Strategie des effizienten Chaos

Die Fähigkeit zur ständigen Metamorphose ist die stärkste Waffe von al-Qaida. Dementsprechend schwer fällt es westlichen Sicherheitsdiensten, auf die Bildung von Terrorgruppen zu reagieren. Der Rückzugs­raum im pakistanisch-afghanischen Grenz­gebiet ist längst nicht mehr die einzige Keim­zelle des internationalen Terrorismus. von martin schwarz

Für Touristen sind All-inclusive-Urlaube das Sinn­bild sorgenfreien Müßiggangs. Ähnliches gibt es neuerdings auch für Terroristen: Wenn gewaltbereite junge Islamisten aus Europa ihre Kenntnisse im Kampf gegen die verhassten westlichen Feindbilder vertiefen und sich entsprechende Kampftechniken aneignen möchten, bieten Mittelsmänner einigen Talenten auch All-inclusive-Kurse direkt im pakistanisch-afghanischen Grenz­gebiet, der Region Nord-Waziristan, an. Im Angebot sind enthalten: der Flug von einer beliebigen westlichen Metropole in die pakistanische Hauptstadt Islamabad, der Transfer vom Flughafen direkt nach Nord-Waziristan, ein mehrwöchiger Aufenthalt in einem Terrorcamp, Kurse in Sprengstofftechnik oder Nahkampf und der Rückflug ins Herkunftsland. Erst vor kurzem wurden fünf in Deutschland lebende Ausländer und zwei Deutsche in Pakistan inhaftiert, weil sie verdächtigt werden, an einem der von al-Qaida angebotenen Trainingscamps teilgenommen zu haben.

Lange war es ziemlich still um die so genannte Terrorzentrale an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan. Lange Zeit war nicht einmal sicher, ob Ussama bin Laden überhaupt noch am Leben ist oder ihn sein von west­lichen Geheimdiensten diagnostiziertes Nierenleiden schon dahingerafft hat. Nun aber rumort es wieder in Nord-Waziristan, jenem paschtunischen Stammesgebiet, das bis vor kurzem für die pakistanische Armee und erst recht für US-amerikanische Truppen jenseits der Grenze in Afghanistan eine absolute No-Go-Area war. »Sie scheinen sich in ihren Rückzugsgebieten und in unkontrollierten Gebieten in Pakistan eingerichtet zu haben«, sagte John Kringen, Leiter der CIA-Analyse­abteilung, vor kurzem vor einem Ausschuss des US-Repräsentantenhauses. »Wir stellen mehr Training fest, es gibt mehr Geld, die Kommunikation verstärkt sich, die Aktivität steigt.«

Einen Mann müssen diese Erkenntnisse besonders beunruhigen: Pervez Musharraf, Mili­tär­herr­scher Pakistans und zumindest offiziell enger Ver­bündeter der USA. Dass auf pakistanischem Hoheitsgebiet Terroristen für die Welt ausgebildet werden, bringt den pakistanischen Präsidenten in eine beinahe ausweglose Situation. Versucht er, mit seinen im Ernstfall nur bedingt loyalen Truppen Nord-Waziristan unter Kontrolle zu bringen, wird er vermutlich scheitern, denn die dort kämpfenden Taliban und al-Qaida-Anhänger sind ins traditionelle Stammessystem der Gegend gut eingewoben und werden daher zumindest von Teilen der Bevölkerung unterstützt. Versucht er, mithilfe von US-Truppen das Gebiet unter seine Kontrolle zu bringen, werden Teile seiner Armee mit ziemlicher Sicherheit meutern und er wird bei der nächstbesten Militärparade hingemeuchelt. Tut er aber gar nichts, könnte dies die USA dazu ermutigen, eigenmächtig zu handeln und Jagd auf Terroristen auf seinem Hoheitsgebiet zu machen. Dann ist er erstens seinen finanziell durchaus lohnens­werten Status als Koalitionär gegen den Terror los und bald darauf vermutlich ebenfalls tot. Allesamt Optionen also, die Musharraf insgesamt in eine Notlage bringen werden – egal, für welche Variante er sich entscheiden wird.

