Das Geheimnis der Kokainmumien

Mit der Überquerung des Atlantik in einem Schilfboot will ein Experimental­archäologe beweisen, dass bereits vor 14 000 Jahren Handel zwischen den Kontinenten getrieben wurde. von jörn schulz

Der Pharao war empört: »Ziemt es sich für einen Vater, seinen Sohn zu vergessen?« Während seines Feldzugs im Jahr 1274 v. Chr. war Ramses II. bei Kadesch in Syrien in einen Hinterhalt geraten. Mehr als 1 000 hethitische Kampfwagen brachten seine Truppen in große Bedrängnis, obwohl doch ihm, dem Sohn des Gottes Amun, der Sieg zustand. Zumal er Amun gebührend geehrt hatte: »Ich selbst habe für dich Obelisken aus Elephantine geholt.«

Das stimmte nicht so ganz, für solche Zwecke hatte man schließlich Steinhauer und Träger. Sicherlich hatte der Pharao auf seinem Feldzug auch einen Koch dabei, neben den Söldnern und Elitesoldaten, die ihm schließlich jenen geordneten Rückzug ermöglichten, den seine Schreiber später als glänzenden Sieg feierten. Doch hatte Ramses II. auch einen Tabakbeutel bei sich und rauchte nach der Schlacht eine Zigarre? Ließ er seine Truppen so unvorsichtig vorrücken, weil er morgens eine Line Kokain gezogen hatte?

»Wissenschaftler wiesen in der Mumie Ramses’ II. Spuren von Nikotin und Kokain nach«, heißt es auf der Webseite des Vereins für experimentelle Archäologie und Forschung. Dies gilt als einer der Beweise dafür, dass es bereits seit der Steinzeit einen Transatlantikhandel gab, der unter anderem die Pharaonen mit Pflanzen wie Tabak und Koka versorgte, die nur in Amerika vorkamen.

Um zu beweisen, dass die Überfahrt auch mit einem Schiff möglich ist, wie es Steinzeitmenschen hätten bauen können, segelte eine von dem »Experimentalarchäologen« Dominique Görlitz geführte Crew am 11. Juli mit einem zwölf Meter langen Schilfboot von New York aus gen Osten. Thor Heyerdahl schaffte die Atlantiküberquerung in umgekehrter Richtung bereits im Jahr 1970, doch die West-Ost-Passage ist schwieriger, weil der Wind meist ungünstig weht.

Seeleute der Steinzeit hätten den Atlantik vielleicht überqueren können, dass sie hochseetüchtige Schiffe bauen konnten, beweist die Besiedlung der Inselwelt des Pazifik. Ohne Rettungsinseln, GPS und Funkgerät, die Görlitz lieber doch mit an Bord nahm, wäre die Fahrt jedoch ein sehr riskantes Unterfangen gewesen. Warum sollten Menschen eine solche Reise unternehmen?

»Interkontinentaler Handel – schon vor 14 000 Jahren!« antworten die Experimental­archäologen. Doch damals, als noch kein Getreidefeld angelegt worden und von Verlegern, die Bücher wie »Mit dem Schilfboot durch das Sternenmeer« veröffentlichen, weit und breit keine Spur zu finden war, gab es keine kommerziellen Interessen, die ein solches Unternehmen hätten motivieren können.

Regelmäßiger Handel setzt Ackerbau und Vorratshaltung voraus. Denkbar ist ein Transatlantikhandel erst nach dem Aufstieg der antiken Zivilisationen, der 3500 v. Chr., in Amerika etwa 1800 v. Chr. begann. Hier hat Görlitz ein interessantes Rätsel aufgespürt. Svetla Balabanova, Michèle Lescot und andere Wissenschaftler fanden tatsächlich Spuren von Nikotin und Kokain an ägyptischen Mumien, unter anderem an der von Ramses II.

