Zollfrei in die Zukunft

Mit der Einrichtung von Sonderwirtschafts­zonen will die indische Regierung Investoren anlocken. Doch der Widerstand der Bevölkerung wächst. von lutz getzschmann

Um den Aufschwung muss sich die indische Regierung keine Sorgen machen. Der Dow Jones Newswire veröffentlichte am vergangenen Freitag die Zahlen für das erste Quartal des neuen Rechnungsjahres: Indiens Wirtschaft wuchs um 9,3 Prozent. Doch während bei den Kunden der Shopping Malls von Mumbai bis Bangalore die Stimmung gut ist, bringt die kapitalistische Durch­dringung zwei Dritteln der Bevölkerung mehr Probleme als Nutzen.

Die Regierung unter Premierminister Manmohan Singh kann deshalb nicht darauf zählen, dass sie populärer wird. Das Wirtschaftswachstum hatte bereits zugenommen, als noch die hindunationalistische BJP regierte. Sie trat im Wahlkampf 2004 mit dem Slogan »Shining India« an, doch die Mehrheit der Wähler glaubte nicht an glänzende Zukunftsaussichten unter der BJP.

Seitdem regiert die United Progressive Alliance, eine Koalition der Kongress-Partei mit Regionalparteien, die von der Linksfront, einem Zusammenschluss kommunistischer Parteien, geduldet wird. Doch mittlerweile ist deutlich geworden, dass die Regierung Singhs die »wirtschaftliche Öffnung«, die bereits unter Rajiv Gandhi in den achtziger Jahren begann, weiter vorantreibt.

Ein Instrument, um indische und vor allem ausländische Investoren anzulocken, sind so genannte Sonderwirtschaftszonen (SEZ). Bereits 1984 wurde in Chennai die erste eingerichtet, damals noch unter anderer Bezeichnung und am Rande der Legalität. Erst im Jahr 2005 wurde ein Gesetz verabschiedet, das die SEZ auf eine juristische Grundlage stellte. Mittlerweile sind es 237, und bis 2010 soll die Zahl auf 400 steigen.

Diese Sonderwirtschaftszonen bieten gerade für ausländische Konzerne einige Vorteile. In den ver­gangenen Jahren haben sie viele Investoren angezogen. Diese genießen zahlreiche Privilegien, unter anderem zahlen sie in den ersten fünf Jahren keine Einkommenssteuer, dürfen ihre Gewin­ne frei aus­führen und benötigen, außer in gewissen stra­tegischen Sektoren, keine indischen Teilhaber.

Besondere Einheiten innerhalb der SEZ sind die Export Oriented Units (EOU), die ausschließlich für den Export fertigen. Sie kaufen nicht nur auf dem indischen Binnenmarkt unter ermäßigten Steuersätzen ein, vielmehr werden in diesen Zonen die meisten Waren zur Weiterverarbeitung importiert. Beim Im- und Export gibt es keine Zölle und auch keine Zollkontrollen. Diese Privilegien sollen helfen, Indien zum größten Fließband der Welt auszubauen und den Konkurrenten China zu übertrumpfen. Die EOU wurden per Gesetz zum 1. November 2004 geschaffen, inzwischen gibt es mehr als 27 000 davon.

Aber all das reicht offensichtlich noch nicht. Da die SEZ sich nun mal nicht abgeschottet vom Rest des Landes mit seinen Infrastrukturproblemen, überlasteten und maroden öffentlichen Gesundheits- und Bildungseinrichtungen und den für ausländische Führungskräfte wenig attraktiven alltäglichen Verkehrs- und Lebensbedingungen in indischen Städten errichten lassen, wurden ihre Umgebungen de facto in Quarantänezonen verwandelt. Seit Februar 2006 sind dort mindestens 75 Prozent der Fläche von Wohngebäuden den Angestellten der in den SEZ angesiedelten Unternehmen vorbehalten. Auch öffentliche Einrichtungen wie Krankenhäuser und Schulen müs­sen zu mindestens 50 Prozent von den Mitarbeitern und ihren Familien genutzt werden.

