Beim Lutschen des Brühwürfels

Günter Grass, ehemaliges Mitglied der Waffen-SS, Schriftsteller, unbelehrbarer Sozialdemokrat, Literaturnobelpreis- und Schnauzbartträger, wird nächsten Monat achtzig Jahre alt. KLAUS BITTERMANN gratuliert dem Literaturbetriebsintriganten schon mal vorzeitig zum Geburtstag.

Wieso gilt ein mediokres Talent wie Herr Grass bei Ihnen als Papst der Epik, während Arno Schmidt seit gut zwanzig Jah­ren in der Ecke stehen muss, zur Strafe dafür, dass er Deutsch kann?« Diese Frage stellte Peter Hacks in einem Brief Hellmuth Karasek. Aber Hacks war nicht der einzige, auch andere große Autoren fanden die Bücher von Grass vollkommen überschätzt. Hannah Arendt schrieb an ihre Freun­din Mary McCarthy, daß sie »Die Blech­trom­mel« nie zu Ende lesen konnte, weil sie das meiste darin »aus zweiter Hand, nicht originär« fand. »Ich las sie [Die Blechtrommel] vor Jahren auf Deutsch, und ich finde, es ist eine künstliche tour de force – als ob [Grass] alles an moderner Literatur gelesen und dann beschlossen hätte, sich einiges auszuleihen und etwas Eigenes draus zu machen.« Und Friedrich Dürrenmatt war heilfroh, daß Grass ihm nicht wie versprochen den »Butt« schickte, weil er ihn dann auch nicht zu lesen brauchte: »Der Grass ist mir einfach zu wenig intelligent, um solche dicken Bücher zu schreiben.« Das gleiche Buch, nämlich »Der Butt«, regte Robert Gernhardt zu einem Zweizeiler an: »Man kann alles übertreiben/auch das Schreiben.« Und mehr gab’s aus Gernhardtscher Sicht zu Grass auch nicht zu sa­gen. »Ekelhafte Altmännerliteratur« nannte Elke Heidenreich die Prosa von Grass: »Es muss in erster Linie gute Literatur sein. Und ich finde, dass Grass und Walser seit Jahren nichts Gutes geschrieben haben. (…) Und bei Grass hat mich immer das Übermaß an Eitelkeit und Selbstgefälligkeit gestört.« Das trifft die Sache auf den Punkt genau. Und weil die Bücher von Grass nicht lesbar sind, machte sich Wolfgang Neuss schon früh Gedanken darüber, wie das Zeug anderweitig nutzbar gemacht werden könne: »Macht aus der Geheimrättin von Grass Fragebogentexte bei der Volkszählung.« Das würde die Volkszähler richtig zur Verzweiflung bringen.

Bis auf wenige Ausnahmen glaubt das Feuille­ton fest daran, Grass sei ein bedeutender Autor, und weil ihm der Literaturnobelpreis verliehen wurde, hält sich dieses Missverständnis hartnäckig. Grass wurde jedoch nicht damit ausgezeichnet, weil er ein großer Schriftsteller ist, sondern weil er einer der größten Kulturbetriebs­intriganten ist, der, wie Heinar Kipphardt einmal schrieb, »mit der SPD in alle Arschlöcher kriecht, in das des Papstes inklusive«.

Günter Grass hat es immer verstanden, seine mediokren Bücher unter die Leute zu bringen, und Otto wusste auch, wie er das machte: »Du kaufst jetzt Günter Grass, sonst setzt es was!«

