt allemal da, wo die situationistische Verwerfung der Kunst ihre Verehrer hat. Die Anhänger dieser Lesart möchten immer noch alle möglichen letzten Konsequenzen aus ihrer Geschichte ziehen und verlangen dann zumeist nichts weiter als Respekt für das radikale Beispiel. Es gibt da einige Starrköpfe,Vincent Kaufmann oder Anselm Jappe, die Guy Debord wie den letzten Mohikaner der Moderne verehren und als Gralshüter seiner Geschichte auftreten, ohne zu merken, wie lächerlich ihr Rückzug in die romantische Nische der Vergangenheit ist, denn gerade die Situationisten hatten ein besonderes Vergnügen daran, sich über die Einfallslosigkeit ihrer Verehrer lustig zu machen.

Mit diesen Dingen – einer psychogeographischen Karte, Flugblättern und Plakaten, der Zeitschrift – war die Praxis der S.I. verbunden. In den letzten Jahren ist sehr viel neues, noch nicht gezeigtes Material dazu aufgetaucht, und natürlich sollte es gezeigt werden – was denn sonst? Allerdings war davon schon einiges bekannt, genug jedenfalls, um das künstlerische Element der S.I. wahrzunehmen, und Fetischismus gegenüber den Objekten lenkt natürlich davon ab. Für die situationistischen Produkte gilt im Übrigen, was die Kunst nicht nur in der Moderne verlangt. Betrachtung, die Fähigkeit, sie zu sehen und zu verstehen, ein Vergnügen mit ihnen zu haben, ist nicht ohne eigene Beteiligung zu haben.

Welchen Beitrag leistet die Ausstellung für eine historische Würdigung der S.I.? Und welchen Beitrag leistet sie für die Diskussion um eine kritische Reaktualisierung der »Situationistischen Internationale«?

Um eine »historische Würdigung« oder »kritische Reaktualisierung« geht es mir nicht. Der Stoff der Vergangenheit ist nie erschöpft, und wenn wir ihn aktivieren wollen, wenn wir die Mittel dazu hätten – diese Mittel sind in Museen und ähnlichen Institutionen ja nicht zufällig gebunden: sie werden dort kontrolliert –, dann für ein maximales Spiel mit diesem Stoff; dann soll er mit seinem ganzen Reiz wieder zur Verführung der Jugend und zur Erweiterung unserer Vorstellungen eingesetzt werden. Die S.I. bietet einen großen Überfluss an Ideen, Wünschen, phantastischen Plänen, Intelligenz und Eleganz. All das kann extrem ansteckend sein, und im Grunde gehört nicht viel dazu, es in diesem Sinne zu zeigen, zumal diese Perspektive als Forderung in dem Material steckt (Anti-­Copyright, Zweckentfremdung). Die Ausstellung in Basel präsentiert immerhin einiges, was noch nie im Original zu sehen war, aber sie leidet doch sehr unter der Notwendigkeit, all das in den Rang museumswürdiger Exponate zu erheben. Auch das bringt die größere Aufmerksamkeit nun mit sich. Vor einigen Jahren hätten wohl auch die Eigentümer der Exponate eine museale Präsentation ihres Besitzes eher als Entwürdigung betrachtet.

Guy Debord gilt als Gegner der Kunst. Weniger bekannt ist seine genaue Position. Er wollte die Kunst ausschließlich durch ihre Verwirklichung abschaffen. Er schreibt, dass »die Wegschaffung und die Verwirklichung der Kunst die unzertrennlichen Aspekte ein und derselben Aufhebung der Kunst sind«. Was kann darunter verstanden werden?

Vorweg möchte ich klarstellen, dass Guy Debord nur einer von insgesamt 72 Situationisten und dass die S.I. ein kollektives Projekt war. Debord war ein entschiedener Verfechter dieser Kollektivität und ist heute sicherlich zu Recht einer der wenigen, dessen Rolle sehr viel Aufmerksamkeit findet; das ist erfreulicherweise mehr und besser, als diese Geschichte – wie in den siebziger und achtziger Jahren – völlig zu verdrängen. Allerdings wird er mittlerweile viel zu sehr als der einzige wichtige Autor unter den Situationisten hervorgehoben, und diese Personalisierung, die leider auch von seinen Erben betrieben wird, entzieht der Geschichte die brisanten Momente, also vor allem den Teil, der heute wichtig, der für eine Aktualisierung notwendig wäre. Die Geschichte wird unter seinem Namen zu Grabe getragen – das war schon immer eine Spezialität bürgerlicher Geschichtsschreibung.