In Afrika gibt es nikotinhaltige Pflanzen, die den Ägyptern zugänglich gewesen sein könnten. Nur der südamerikanische Kokastrauch produziert Kokain, das allerdings zu den Tropanalkaloiden zählt, die in vielen, unter anderem in Europa vorkommenden Nachtschattengewächsen enthalten sind. Manche Wissenschaftler meinen, bei den vermeintlichen Kokainspuren handele es sich um ein Zerfallsprodukt der Einbalsamierungs­stoffe. Andere führen den Drogenbefund auf spätere Verunreinigungen der Mumien zurück.

Bewiesen ist keine dieser Erklärungen. Doch auch die These, Ramses II. habe vom transatlantischen Drogenhandel profitiert, ist nicht überzeugend. Denn in der Antike wäre niemand immer weiter auf den Atlantik hinausgefahren, am allerwenigsten ein Ägypter, der im Westen das Totenreich vermutete, das er ja noch früh genug erreichen würde. Die Menschen hatten damals ein gänzlich anderes Verständnis von Raum und Zeit. Als abstrakte Kategorien existierten sie nicht, erst durch menschliches Handeln oder theologische Spekulation wurden sie fassbar.

Als Mitte des 14. Jahrhunderts v. Chr. Burnaburiasch, König von Babylonien, erkrankte, war er beleidigt, weil Pharao Amenophis IV. ihm keine Genesungswünsche übermitteln ließ. Der an seinem Hof anwesende ägyptische Gesandte versuchte, den Monarchen zu beruhigen: »Der Weg ist nicht so kurz, dass dein Bruder es vernehmen und dir einen Gruß senden könnte.« Burnaburiasch befragte seinen Boten Salmu, der ihm bestätigte, »dass der Weg lang sei, da ließ ich vom Zorn gegen meinen Bruder ab«.

Der Herrscher der Großmacht Babylonien hat keine Vorstellung davon, wie weit Ägypten entfernt ist. Salmu, sein Experte, beschreibt die Karawanenroute, er gibt keine Entfernungen an, sondern die Reisezeit: drei Monate. Nur der Raum, der von Menschen durchschritten wird, ist fassbar, die Maßeinheit ist die Zeit, in der dies geschieht. Darauf kam es schließlich an: Wenn ein Herrscher einen Feldzug plante, mussten Hofbeamte wissen, wie lange der Marsch der Soldaten dauern würde und wo sie Wasser finden konnten.

Dass Kenntnisse dieser Art unter Experten höher im Kurs standen, belegt der Papyrus Anastasi I, der einen Gelehrtenstreit aus der Zeit Ramses’ II. schildert. »Du nennst dich einen Weitgereisten, aber von Syrien hast du keine Ahnung«, wirft Hori seinem Rivalen Amenenope vor. Die Vorstellung, es gäbe in der Ferne etwas zu entdecken, war jedoch auch den Intellektuellen fremd, ebenso die Idee des Fortschritts. Die Bevölkerung von Agrargesellschaften empfindet die Zeit, entsprechend dem natürlichen Kreislauf der Jahreszeiten, als ewige Wiederkehr des Gleichen.

Alle Priester, Beamten und Soldaten dienten nur einem Ziel: die göttliche Ordnung, deren Verkörperung der Pharao war, zu erhalten. Gewiss, die Träger dieser Ordnung profitierten vom Gottesdienst. Doch sie strebten nicht nach kommerzieller Expansion. Eher nahmen sie ihr Gold mit ins Grab, als dass sie es investiert hätten. Erst um 600 v. Chr., zwei Jahrtausende nach dem Bau der großen Pyramiden, wurde in Ägypten die erste Münze geschlagen.

In dieser Zeit plante Pharao Necho II. eine Umsegelung Afrikas. Doch er schickte nicht seine eigenen Schiffe los, sondern beauftragte Phönizier, so wie jeder, der in dieser Epoche eine riskante Unternehmung zur See plante. Die Juden gingen eine Kooperation mit ihnen ein, um vom Roten Meer asiatische Häfen erreichen zu können. Wenn jemand eine Atlantik-Überquerung gewagt hätte, dann sicherlich die Phönizier. Ihr Reichtum beruhte auf dem Handel und der Manufakturproduktion, sie waren ständig auf der Suche nach neuen Märkten. Weiter als bis zu den Azoren scheinen die Phönizier jedoch nicht nach Westen gesegelt zu sein. Ohnehin begann der Aufstieg ihrer Zivilisation erst um 1200 v. Chr., als Dealer Ramses’ II. kommen sie nicht in Frage.