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Stop! Nicht alle Bücher von Günter Grass waren öde und mittelmäßig. Es war auch ein witziges darunter, auch wenn Grass nichts dafür konnte. Und zwar handelte es sich um eine Übersetzung der »Blechtrommel« ins Schwedische aus dem Jahre 1961, für die Grass dann ja auch den Nobelpreis bekam. Aus »Hut« hatte der Übersetzer »Haut« gemacht. Und man stellt sich vor, wie jemand seine Haut aufsetzte. Aus »Brandungsgeräusch« wurde »Brandgeruch«. Auch nicht schlecht: Es drang ein beruhigender Brandgeruch an sein Ohr. Offensichtlich wollte der Übersetzer, wenn schon kein Schwung in die Sache zu kriegen war, wenigsten den Leuten was zum Lachen bieten. Aus dem Buch »Draußen vor der Tür« von Wolfgang Borchert wurde ein Schauspiel, das in der freien Luft aufgeführt wurde. Aber es geht noch weiter: »Die braunen und schwarzen Uniformen von SS und SA wurden als braune und schwarze ›Vorhänge‹ beschrieben. Das Geheimnis, das sich hinter dem Lied High Society von Louis Armstrong verbarg, wurde vom Übersetzer völlig verkannt: Er übersetzte, die Kapelle habe so gut gespielt, daß sie sich wie zur besten Gesellschaft gehörig fühlte.« (Rainer Schmitz, »Was geschah mit Schillers Schädel. Alles, was Sie über Literatur nicht wissen«).

Aber wer kann schon Schwedisch?

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In dem aufgeregten und hysterischen Geschnatter, das die Presse um die SS-Vergangenheit von Grass anstimmte, ging es fast ausschließlich um das Verschweigen eines peinlichen Flecks auf der weißen Weste von Günter Grass, kaum jemand zweifelte jedoch an seinen künst­lerischen und schriftstellerischen Fähigkeiten, denn schließlich hatte man ihm über Jahrzehnte hinweg die Stange gehalten und ihn zum größ­ten deutschen Autor gekürt. Kaum jemand machte sich einen Kopf, wie es dazu kam. Karl Heinz Bohrer war einer der wenigen, der ein paar Überlegungen anstellte, die sich vom üb­lichen Empörungsjournalismus wohltuend unterschieden.

Grass habe als berühmtester Vertreter der deut­schen Nachkriegsliteratur, meinte Karl Heinz Bohrer, seine »künstlerischen Defizite« mit »einem aufdringlichen Moralismus« auszugleichen versucht. Anders als bei den Intellektuellen, die während der Nazi-Zeit oder danach ins Exil gingen und bei denen »eine existentielle Trauer im Spiel war, von der die Rhetorik der politischen Moralisten charakteristischerweise nichts hatte«, steckte hinter dem laut und vernehmlich vorgetragenen »mea culpa« nicht nur eine »Zer­knirschung, sondern mehr noch eine Art Erpres­sungsversuch, dass man endlich doch die Schuld vergeben möge. Ganz besonders die Opfer selbst, die Juden, sollten das tun.« Und als sich Grass lange genug stellvertretend für alle Deutschen zerknirscht gegeben hatte, aber die Juden dennoch nicht die Begeisterung an den Tag legten, die man von ihnen bei der geforderten General­amnesie erwartet hatte, wurde der Spieß um­ge­dreht, und Grass drehte mit, indem er sich nun­mehr als Bewährungshelfer gegenüber den Juden aufspielte, da­mit sie nicht rückfällig und Ver­haltens­wei­sen an den Tag legen würden, die man als Grass und als Deutscher lange genug und vehement öffentlich bereut hatte.

Vielleicht weil Grass bei einem Vortrag in Jeru­salem 1971 mit Tomaten beworfen wurde, schrieb er im gleichen Jahr: »So hat Israel durch die schleichende Annexion der besetzten Gebiete den arabischen Staaten einen Vorwand für deren Angriffe geliefert.« Könnte natürlich auch umgekehrt gewesen sein. Weil Grass die arabischen Angriffe auf Israel rechtfertigte, wurde er mit Tomaten beworfen. In diesem Fall muss man sagen: Die Israelis waren so freundlich, ihn nur mit Tomaten zu bewerfen!

Wie auch immer. Grass versuchte doch nur, die Juden zu guten Menschen zu erziehen, denen man eben auch mal die Ohren lang ziehen muss, wenn sie nicht auf den Volkserzieher Grass hören wollen. »Es ist für mich auch ein Freundschaftsbeweis Israel gegenüber, dass ich es mir erlaube, das Land zu kritisieren – weil ich ihm helfen will … Solche Kritik aber zu kritisieren – damit muss man aufhören … dieses Auge um Auge, Zahn um Zahn der gegenwärtigen Politik schaukelt allen Zorn nur noch weiter hoch« (Interview im Oktober 2001), ließ Grass nicht locker und verbat sich jede Kritik, denn das Recht dazu hat nur er.