Guy Debord war in den fünfziger Jahren in anderer Weise gegen die Kunst als in den sechziger oder siebziger Jahren, und am Ende seines Lebens hat er sich sogar selbst als Künstler begriffen. In den fünfziger Jahren entwickelte er gemeinsam mit anderen Künstlern die S.I. als eine revolutionäre Organisation. Die scharfe Kritik an den Begrenzungen, unter denen die künstlerische Praxis seinerzeit litt und die sich auch in den ersten Ansätzen zur Ausweitung des Kunstbegriffs nicht wirklich auflösten, führte Anfang der sechziger Jahre zu einer Radikalisierung und Polarisierung, in deren Verlauf die S.I. sich letztlich gezwungen sah, all jene Situationisten auszuschließen, die zu sehr mit einer künstlerischen Praxis identifizierbar waren oder sich nur damit identifizieren wollten. Ich habe in verschiedenen Texten zu zeigen versucht, dass diese Trennung, abgesehen einmal von den individuellen Schwächen oder Stärken der Einzelnen auf beiden Seiten des Konflikts, einerseits einer taktischen Bewegung folgte, die das fiktive oder künstlerische Element in der Konstruktion der S.I. schützen sollte; andererseits entwickelte sich das Ganze mit einer Dynamik, die auch die Situationisten nicht mehr beherrschten. Kernpunkt meiner These ist, dass die S.I. selbst in ihrer gesamten Anlage und in ihren Details, etwa in der Gestaltung ihrer Zeitschrift oder den Vorschlägen der Praxis, einen künstlerischen Entwurf verbarg. Die Konstruktion dieser Internationale war von Fik­tionen, Phantasien, Bluffs und Anmaßungen durchzogen. Bewusst wurde die Behauptung einer Organisation als tatsächlich zur Verfügung stehendes Instrument mit Irrwegen oder Täuschungen versetzt. Dieses fiktionale Element gehört zu dem Besten, das die Situationisten der revolutionären Bewegung überbrachten, denn es geht dabei um den Zugang zur revolutionären Initiative, die Frage der »Organisierung« und das Verhältnis der unmittelbaren Praxis zur Notwendigkeit der Revolution, die Frage der Verwirklichung. Vieles haben sie dafür mit großem Geschick aus der Ruine des Surrealismus geborgen und für eine Fortsetzung der poetischen Subversion nach dem Zweiten Weltkrieg neu aufgebaut.

Um 1962 wurde es dann in der S.I. aus zwei Gründen schwierig für die Kunst: Situationisten wie Raoul Vaneigem, Attila Kotanyi, Michèle Bernstein und Guy Debord wollten nicht in den Verdacht geraten, dass sie wie Clowns, Zauberer oder eben Künstler ein Spiel betreiben – nicht dass ich hier missverstanden werde: Dieses Spiel war so angelegt, dass es in die Realität eingriff und sie veränderte; es aktivierte die Kraft der Vorstellung, die Mächte der Wünsche und die Magie der Intelligenz. Es durfte allerdings nicht als eine Fiktion oder Suggestion, mithin als Kunst erkennbar sein. Deshalb musste die S.I. sich der »Kunst« als einer benennbaren Praxis von Situationisten entledigen. Die allzu konkrete Praxis – ob nun von Asger Jorn, Alexander Trocchi, Uwe Lausen, Constant oder Heimrad Prem – wurde zum Konkurrenten des allgemeineren Auftrags. Außerdem wurde die Kunst in der inneren Auseinandersetzung von 1959 bis 1962 auch von den Künstlern selbst gegen den unkonkret und fiktiv bleibenden Anspruch einer situationistischen Praxis in Anschlag gebracht. So mussten die Künstler zwangs­läufig den Schauplatz räumen. Das Feld der Erfindung brauchte im Übrigen diese erbitterten Kämpfe, es brauchte die Gefahr des Ausschlusses und der dramatischen Trennung als Brennstoff. Es ist also müßig zu spekulieren, ob es lustiger gewesen wäre, wenn die Künstler unter den Situationisten seinerzeit mit der Fiktion und ihren Ansprüchen anders hätten umgehen können. Dazu waren weder sie in der Lage, noch konnten die Wortführer der »Anti-Kunst« eine Spannung hin zur Fiktion entwickeln, die es allen ermöglicht hätte, diesen Drahtseilakt ohne Netz fortzusetzen. Leider ging die Spannung hin zum Künstlerischen, zum Spiel mit dem Fiktiven, nach 1962 in der S.I. deutlich zurück. Auch das zeigt, wie sehr die antikünstlerische Behauptung und die Fiktion einer anderen Praxis von dem Konflikt und der Auseinandersetzung mit den Künstlern lebten, wie sehr sie also aus dem Konflikt in der Kunst hervorging.

