Wie wird man Hegemon?

Der Aufstieg Chinas zu einer der mächtigs­ten Wirtschaftsnationen hat nichts Mysteriöses an sich. Er ist vielen Besonderheiten der chinesischen Politik und der internationalen Handelsverflechtungen geschuldet. Asien hat sich dadurch neu geordnet. von michael r. krätke

In Deutschland steigen die Milchpreise. Wer ist schuld? Klarer Fall, die Chinesen. »Wenn das so weitergeht, absorbiert China künftig ein Drittel der Welt-Milchproduktion«, war auf Welt online zu lesen. Tatsächlich steigt der Milchkonsum in China rasant, gleichzeitig exportiert das Land aber auch Milch. Die deutsche Preistreiberei muss daher hausgemacht sein.

Der Aufstieg Chinas zur Weltwirtschaftsmacht weckt irrationale Ängste, die von Politikern eifrig geschürt werden. Im Jahr 2005 verdrängte China Japan von Platz drei der Exportnationen, im zweiten Quartal dieses Jahres hat es die USA überholt, und inzwischen macht es Deutschland den ersten Platz streitig. Trotzdem gibt es selbst in der Logik des Kapitals wenig Grund zur Panik.

Zum einen besteht die wirkliche Billiglohnkonkurrenz nicht zwischen den Ländern der EU und China, sondern innerhalb Asiens, zum Beispiel zwischen China und den asiatischen Tigerstaaten der ersten (Südkorea, Taiwan, Singapur) und zweiten Generation (Thailand, Malaysia, Indonesien, den Philippinen und Vietnam). Zum anderen verdienen die deutschen Konzerne am chinesischen Exportboom kräftig mit. »Die deutsche Wirt­schaft ist gut positioniert. Es sind bereits umfangreich Investitionen getätigt«, sagte der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Jürgen Thumann, vorige Woche als Erklärung dafür, warum beim Staatsbesuch der Bundeskanzlerin in China bloß zwei Wirtschaftsverträge unterschrieben wurden. Alle erdenklichen weiteren Abkommen scheinen längst in Kraft getreten zu sein.

Die führenden Industrie- und Handelsländer der Welt, die USA, Japan und Deutschland, profitieren allesamt von der rasanten Entwicklung der Schwellenländer. Gleichzeitig verschieben sich die Gewichte in der Weltwirtschaft. Der dritte Pol der weltwirtschaftlichen Trias, die asiatisch-pazifische Großregion, wird neu geordnet. Nicht mehr Japan, sondern China ist die wirtschaftliche Hegemonialmacht, der sich alle übrigen Länder anzupassen haben. Nirgendwo wächst der intraregionale Handel schneller und kräftiger als im asiatischen Großraum, China hat den Löwenanteil daran. Seit Ende der achtziger Jahre sind seine Exporte und Importe um durchschnittlich 15 Prozent pro Jahr gewachsen, doppelt so schnell wie das Welthandelsvolumen.

China ist immer noch in weiten Teilen ein Entwicklungsland. Aber es ist zugleich auch ein Paradebeispiel für ein erfolgreiches Schwellenland. Der Anteil der exportierten High-Tech-Produkte wie Maschinen, Autos, Nutzfahrzeuge, Elektronika hat sich in wenigen Jahren verdoppelt und liegt mittlerweile bei 30 Prozent. China ist heute nach den USA und Europa der drittgrößte Importeur von Rohstoffen und Agrarprodukten aus den Entwicklungsländern und dominiert auf einigen Rohstoffmärkten (Kupfer, Stahl, Eisenerze, Kohle und Erdöl).

Seit der Öffnung der ersten vier Sonderwirtschaftszonen Ende der siebziger Jahre hat China Unmengen von ausländischem Kapital ins Land geholt. Es hat die aufstrebenden Industrien der Entwicklungsländer verdrängt, die der Schwellen­länder abgehängt. Rund 60 Prozent aller Direkt­investitionen aus den Ländern der OECD in andere Länder gehen heute nach China. Pro Jahr fließen mehr als 250 Milliarden Dollar in das Land. Die südöstlichen Küstenprovinzen der Volksrepu­blik üben eine starke Anziehungskraft auf auslän­disches Kapital aus allen großen Industrie­natio­nen aus, die deutschen Konzerne sind vorneweg dabei.