Kritik an ihm ist gotteslästerlich und hat gefälligst aufzuhören. Auch kleine Vergehen bleiben da nicht ungestraft, denn Grass sieht alles. Selbst eine kleine nicht genehme Kritik an einem seiner Bücher in der Frankfurter Rundschau entgeht ihm nicht. Dann muss Grass den Chefredakteur anrufen, ihm den Kopf waschen und sein Abo abbestellen. Genauso macht es ein gro­ßer Autor und Schriftsteller und Kritiker.

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Nach der Zerknirschung dann das Helfersyndrom. Und dazu war eine Uminterpretation von Ausch­witz nötig, die Grass Anfang der Neunziger in Angriff nahm, nachdem Jürgen Habermas in der Zeit die Frage gestellt hatte: »Was wird aus der Identi­tät der Deutschen?« Habermas diagnostizierte »fehlenden Nationalstolz« und verschrieb den Deutschen ein bisschen mehr »Verfassungspa­triotismus«. Die »nationale Identität« war damals schwer im Schwange, weil man die frisch da­zugewonnenen Zonis aus den fünf neuen Im­bissbudenaufstellflächen ideologisch unter einen Hut bringen musste, und das ließ sich am besten bewerkstelligen, indem man sich eine Un­menge von Feinden imaginierte, die Rudolf Aug­stein damals in seinen Deutschlandkommen­ta­ren im Spiegel erfand. Da dieses nationale Iden­ti­tätsgefasel aber nicht richtig mit Auschwitz kom­patibel war, meldete sich Grass zu Wort, um die Sache hinzubiegen: »Wir kommen an Ausch­witz nicht vorbei. Wir sollten, so sehr es uns drängt, einen solchen Gewaltakt auch nicht ver­suchen, weil Auschwitz zu uns gehört, bleibendes Brand­mal unserer Geschichte ist und – als Ge­winn! – eine Einsicht möglich gemacht hat, die heißen könnte: Jetzt endlich kennen wir uns.«

Abgesehen davon, dass sich das vor dem Hintergrund seiner SS-Zugehörigkeit ganz lustig liest, ist dieses in hohem, weihevollem Ton abgefasste Bekenntnis zu Auschwitz nur vordergründig eines. Gerade dieses orgelhafte, aufdringliche Pochen auf Auschwitz musste einen skeptisch machen. Und zu Recht. Denn »Au­sch­witz als Gewinn« eignete sich im Sinne der von Habermas verteidigten »Einzigartigkeit von Ausch­witz« besser für die unverwechselbare Identitätsausstattung der Deutschen als ein bloß vergleichbares und austauschbares Ereignis, das keinen Anspruch auf Originalität erheben kann und die Deutschen zu bloßen Nach­ahmungstätern stempeln würde, weil laut Nolte die »Asiaten« das Copyright auf den Völkermord hatten und nicht die Deutschen. Nicht umsonst entschied sich auch der Hobbyhistoriker Helmut Kohl im Historikerstreit für diese Version, denn damit war Auschwitz bewältigt. Mit seiner Sakralisierung und von der Aura des Unbegreiflichen umgeben, hatte Auschwitz nur noch eine rituelle Bedeutung. Man konnte sich wieder nationalen Aufgaben zuwenden. Martin Wal­ser meinte das auch: »Wenn wir Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen Aufgaben zuwenden.« Und so wurde es dann ja auch gemacht.

