Modell Wurzen

Mügeln ist keine Ausnahme. Im angrenzenden Muldental hatte die Antifa schon vor über zehn Jahren den rechten Konsens der Bevölkerung skandalisiert. von arthur leone

Erneut hat es eine nordsächsische Kleinstadt geschafft, weltweites Interesse auf sich zu ziehen. In den Berichten über den rassistischen Angriff auf acht Inder während des Stadtfests in Mügeln erinnerten viele internationale Kommentatoren an die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen von 1992 und die Kampagne »Kinder statt Inder« von Jürgen Rüttgers aus dem Jahre 2000. Hierzulande begann wie immer in solchen Fällen die Diskussion darüber, ob solche Attacken ein regionales Problem seien. Doch für Nazi-Strukturen ist Mügeln bisher nicht weiter bekannt. Lediglich zwei Dörfer weiter, in der Disco „Halli-Galli“, wurden vor einigen Jahren noch Rechtsrock-Konzerte organisiert. Das Fehlen dieser Strukturen ist jedoch kein Beweis dafür, dass die Angreifer vom Stadtfest Auswärtige gewesen sein müssen, wie es der Bürgermeister gern gehabt hätte. Für einen Übergriff wie diesen braucht es heute in einer Region wie der von Mügeln keine organisierten Nazis, wie es sie im benachbarten Muldentalkreis schon länger gibt.

Nur wenige Kilometer von Mügeln entfernt liegt Mutzschen – für Kenner der sächsischen Nazi­szene schon eher ein Begriff. Hier wohnt nicht nur der Landesvorsitzende der NPD, Winfried Petzold, sondern auch Markus Müller. Dieser war zwar ebenfalls lange Zeit im Landesvorstand der Partei, aber bekannter dürfte er als Anführer von Kameradschaft und NPD in Wurzen sein, jener Stadt, die in den neunziger Jahren bundesweit Schlagzeilen als Nazizentrum machte. Mutzschen wie Wurzen liegen im Muldentalkreis, Mügeln nicht. Die Aufmerksamkeit, die Mügeln derzeit bekommt, erfährt Wurzen bereits seit mehr als zehn Jahren.

In beiden Städten findet sich eine vergleichbare, typisch (ost)deutsch provinzielle Alltagskultur, in der Ausbrüche wie die Hatz auf die Inder vorkommen können. Doch der Unterschied zwischen den beiden Kleinstädten besteht darin, dass sich die rechte Dorfgemeinschaft in Mügeln später und weniger ausgeprägt, aber abseits des Interesses einer Medienöffentlichkeit und ohne aktive Naziorganisationen entwickelt hat.

Damals, als sich im Osten Deutschlands die Nach-Wende-Gesellschaft konsolidierte, entwickelte sich in der Region um Wurzen das, was das Leipziger »Bündnis gegen Rechts« (BgR) als »rechten Konsens« bezeichnete. Nazibanden überfielen Asylbewerberheime, linke Wohnprojekte, italienische Discobesucher oder portugiesische Bauarbeiter. Die lokale Polizei ließ sie dabei so sehr gewähren, dass sich selbst das Innenministerium irgendwann gezwungen sah einzugreifen. Wurzens Bürgermeister Anton Pausch bot Markus Müller und seinen Kameraden nach jedem Überfall ein neues Jugendzen­trum an. Er sah das Problem vor allem darin, dass die rechten Jugendlichen vernachlässigt worden seien. 1995 nahmen die Nazis ein Gebäude in Wurzen in Beschlag und bauten es zu einem Propagandazentrum mit überregionaler Ausstrahlungskraft aus.

Wurzen wurde als »faschistisches Zentrum« neuen Typs von den Antifas bezeichnet. Hier übten die Nazis in einer ganzen Region die Hegemonie auf der Straße aus, ohne in der Bevölkerung isoliert zu sein. Vielmehr konnten sie oft genug mit unverhohlener Sympathie von Bürgern, Sozialarbeitern oder der im Rathaus sitzenden rechnen. Ihr Rekrutierungspotenzial hatte dadurch Ausmaße erreicht, bei denen alle konventionelle Antifa-Arbeit scheitern musste. Was dieser blieb, war die Skandalisierung der Verhältnisse und die vorsichtige Etablierung alternativer kultureller Angebote. Bundesweite Antifa-Demonstrationen und eine kontinuierliche Pressearbeit sorgten immerhin dafür, dass Wurzen den Ruf bekam, den die Region ringsherum verdiente.

Wie ist die Lage im Muldentalkreis heute? Markus Müller achtete nach dem Aufbau des NPD-Kreisverbandes darauf, dass zumindest der Name der Partei nicht allzu offensichtlich mit Straftaten in Verbindung gebracht werden konnte. Wie er sind etliche der damaligen Aktivisten dabei, sich ein bürgerliches Image zuzulegen. Bei den vorigen Kommunalwahlen im Jahr 2004 zog die NPD in die Stadträte von Wurzen und Trebsen und in den Kreisrat des Muldentalkreises ein. Letztlich ist die NPD hier einfach älter geworden, wie Szenekenner Volkmar Wölk berichtet. Viele von damals seien zwar noch dabei, inzwischen habe die Partei aber Schwierigkeiten, jüngere Nazis zu gewinnen. Sie gilt unter ihnen als zu angepasst. Dafür erhalte die Partei aber zunehmend Unterstützung von normalen Bürgern, meint Wölk.