Schon die Erstürmung der Roten Moschee in Islamabad war für die Regierung Musharrafs ein Desaster. Wochenlang lavierte sie zwischen hartem Eingreifen und Geduldsspiel, als die Mo­schee schließlich wieder eröffnet werden sollte, erschütterte ein Selbstmordanschlag die Stadt. »Das war nur ein Vorspiel für das, was passiert, wenn die Religionsschulen nicht entwaffnet werden«, sagte die im Exil in Dubai lebende ehemalige Premierministerin Pakistans, Benazir Bhutto. Sie befürchtet eine schleichende Machtübernahme radikaler Islamisten. Die Schuld daran gibt sie ihrem Widersacher Musharraf, der mit dem Waffenstillstand, den er mit den Islamisten ausgehandelt hatte, einen entscheidenden Fehler begangen habe. Benazir Bhutto nennt das »Be­schwichtigungspolitik«, vielleicht aber will Mu­sharraf nur sein Leben verlängern. Seit einiger Zeit gibt es drum auch Spekulationen, Musharraf sei bereit, seine Macht mit Bhutto zu teilen. Am vergangenen Freitag trafen sich die beiden zu geheimen Gesprächen in Abu Dhabi. Solange Musharraf Armeechef sei, werde es jedoch keine Einigung geben, erklärte Bhutto anschließend.

Die Gründe für die gegenwärtige Terrorgefahr auf die Existenz des »sicheren Hafens« für Terroristen im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet zu reduzieren, wäre zu einfach. Viel­mehr hat sich al-Qaida die Fähigkeit zur Metamorphose erhalten – und ist Sicherheitsdiensten immer einen entscheidenden Schritt voraus. Die Stärke des Systems al-Qaida nämlich liegt darin, dass kein System erkennbar ist. Das lässt sich auch an den Persönlichkeiten bisher identifizierter Attentäter erkennen, die im Namen Allahs morden oder es zumindest versuchen.

Bei den Anschlägen auf die Londoner U-Bahn vor zwei Jahren war der Kopf der Bande Mohammed Sadiq Khan, ein junger Mann aus einem Vor­ort von Leeds, der sich in seiner Gemeinde um die vielen Jugendlichen pakistanischer Herkunft kümmerte, einer der vielen Verlierer aus der zwei­ten Generation der Einwanderer aus Pakis­tan. Er wandte sich in einer Videobotschaft, die er vor den Anschlägen aufnehmen ließ, nicht nur gegen die britische Außenpolitik und den Krieg im Irak, sondern auch gegen traditionelle islamische Hierarchien: Die Gelehrten hätten sich mit »Toyota-Limousinen« und »Einfamilienhäusern« korrumpieren lassen und würden britische Gesetze über jene Allahs stellen. Auch reformatorischer Eifer also gehört zur Motivation des Terroristen – selbst wenn er sich damit gegen tradierte Hierarchien der eigenen Religion stellt.

Auch im Irak hat sich der fundamentalistische Terror sunnitischer Gruppierungen neu entwickelt, nachdem US-Truppen mit viel Aufwand Abu Musab al-Zarkawi getötet hatten. Anstelle des Jordaniers wurde der Ägypter Abu Ayyub al-Masri präsentiert, der vielleicht ein noch größeres Talent als sein Vorgänger hat und, wie im Frühjahr von britischen Sicherheitsdiensten aufgedeckt wurde, selbst Anschläge in Großbritannien planen ließ – als Abschiedsgeste für Tony Blair. Auch das verwirrt die Ermittler: Hatten sie bisher vor allem Pakistan und Afghanistan als Zentralen des Terrors identifiziert, zeigt sich immer mehr, dass auch vom Irak aus Anschläge im Westen geplant werden.

Beunruhigt über das effiziente Chaos, dessen sich die Organisation al-Qaida bei der Planung und Ausführung ihrer Anschläge bedient, muss indes vor allem Europa sein. Nach US-Geheimdienstberichten ist es al-Qaida seit dem 11. September 2001 nicht wirklich gelungen, sich in den Vereinigten Staaten eine personelle Basis gewaltbereiter Islamisten aufzubauen. In Europa dagegen, so heißt es in einschlägigen Berichten, haben sich funktionierende terroristische Klüngel gebildet. Von Befehlen aus der pakistanischen Zentrale sind sie sicher nicht abhängig.