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Grass ist der lebende Beweis dafür, dass öde Literatur in Deutschland und weltweit eine Chance hat. Das liegt jedoch nicht nur am schlechten Literaturgeschmack hunderttausender Leser, sondern auch an den Vermarktungsmechanismen von Literatur, an dem inszenierten und mit dem Literaturbetrieb abgesprochenen Skandal. Nur mit Hilfe feuilletonistischen Flächenbombarde­ments und der Hinterlassung verbrannter Erde ist das Zeug der Oberlangweiler der großdeutschen Literatur, Walser und Grass, unters Volk zu bringen. Grass ist das wieder gelungen, als er »Beim Häu­ten der Zwiebel« en passant erwähnt, bei der Waffen-SS gewesen zu sein. Der Skandal bestand jedoch nicht darin, dass Grass Mitglied in diesem Verein war. Schließlich stammte er nun mal wie die meisten Deutschen aus einem ordentlichen Nazi-Haushalt, wo die Einberufung in die Elite-Einheit nicht als Schande begriffen wurde, abgesehen davon, dass die SS in der Schluss­phase des Krieges nicht wählerisch war und jeden nahm, den sie kriegen konnte. Sogar Günter Grass. Der Skandal bestand vielmehr in seiner Reaktion auf die Fragen, die sein Geständnis auslöste.

Es hatte zwei Möglichkeiten gegeben, auf diese peinliche biografische Episode zu reagieren: Für den Rest des Lebens die Klappe zu halten oder die Karten auf den Tisch zu legen. Grass hat sich für eine dritte und die schlechteste, weil unlauterste Möglichkeit entschieden: Das SS-Kapitel zu verschweigen, sich als moralisches Nachkriegsgewissen der Nation aufzuspielen, seine Mitgliedschaft sechzig Jahre später auszuplaudern und damit ein weiteres Mal öffentliche Aufmerksamkeit abzugreifen. Grass wusste schon während des Krieges, dass er eine Lauf­bahn als Schriftsteller einschlagen wollte und ihm dieses Geständnis in seiner Karriere nicht förderlich wäre. Er hätte vermutlich nicht ganz so viele Preise eingesackt und auch den Literatur­nobelpreis hätte er nicht bekommen. Auch wenn diese Preise nicht schriftstellerische Verdienste, sondern vielmehr das unermüdliche Klappern in der Adabei-Kultur des Literaturbetriebs würdigen, wäre für die schwedische Akademie ein SS-Mann einfach nicht in Frage gekommen. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte es Grass nicht mal zum Redenschreiber von Willy Brandt gebracht, denn der wäre möglicherweise über die SS-Geschichte nicht sooo glücklich gewesen.

Grass verbreitete unter aktiver Mithilfe u.a. von Ulrich Wickert viel Theaternebel um seine Mitgliedschaft bei der SS, aber das Problem ist nicht, dass er Dreck am Stecken hatte, das Problem ist, dass Günter Grass eine Prosa schreibt, die so knarzt, quietscht und knattert, dass man Menschen, die einen Genuss bei dieser Art von Lektüre empfinden, für nicht besonders zurech­nungsfähig halten mag. Seine Leser sind mit einem literarischen Geschmack gesegnet, der in dem nach Bohnerwachs riechenden Treppenaufgang einer Altbauwohnung in den fünfziger Jahren anzusiedeln ist.

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Ich habe die ersten fünfzig Seiten der Erinnerungen von Günter Grass gelesen. Das waren fünfzig Seiten zu viel. Aber wa­rum mehr lesen, wenn es weh tut? Warum mehr lesen, wenn man sich schon mit den ersten fünfzig Seiten so gequält hat? Was ist so interessant an den Memoiren von Günter Grass? Dass »die Kapelle der Schutzpolizei muntere Weisen spielte … Mein erster Steinpilz … Als wir Schüler hitzefrei hatten … Als mei­ne Mandeln schon wieder entzündet waren … Als ich Fragen verschluckte … « Hört sich das wirklich so irre spannend an, dass man es unbedingt lesen möchte? Aber bitteschön, dann lässt man eben die »munteren Wei­sen« über sich ergehen und tastet sich weiter nach vorn. »Und auch ich habe, wenngleich mit Beginn des Krieges meine Kindheit beendet war, keine sich wiederholenden Fragen gestellt. Oder wagte ich nicht zu fragen, weil kein Kind mehr?«, schreibt einer, weil immer noch Schriftsteller? Man möchte ihm zurufen, doch endlich zu Potte zu kommen »hinter restlichen Ruinenfassaden«, er aber belämmert uns mit seiner Großtante An­na, die ihn »mit dem unumstößlichen Satz begrüßt: ›Na, Ginterchen, bist aber groß jeworden.‹«