Verwirklichung der Kunst durch »Aufhebung«, wie sie die anti-künstlerische Fraktion wollte, also die Abschaffung der Kunst durch ihre Verallgemeinerung oder Vergesellschaftung, bedeutet ja nichts anderes, als eine poetische Gestaltung nicht nur im Werk zu suchen oder in der Fiktion einer Internationalen, sondern im ganzen Leben, eine poetische Revolution, die jeder Beteiligte als Abenteurer seiner Leidenschaften herbeiführen würde. Die anti-künstlerischen Situationisten verschärften diese Perspektive zu dem Vorwurf, dass die poetische Kraft in Kunstwerken abgelenkt, isoliert und entmächtigt wird, dass die Kunst also verhindert, sie aufs ganze Leben auszudehnen – eine beeindruckend simple Logik, die sich mit allen möglichen schlechten Beispielen aus dem Kunstmarkt und der Politik von Galeristen schnell zu einem schlagenden Argument ausbauen lässt. Asger Jorn setzte dagegen: »Keine Macht der Einbildungskraft ohne mächtige Bilder.« Für die Konsequenz der anti-künstlerischen Logik bis heute hieße das: Enthaltsamkeit führt nicht nur in der Kunst zu Dogmatismus.

Guy Debord kritisierte die verkürzte Kritik von Kultur oder Medien. Es sei keine mediale Manipulation, sondern es sei letztlich der Warenfetischismus, »der die sinnliche Welt durch eine über ihr schwebende Auswahl von Bildern ersetzt«. Welche Bedeutung kann das heute haben?

Die S.I. entstand in den fünfziger Jahren – nach den Lettristen und Cobra und neben einigen weniger geschickt agierenden Initiativen wie etwa den Künstlern am ICA in London oder den Nouveaux Réalistes – aus dem Zusammenschluss einer Hand voll sehr handlungsfähiger, beweglicher und erfindungsreicher Künstler. Sie war von 1957 bis 1961 das produktivste Kollektiv in Europa, und sie entwickelte eine Aufmerksamkeit für die moderne Entwicklung des Kapitalismus, wie sie seinerzeit nur ansatzweise in politischen – »Socialisme ou Barbarie« – oder in künstlerischen Gruppierungen zu finden war. Theoretische Untersuchungen dazu gab es zur Genüge, wie etwa seit den dreißiger Jahren aus der Frankfurter Schule, aber als künstlerisch praktischer Verband hat nur die S.I. dieses Wissen unmittelbar angewandt, um es an sich selbst, am eigenen Einsatz in der Gegenwart zu erleben. Diese Ausnahmestellung ist direkt verbunden mit dem schon beschriebenen künstlerischen Element innerhalb der S.I., dem Gespür für die Macht der Fiktion. Das Spektakel ist eine Herrschaftsform, die sich ebenfalls auf Suggestion, Illusion, Faszination, Täuschung und Verführung verlässt. Sie überträgt einen bedeutenden Teil ihrer Gewalt den Bildern, sie ist mit Informationsapparaten und Traummaschinen bewaffnet. Guy Debord hatte diesen merkwürdigen magischen Effekt besonders gut im Blick, den Widerspruch zwischen Verzicht auf Gewalt und despotischer Herrschaft, also das Funktionieren einer diktatorischen Ordnung, die ohne offenen Zwang auszukommen scheint. Gegen den Schein der Freiheit und die Propaganda einer Überflussgesellschaft musste es ihm besonders darum gehen, das diffuse despotische Element des »freien Westens« deutlicher zu beschreiben. Wir sind heute viel weniger überrascht von dieser Seite der Warenwelt, denn sie entfaltet sich seit einigen Jahren mit ungeheurer Macht als Kriegsgesellschaft, und die mediale Manipulation tritt viel unverfrorener als das Fürstentum einer Celebrity-Welt und als Instrument neokonservativer oder neofaschistischer Machtcliquen auf, nach Berlusconi und Bush nun unlängst Sarkozy mit großem Erfolg in Frankreich. Allerdings kippt diese verschärfte Beschreibung des Despotismus leicht über, und dann nutzt sie ihr Gespür lediglich zur Erpressung einer Dringlichkeit, die in der Zuspitzung bald nurmehr Freund oder Feind zulässt. Das führt zu den alten Problemen autoritärer Organisationen.