Die Ansichten über diese Investorenparadiese sind geteilt. Während Wirtschaftsminister Kamal Nath jubelt, es gebe keinen besseren Weg, um die Industrialisierung Indiens voranzutreiben, und auf Studien aus seinem Ministerium verweist, denen zufolge bis 2009 umgerechnet zehn Milliarden Euro in den Zonen investiert und fast eine Million neue Arbeitsplätze entstehen werden, kritisieren die Gewerkschaften, dass etwa die Organisierung der Arbeiter in den SEZ behindert werde, obwohl diese formell der indischen Arbeitsgesetzgebung unterstehen. Noch in keiner einzigen SEZ ist es den Gewerkschaften gelungen, Fuß zu fassen.

Selbst in Regierungskreisen sind die Privilegien umstritten. Das Finanzministerium und die Zentralbank fürchten Einnahmeverluste in Milliardenhöhe. »Die SEZ sind Präsente an die Industrie, die sich die Regierung eigentlich nicht leisten kann«, bemerkte unlängst der Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, Raghuran Rajan.

Am stärksten jedoch ist der Widerstand der Bauern, deren Land für die SEZ benötigt wird. Zehntausende Hektar sind in den vergangenen Jahren enteignet worden, zum größeren Teil entschädigungslos, was der Journalist Bharat Doogra als »den größten Landdiebstahl in der Geschichte des unabhängigen Indiens« bezeichnet. Noch immer leben knapp 70 Prozent der Bevölkerung auf dem Land, auch dort erleben etliche Regionen momentan einen ökonomischen Modernisierungsprozess, der in seiner durchgreifenden Gewaltförmigkeit mit der ursprünglichen Akkumulation vergleichbar ist.

Der Umweltschützer und Agraraktivist Devinder Sharma sagt voraus, dass in den nächsten acht Jahren 400 Millionen Menschen durch die Enteignungen und die Kapitalisierung der Landwirtschaft ihre Existenz verlieren und in die Städte flüchten werden. Die Selbstmordrate in der Landbevölkerung ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen, ebenso erhöht hat sich allerdings auch das Ausmaß des – immer öfter auch gewaltsamen – Widerstandes.

Besonders drastisch sind die Auswirkungen auf die Adivasi, die Stammesbevölkerungen, deren Gebiete für die Einrichtung von SEZ enteignet werden – auch in Westbengalen, jenem Bundesstaat, in dem die kommunistischen Parteien seit 1977 ununterbrochen die Regierung stellen. Die bittere Ironie ist, dass die Linksfront vor 30 Jahren die Sympathie eines großen Teils der westbengalischen Bevölkerung gerade mit einer Land­re­form gewann, die die Macht der Großgrundbesitzer ein­schränkte und die mittellosen Kleinbauern stärk­te. Diese Sympathie könnte sie durch ihre Privatisierungs-, Enteignungs- und Investitionspolitik in den nächsten Jahren wieder verlieren.

Im Frühjahr wurde die indische Öffentlichkeit durch besonders harte Auseinandersetzungen im westbengalischen Nandigram aufgeschreckt, wo gegen heftigen Widerstand die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone samt Enteignung von 10 000 Morgen Farmland durchgesetzt werden sollte. Als bewaffnete Polizeieinheiten in eine Menge von demonstrierenden Bauern und Landarbeitern schossen und dabei 14 Menschen töteten, geriet die Linksfront-Regierung unter Druck von Gewerkschaften, Bauernorganisationen, Men­schenrechtsgruppen und konkurrierenden linken Parteien.

Das Nandigram-Projekt wurde vorerst gestoppt. Die ebenfalls aufgeschreckte indische Zentralregierung brachte in der Zwischenzeit ein Gesetz durch das Parlament, das die Frage der Entschädigungen für enteignetes Land regelt. Diese Konzessionen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Indien sich in einem Prozess der tiefgreifenden und rücksichtslos durchgesetzten kapitalistischen Modernisierung befindet, der die Gesellschaft innerhalb weniger Jahrzehnte mehr verändern dürfte, als 200 Jahre britischer Kolonialherrschaft es vermochten.