»Fünfzig Jahre später, als das, was sich gegenwärtig und notdürftig als ›deutsche Einheit‹ zu behaupten hat, Spuren zu hinterlassen begann, besuchten wir Hiddensee, meiner Ute autofreie Heimatinsel.« Puuuh, geht’s nicht noch ein biss­chen gespreizter? Dort trifft Grass einen Jugend­freund. »Bei Kaffee und Kuchen plauderten wir über dieses und jenes … « Ach, wie interessant, wie geistreich und überaus unterhaltsam. Aufmerken lässt einen dann, dass es danach »noch um einheimische Inselgeschichten [ging], in denen sich Lebende und Tote auf Plattdeutsch verplauderten«. Und später? »Nach kurzem Zögern umarmten sich die Schulfreunde und waren ein wenig gerührt.«

Und so labert Grass vor sich hin, breitet seine unglaublich öden Erinnerungen aus, kommentiert sie zwischendrin oberlehrerhaft in der dritten Person und frickelt unermüdlich eine holprige, langatmige und bräsige Prosa zusammen. Da ist kein Rhythmus drin, keine Musik, kein Dampf, keine Spannung, nur der zähe Wille eines Mannes, bis zum bitteren Ende vor sich hin zu schwadronieren.

Grass’ Kunst besteht einzig darin, seine Prosa mit barocken Satzkonstruktionen zu befrachten. »Bauern-Barock« nannte die Süddeutsche Zeitung das: »Es wimmelt von Adjektiven. Re­dundanz ist das oberste Prinzip. Diese Prosa hat etwas Krud-Artifizielles, etwas Ausge­schnitz­tes, Manieristisches, pedantisch Groteskes (Grimmelshausen hat ihm eben schon an der Wiege gesungen!). Überhaupt gilt für Grass’ Bücher das Mischungsverhältnis: Auf eine Einheit Denken kommen dreißig Einheiten Bilderwust. (…) Die Lektüre dieser poetischen Essenz ist nur dem Lutschen von Brühwürfeln vergleichbar.« Das ist schön gesagt.

Ein verschnürter Koffer, den er auf einem Dach­boden findet, verleitet ihn zu folgender Reflexion: »Unter Gerümpel und zwischen ausrangierten Möbeln wartete ein besonderer Koffer auf mich; so jedenfalls deutete ich den Fund. Lag er unter verschlissenen Matratzen? Tippelte auf dem Leder gurrend eine Taube, die sich durch die Dachluke verflogen hatte? Hinterließ sie, von mir aufgescheucht, frischen Taubenmist? Wurde der verknotete Bindfaden sofort aufgedröselt? Griff ich zum Taschenmesser? Hielt mich Scheu zurück? Trug ich den eher kleinen Koffer treppab und überließ ihn brav der Mutter?« Tja, das sind so Fragen, auf die man schon immer eine Antwort haben wollte. Hätte Balzac die nächste Folge seines Romans in der Zeitung so angekündigt, wäre die Sache schnell beendet gewesen. Spannung ist was anderes. Nur Grass weiß nicht, was das ist. Er weiß nur: So lässt sich ein Buch gut strecken.

Das ist Beamtenliteratur vom Feinsten. Und die hat tatsächlich seinen Ursprung in der Biografie von Grass. Mit zehn oder elf treibt er die Schulden ein, die die Kunden seiner Mutter Krä­merladen (um mal in den Zungen Grassens zu sprechen) hinterlassen. Grass wird »zum gewief­ten und unterm Strich erfolgreichen Schuldeneintreiber. Mit einem Apfel oder billigen Bonbons war ich nicht abzuspeisen. Selbst fromme, mit Öl gesalbte Ausreden verfehlten mein Ohr.« Und das ist er immer gewesen: Ein Geschäftsmann, der seinen Kunden einzureden verstand, dass das, was er an Buchstaben zusammenschrubbte, hoch­wertige Literatur sei. Er ist seiner Mutter dankbar, »weil sie mich früh gelehrt hat, sachlich mit Geld umzugehen.« Und wenn man es noch genauer wissen will: »Ich vergaß, beiläufig die häufigen Mandelentzündungen zu erwähnen, die mich vor und nach dem Ende der Kindheit zwar für Tage von der Schule befreit, aber auch meinen aufs Geld versessenen Kundendienst behindert haben.« Tja, er hat es eben nicht vergessen, sondern doch noch beiläufig erwähnt. Lässt sich der Mann auch noch bei einer glatten Lüge erwischen! Wem aber an dieser Stelle nicht längst die Füße eingeschlafen sind, der wird auch die Lektüre eines Telefonbuches aufregend finden.