Es gibt gute Gründe für eine gegenwartsbezogene, kritische Reaktualisierung situationistischer Theorie und Praxis bzw. für deren Nutzbarmachung für gegenwärtige Theorie und Praxis. Die Autoren des Bandes »Spektakel – Kunst – Gesellschaft« versuchen genau das. Wo siehst du ihre Stärken und Schwächen?

Ich kenne das Buch, aber nicht die Praxis seiner Autoren. Im Rahmen der linksradikalen Geschichte und für die Linke – die Verdrängung, die dort so lange und so hartnäckig gegenüber den Situationisten wirksam war – rücken sie einiges zurecht. Das ist lesenswert, aber dann kommt leider wieder das alte, gut bekannte Problem ins Spiel, das von der Linken bis in die S.I. hineinragt: Jeder schwingt sich zum Richter und Henker über seinen Nächsten auf, jeder ist selbst der Radikalste, und alle wollen gleichzeitig unerkannt bleiben. Es geht also um die schöne »Sprecherposition« mit ihren theologischen Spitzfindigkeiten und metaphysischen Mucken; mit ihr hatten schon die Situationisten sehr geschickt – vor allem aber als Akteure – ihr Unwesen getrieben. Die konstruierte Identität der neuen Freunde des situationistischen Spiels bringt da wirklich nichts Neues. Zur Kunst fällt ihnen nahezu nichts ein, und das wenige zeugt von großem Unverständnis. Wenn sie sich schließ­lich an eine Kritik der S.I. machen, hören wir nur noch die Kirchenmusik der Gegenwart. Waren die Situationisten frauenfeindliche Männer, Verschwörungstheoretiker oder Antisemiten? Um Gottes Willen, sie waren möglicherweise all das zusammen! Wo es um die Klärung solcher Gewissensfragen geht (sie erinnert an die standardisierten Selbstkritikrituale des Stalinismus), ist das Publikum nur zu bekannt; es verwaltet mit seinem Generalverdacht das eigene Unvermögen zur praktischen Initiative. Hier wollen alle nur die beste Außenpolitik betreiben. Warum geht es diesen Leuten überhaupt um die S.I.? Es gibt im Übrigen ziemlich viele Publikationen zur S.I., und darunter sind einige sehr viel interessantere und weniger dogmatische wie etwa die von Jean-Marie Apostolidès.

Die S.I. bestand nicht zuletzt aus Künstlern und Künstlerinnen. Wo könnte heute im oder in der Nähe des Kunstbetriebes von einem Fortleben solcher Aufhebungstendenzen die Rede sein?

Es gibt in der Kunst zurzeit etliche direkte und indirekte Rückgriffe auf die Situationisten, und es gibt parallele Entwürfe, die sich weder explizit noch verdeckt auf sie beziehen. Die Popularität der Situationisten ist sehr vielschichtig, aber sie sorgt dafür, ob nun in guten oder schlechten, schlauen oder dummen Ansätzen, dass ihre Geschichte mit all den wunderbaren Rätseln zugänglich bleibt. Ich möchte auf eine Hand voll bleibende Konstanten in der Kunst hinweisen.

Da ist zunächst die Lust an einem völligen Neuanfang. Die Kunst vermittelt immer noch diese Lust, so radikal wie möglich alles umzuwerfen und nichts gelten zu lassen, um ganz und gar nur mit den eigenen Kräften weiterzumachen. Sie provoziert also ein extremes Wagnis, denn sie fordert von den Einzelnen in diesem Moment die größte Verantwortung.

Daher gibt es in der Kunst immer wieder die Suche nach dem, was Nicht-Kunst ist, nach Produkten, die nicht wie Kunst erscheinen, sich also nicht auf die Sicherheit ihrer Anerkennung als Kunst verlassen wollen. Es geht dabei um eine ganz andere Bedeutung des Kunstwerks, eine viel grundsätzlichere Wirkung und die Möglichkeit, außerhalb aller Vereinbarungen und Vermittlungssysteme zu stehen. Dafür scheint es heute in einem Kunstmarkt, der mehr denn je im Rampenlicht der Gesellschaft steht, sehr schwierig zu sein, und doch passiert es immer wieder.