In jüngster Zeit hat China begonnen, selbst Ka­pital zu exportieren – in andere Entwicklungsländer in Asien und Afrika. Die Summen, die sich inzwischen auf etwa sieben Milliarden Dollar jähr­lich belaufen, sind noch bescheiden. Doch gelangen chinesischen Konzernen auch einige spektakuläre Übernahmen – in der Produktion von Autos (MG Rover Group), Fernsehern (Thomson und Schneider) und PCs (IBM) haben sie große Marktanteile erobert. Chinesische Staatsfonds beginnen, mit Hunderten Milliarden Dollar im Geschäft mit Beteiligungen, Übernahmen und Fusionen in den USA und Europa mitzumischen, in allen Teilen der Welt sind chinesische Staatsfirmen dabei, Beteiligungen an großen Ölförderfirmen und Ölquellen zu kaufen.

Ein armes Land, in weiten Teilen noch ein Entwicklungsland, das Massen von Kapital ins Ausland schicken kann? Im Handel etwa mit den USA, aber auch mit der Bundesrepublik, erzielt China seit langem Rekordüberschüsse – 113 Milliarden Dollar waren es allein im vorigen Jahr im Handel mit den USA, was einer Steigerung um 85 Prozent entsprach. Dadurch ist China zum Gläubiger der führenden kapitalistischen Industrieländer geworden. Die chinesische Zentralbank hat Dollardevisen in Höhe von 1,3 Billionen angehäuft, das Land verfügt inzwischen über mehr Devisenreserven als Japan. Infolgedessen ist China das erste asiatische Land nach Japan, dessen Währung im internationalen Geldsystem eine zentrale Rolle spielt. Die chinesische Zentralbank kauft fleißig US-amerikanische Staatspapiere, finanziert also de facto das Zahlungsbilanzdefizit der USA.

Seit einigen Jahren tobt ein heftiger Wechselkursstreit zwischen den USA und der Volksrepublik. Die USA, unterstützt von den anderen Ländern der G8, verlangen von China eine Aufwertung des Renminbi um mindestens 25 Prozent. China hatte im Juli 2005 die feste Kopplung des Renmin­bi an den US-Dollar gelöst und durch eine Kopplung an Euro, Yen, Won, Pfund und Dollar ersetzt. Nur allmählich gibt die chinesische Regierung dem Druck nach, denn natürlich will sie einen Einbruch ihres florierenden Exports vermeiden. Sich zu widersetzen, kann China sich leisten, hat es doch die wirtschaftliche Hegemonie im asiatisch-pazifischen Raum und zugleich eine einzigartige Stellung in der Weltwirtschaft erobert.

Einerseits braucht das Land die US-amerikanischen Märkte, den amerikanischen Konsum auf Pump, um die rasch wachsenden Kapazitäten seiner Exportindustrien auszulasten. Andererseits könnte der Binnenmarkt in den USA nicht stetig wachsen, würde die chinesische Zentralbank nicht fortlaufend Milliarden von Dollar in das Land pumpen, indem sie der Regierung und amerikanischen Unternehmen Kredite gibt. Die USA sind heute die größte Defizitökonomie der Welt; ohne Länder wie China und Japan wären sie bankrott.

Diese einzigartige Macht Chinas und die neue Schlüsselrolle Asiens in der Weltwirtschaft sind Folgen einer Entwicklung, die Ende der achtziger Jahre begann. Damals vollzog China den Wechsel zu einer auf den Export orientierten Wachstums- und Industrialisierungsstrategie. Dafür gab es Vorbilder in der asiatischen Region: Japan, Südkorea und die so genannten kleinen Tigerstaaten. Sie alle hatten sich zuvor bereits an dem Modell des »Entwicklungsstaats« orientiert: zentrale staat­liche Planung, Bündelung der na­tionalen Ressour­cen zur Entwicklung von Schlüs­selindustrien, langfristige strategische Kooperation von Staat und Großkonzernen, niedrige Löhne, Unterdrückung der Gewerkschaften, Raubbau an den natürlichen Ressourcen. Doch Japan, Südkorea und die kleinen Tigerstaaten setzten auf ihre nationa­len Ressourcen, hielten ausländisches Kapital mög­lichst fern und brauchten Jahrzehnte, um sich ihren Platz auf den Weltmärkten zu erobern. China dagegen setzte auf transnationale oder multinationale Konzerne aus dem Ausland, die Geld, Wissen, Technologie bringen sollten. Seine Regie­rung tat alles, um Kapital ins Land zu locken.