Den Phöniziern vergleichbare Händler gab es im präkolumbianischen Amerika nicht, die dortigen Agrargesellschaften hatten ebenso wenig Interesse am Überseehandel wie die Ägypter. Frühere Theorien über transatlantische Kontakte befassten sich vor allem mit der Verbreitung zivilisatorischer Errungenschaften. So war Thor Heyerdahl der Ansicht, die Ägypter hätten für den Bau amerikanischer Pyramiden Pate gestanden. Er gehörte zu den Diffusionisten, die die Ansicht vertraten, dass sich die Zivilisation von einer Quelle zu vielen Empfängern verbreitet. Ihre Gegner, die Inventionisten oder Isolationisten, betonten dagegen die Eigenständigkeit: Unter ähnlichen Bedingungen entwickeln Gesellschaften ähnliche Merkmale.

Der Diffusionismus kann mit rassistischen Theorien über »Kulturträger« einhergehen, aber auch »internationalistisch« interpretiert werden, wenn er die Bedeutung des Austauschs von Erkenntnissen betont. Der Inventionismus stellt die gesellschaftlichen Bedingungen in den Mittelpunkt, kann aber zur nationalistischen oder indigenen Borniertheit werden, wenn er den Einfluss alles Fremden leugnet.

Wer Recht hat, ist von Fall zu Fall verschieden. Die amerikanischen Zivilisationen entwickelten sich unabhängig von transatlantischen Einflüssen. In der Frühzeit der Baukunst war die Statik noch unbekannt, ein Monument musste ein Massivbau sein und konnte kaum eine andere Form als die einer Pyramide annehmen. Zudem waren die Pyramiden Amerikas begehbare Tempel, nicht Grabmäler wie in Ägypten.

Andererseits findet Diffusion manchmal da statt, wo man sie kaum erwarten würde. Der wichtigste Exportartikel der Phönizier war eine Idee. Baal, der Sohn des Gottes El, musste in jedem Jahr im Hochsommer sterben und im Frühjahr wiederauferstehen. Ohne Kenntnis dieses Fruchtbarkeitskults wäre unter ihren Nachbarn, den Juden, wohl nicht die Idee aufgekommen, die Hinrichtung eines gewissen Jesus von Nazareth als Opfertod des Gottessohns für die Menschheit zu interpretieren.

Es ist sicherlich kein Zufall, dass Heyerdahl, der seine Forschung wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg begann, die Möglichkeit betonte, »Inspiration und Ideen auszutauschen«, also die Idee der »internationalen Gemeinschaft« in die Vergangenheit transferierte. Görlitz dagegen stellt in der Ära der Globalisierung den Handel in den Mittelpunkt. Anders als in der Epoche Heyerdahls, dessen Thesen leidenschaftliche Debatten auslösten, spielen wissenschaftliche Theorien für die derzeitige Experimental­archäo­logie kaum noch eine Rolle. Görlitz zelebriert die Überfahrt als mediales Ereignis, dessen Verlauf man im Internet verfolgen kann.

Die Reise der »Abora III« ist eine in wissenschaftlicher Hinsicht wenig ergiebige Abenteuer­inszenierung. Das ist an sich nicht verwerflich. Dennoch wäre es angebracht, den antiken Zivilisationen größere Beachtung zu schenken, und das nicht nur aus wissenschaftlichen Gründen. Die Antike birgt düstere Geheimnisse und bizarre Geschichten, die weit anregender für die Fantasie sind als die letztlich doch recht banale Fahrt eines pseudo-archaischen Schilfboots.