Des Weiteren gehört zur Kunst die Unverschämtheit der Selbstbehauptung, also eine Konstruktion der eigenen Tätigkeit, die den gesellschaftlichen Zuschreibungen in jeder Hinsicht widerspricht, die eine systematische Unangemessenheit im Entwurf der eigenen Rolle entwickelt. Raymond Pettibon bestimmte in einem Interview (Katalog seiner Ausstellung in der Kestner-Gesellschaft, Hannover 2007) die Unzuverlässigkeit als den gemeinsamen Nenner der Künstler und betonte außerdem, dass niemand aus diesem Kreis ausgeschlossen sei. Das gilt natürlich, auch wenn heute vom Künstler­individuum zunehmend verlangt wird, sich selbst als originelle und exklusive Person zu den Werken mitzuliefern. Es ist unwichtig, dass irgendwelche Künstler oder Künstlerinnen ihre persönliche Originalität nur entwickeln, um irgendeine dumme Malerei oder nette Skulpturen an den Mann zu bringen. Die Unzuverlässigkeit oder Unüberprüfbarkeit der Fähigkeit gehört unmittelbar zum Kern der Frage, wie ein Werk entsteht.

Die Lust zum Angriff auf die Gegebenheiten und die in ihnen herrschenden Verhältnisse ist in der Kunst mit einer ebenso großen praktischen Phantasie verbunden, also einem ­extremen Gespür für Verwirklichung, für unmittelbare Umsetzung und eine utopisch vorausgreifende Kraft, die im Kunstwerk dann in den verschiedenen Formen aufstrahlt, als unverhoffte Rettung, eine Sprache der Liebe, eine Vorstellung von Glück und – das ist heute vielleicht noch wichtiger – als ein Begriff von Gewalt. Die S.I. war in dieser Hinsicht die Verheißung eines solchen Ausbruchs durch Text und Theorie, nicht so sehr durch Bilder und Kunst im engeren Sinne. Dennoch hat sie eine Fülle von Bildern mit sich gebracht, mehr als sie selbst zugeben und in ihrer Sprache oder der Poesie ihres Entwurfs erkannt sehen wollte.

Schließlich bleibt nun – nach der individuellen Freiheit – die Frage der Kollektivität. So wie sie in der S.I. organisiert wurde, gibt es sie derzeit nicht. Das Feld der Kunst ist allerdings immer noch – auch nachdem es sich so sehr ausgedehnt hat und deutlich hierarchisiert wurde – ein extrem soziales und kommunikatives System. Es ist das bei weitem vielschichtigste Kommunikations- und Bewegungssystem, viel weniger reglementiert zum Beispiel als das »politische« Feld. Natürlich wäre es verlockend, sich hier eine Auseinandersetzung zu wünschen, die es mit der poetischen Radikalität der Situationisten aufnehmen könnte, aber von der »politischen« Bewegung wäre diese Deutlichkeit wohl kaum zu erwarten, denn dort herrschen immer noch unfreie Diskussionen vor, begleitet von einer Praxis, die sehr einfallslos gestaltet ist. Ich kenne nur wenige Gruppierungen oder Individuen am linken Rand der Linken, die ohne den Reflex der Sprachkontrolle, des Ausschlusses und der moralisierenden Schuldzuweisung auskommen. Die Fähigkeit, mit Widersprüchen, Streit und Provokationen in den eigenen Reihen zu leben, also die Fähigkeit zu einem wirklichen Bündnis, ist in der Linken extrem unterentwickelt.

Individualisierung oder Personalisierung der Kunst durch den kommerziellen Erfolg, durch Selektion und Spaltung, territoriale Fixierung und Selbstbeschränkung, sich also zu einem markanten Stilträger zu entwickeln, die eigene Marke dann gegen alle Übergriffe zu verteidigen und immer auf der einmal gewählten, engen Bahn zu bleiben, ohne auszuscheren … das alles gibt es in der Kunst zu Genüge. Manche Künstler glauben ja, wenn sie plötzlich gut verdienen, sie könnten goldene Eier scheißen. Zu viele Ausstellungen sind langweilig, stereotyp und einfallslos, viele Initiativen und Ideen, die am Anfang noch belebend wirken, verlieren unter diesen Bedingungen ihren ganzen Reiz, aber eine solche Beschreibung des Elends in der Kunst macht auch deutlich, dass nur die Radikalisierung der individuellen Freiheit dem Kollektiv der Kunst neue Impulse geben kann.

Text und Interview: Winfried Rust