Mit Erfolg: Die ausländischen Direktinvestitionen stiegen in China seit dem Jahr 1991 rasant an. Betrug ihr Gesamtwert damals noch 4,4 Milliarden Dollar, so waren es ein Jahr später bereits elf Milliarden. Im vergangenen Jahr wurden Direktinvestitionen von über 46 Milliarden getätigt. Infolge des 15 Jahre anhaltenden Booms ist der Anteil der ausländischen Direktinvestitionen, also des Kapitals in ausländischer, privater Hand in China, mit mehr als einem Drittel weit höher als überall sonst auf der Welt. Der Anteil ausländischer Unternehmen oder solcher mit starker ausländischer Beteiligung an der chinesischen Industrieproduktion beträgt heutzutage beinahe 40 Prozent, an der Exportproduktion sogar mehr als 60 Prozent.

Die besondere chinesische Entwicklungsstrategie hat dem Land eine doppelte Abhängigkeit beschert. Obwohl Deutschland bislang noch eine größere absolute Menge an Waren exportiert, ist China weitaus abhängiger von der Warenausfuhr, da sie 38 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Seine Exporterfolge verdankt es überwiegend jenem ausländischen Kapital, das den größeren Teil der Exportgüter produziert.

Vor allem aber hat die chinesische Entwicklungs­strategie die internationale Arbeitsteilung und die Handelsstruktur innerhalb der asiatischen Region gründlich verändert. Innerhalb weniger Jahre hat die chinesische Exportoffensive die asiatische Konkurrenz von den Weltmärkten verdrängt; zugleich hat der rasant wachsende Bedarf der expandierenden chinesischen Fabriken riesige neue Absatzmärkte für die Industrien der asiatischen Nachbarländer eröffnet. Den Lockungen Chinas konnte das Kapital in den Nachbarländern kaum widerstehen – massenweise ausländische Direktinvestitionen aus Japan, Südkorea und den kleinen Tigerstaaten wurden in China getätigt. Während China die Märkte in den USA und Europa mit billigen Massenprodukten überschwemmte, wurde es der mit Abstand wichtigste Handelspartner für Japan und die asiatischen Schwellenländer.

Japan hat allein dank des chinesischen Wirtschaftswunders seine zehnjährige Stagnation überwunden, seit dem Jahr 2003 sind seine Exporte nach China um 45 Prozent gestiegen. China absorbiert heute schon fast die Hälfte der Exporte aus den übrigen asiatischen Ländern (und Australiens); Südkorea, Singapur, Taiwan, die Philippinen, Malaysia, Thailand und Indonesien verdanken diesem Umstand ihr ökonomisches Wachstum. Die asiatischen Schwellenländer verkaufen in rasch wachsenden Mengen Rohstoffe, Halbfabrikate und Komponenten nach China, wo dann die Endfertigung stattfindet – für den Export nach Europa und Nordamerika.

So ist China zwar noch lange nicht die »Werkstatt der ganzen Welt«, wie häufig behauptet wird, aber es hat bereits eine zentrale Position inne. Wäh­rend das Land im Handel mit Europa und den USA riesige Überschüsse erzielt, ist sein Außenhandel mit den Nachbarländern in Asien chro­nisch defizitär. Seit Anfang der neunziger Jahre hat sich das chinesische Handelsdefizit aus dem Handel mit den asiatischen Schwellenländern mehr als verzehnfacht, und es wächst weiter. Aber solange Chinas Überschüsse im Handel mit Euro­pa und Amerika die Defizite im regionalen Handel weit genug übersteigen, ist seine Rolle als Wachs­tumsnation und führende asiatische Export­öko­nomie nicht gefährdet.

China ist kein Einzelfall, es ist die Hegemonialmacht einer ökonomischen Großregion, die in der Konkurrenz mit Europa und Nordamerika überaus erfolgreich ist.