Diese Entwicklung bedeutet jedoch nicht, dass sich linke Jugendliche mittlerweile freier durch Wurzen bewegen könnten. Zwar führte die der Partei »Die Linke« nahe stehende »Jugendantifa/Sozialistische Aktion Muldentalkreis« (ja/sam) in den vergangenen Jahren mehrfach einen antirassistischen Sonntagsspaziergang durch. Trotzdem wurden die linken Jugendlichen von einer 15köpfigen Nazi-Hool-Gruppe dabei begleitet. »Die Nazis sind unstrukturierter, das sind eher verschiedene Cliquen«, meint Lisa Umlauf, Sprecherin von ja/sam, »aber nachts geht niemand von uns allein durch Wurzen. Die Gefahr ist zu groß, verprügelt zu werden.« Die Liste der Attacken von Nazis im Kreis bleibt lang. Manche Dönerläden machen sich gar nicht mehr die Mühe, die eingeworfenen Scheiben zu ersetzen. 2004 wurde sogar ein Bombenanschlag auf das Büro des »Netzwerks Demokratische Kultur« (NDK) verübt. Vor kurzem überfielen Nazis einen Mitarbeiter im selben Büro und raubten Unterlagen. Vorfälle wie in Mügeln, meint Ingo Stange von der Opferberatung Amal, kämen in Wurzen vor allem deshalb kaum noch vor, weil potenzielle Opfer gar nicht mehr auf die Idee kämen, hier zum Rummel zu gehen.

Aber es hat sich auch einiges verändert. Die große Aufmerksamkeit außerhalb Wurzens hat zu einer höheren Sensibilität geführt. »Rechte Übergriffe werden eher wahrgenommen«, meint Stange, »die permanente Medienberichterstattung hat insofern wirklich geholfen.« Letztlich ist es schon als positive Entwicklung zu sehen, dass es Initiativen wie das NDK in Wurzen überhaupt gibt. Es bietet seit 1999 einen Anlaufpunkt für Jugendliche, die nichts rechts sind, und hat einige Kultur- und Informationsveranstaltungen organisiert. Amal hat seit 2001 vielen Opfern rechter Gewalt geholfen und dafür gesorgt, dass die Wurzener Zustände nicht aus dem Blick der Öffentlichkeit verschwanden. Für die Kreisrätin und Antifaschismus-Sprecherin der sächsischen Landtagsfraktion der »Linken«, Kerstin Köditz, ist es auch ein Erfolg der vergangenen Jahre, dass heute relativ schnell eingegriffen werde, wenn es knallt. Mit Initiativen wie dem »Muldental-Forum« gegen Rechts, an dem die meisten lokalen Parteien regelmäßig teilnehmen würden, gebe es eine »Struktur zum Reden«. Außerdem unterstütze mittlerweile selbst der Kreisrat den jährlichen Gedenkmarsch zu Ehren der KZ-Opfer.

Trotzdem ist in Wurzen vieles beim Alten geblieben. Aus Sicht der Kommunen gibt es nach wie vor kein Naziproblem. »Rechtsextremistische Tendenzen« äußern sich im Muldentalkreis »vereinzelt in rechten Aktionen«, sagt Landrat Gerhard Gey. »Das betrifft aber vor allem abgrenzbare Gruppierungen. Ansonsten gibt es wie in jeder funktionierenden Demokratie verschiedene Meinungen, die nebeneinander stehen.« So hörte er sich im April in einem Gespräch mit Mitgliedern der »Volkstreuen Jugend« und NPD-Funktionären deren Meinung über die Jugendarbeit an. Außerdem verteilt der Kreis die Mittel aus dem Bundesprogramm gegen Rechtsextremismus nicht an Initiativen wie das NDK, sondern beispielsweise lieber an das Rote Kreuz in Wurzen, das sich um »Kinder aus sozial benachteiligten Bereichen« kümmern wird. Die Arbeit des NDK hält Landrat Gey zwar für »sehr wichtig«, betont aber, sie erreiche »nicht diejenigen Jugendlichen, die für rechtsextremes Gedankengut offen sind, also gefährdet sind«. Eine Zwischenfinanzierung von 15 000 Euro für das in seiner Existenz bedrohte NDK gab es vom Landratsamt nur nach massivem Druck von außen.

Elf Jahre nach der bundesweiten Antifa-Demonstration in Wurzen und zehn Tage nach den Übergriffen des rassistischen Mobs von Mügeln ist klar: Der Muldentalkreis ist keine Besonderheit, sondern Vorreiter und besonders bekanntes Modell für die deutsche Provinz, wo der Lack der Zivilisation recht dünn ist. Trotzdem wäre es falsch, die Bemühungen der vergangenen Jahre als vergeblich anzusehen. Kerstin Köditz liegt wohl richtig, wenn sie meint, dass alle Beteiligten immerhin Schlimmeres verhindert hätten. Auch nach Einschätzung von Antifas sind all die frustrierenden Interventionen in Regionen, die man manchmal gern einfach nur einzäunen und vergessen würde, nicht umsonst. Klara Naumann von der Leipziger Antifagruppe LeA meint: »Ohne die antifaschistische Provokation hätte es weder das große öffentliche Interesse noch die Möglichkeit gegeben, zivilgesellschaftliche Initiativen in Wurzen und im Umland aufzubauen.« Auch die Antifa in den Großstädten, meint Naumann, sei verpflichtet, auf dem flachen Land zu intervenieren, sofern es an Ort und Stelle jemanden gibt, der unterstützt werden kann.