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Sachlich mit Geld umzugehen« ist na­türlich ein Euphemismus. In Wirklichkeit war Grass wohl eher einfach geizig. Das versinnbildlicht folgende kleine Geschichte: Als Grass eine von Reich-Ranicki auf einer Tagung der Gruppe 47 erzählte Episode aus der Besatzungs­zeit der Deutschen später im »Tagebuch einer Schnecke« verwendete, sprach ihn Reich-Ranicki nach Erscheinen des Buches beiläufig darauf an, dass er ja wohl an den Honoraren beteiligt sein sollte: »Grass erblasste und zündete sich mit zitternder Hand eine Ziga­rette an. Um ihn zu beruhigen, machte ich ihm rasch den Vorschlag: Ich sei bereit, auf alle Rechte ein für alle­mal zu verzichten, wenn er mir dafür eine seiner Graphiken schenke. Ihm fiel hörbar ein Stein vom Herzen … « Tolles Geschäft.

Noch toller war das Geschäft, als Grass 1,8 Mil­lio­nen Mark für den Literaturnobelpreis ein­sack­te, aber sich den für die Zeremonie vor­geschriebenen Frack von der Theaterschneiderei auf An­weisung ihres Chefs Jürgen Flimm, da­mals Intendant des Hamburger Thalia-Theaters, bauen ließ. Ein Maßfrack kostete damals zwischen 5 000 und 9 000 Mark. Grass spendete 2 500 an die Betriebskasse. (Siehe Rainer Schmitz, a.a.O.)

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Nur noch einmal kurz zurück zum Eiertanz, den Grass aufführte, als er auf das späte Geständnis angesprochen wurde, in dem er innere Qualen geltend machte, für die er vorher noch nicht die richtige Ausdrucks- und Verarbeitungsform gefunden habe. Andere hingegen forderte er unumwunden auf, endlich auszupacken, wie am 15. Juli 1969, als Grass dem einstigen SA- und NSDAP-Mitglied Karl Schiller schrieb, er wolle ihn »unumwunden bitten, bei nächster Gelegenheit – und zwar in aller Öffentlichkeit – über Ihre politische Vergangenheit während der Zeit des Nationalsozialismus zu sprechen. (…) Ich hielte es für gut, wenn Sie sich offen zu Ihrem Irrtum bekennen wollten. Es wäre für Sie eine Erleichterung und gleichfalls für die Öffentlichkeit so etwas wie ein reinigendes Gewitter.« Und als sich der damalige Bundesfinanzminister Karl Schiller erfrechte, seinen Brief einfach zu ignorieren, beschwerte sich Grass am 28. April 1970 darüber, dass Schiller seinen guten Rat einfach in den Wind geschlagen habe. Grass habe lange darüber nachgedacht, »wie es möglich sein kann, dass ein Politiker mit so viel Weitblick und Erfahrung … so verengt reagieren kann«, und da ihm, Grass, »diese Materie nicht unvertraut« sei, vermute er hinter der Haltung Schillers »den berühmt-be­rüch­tigten Hochmut des Wissenden«. Soso.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte diese beiden Briefe von Günter Grass an Karl Schiller. Auf Betreiben von Grass untersagte das Berliner Landgericht der FAZ eine weitere Veröffentlichung dieser Briefe. Ist ja auch ein bisschen peinlich.

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Als die Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten erschienen und in der muslimischen Welt heftige Reaktionen hervorriefen, war dies natürlich ein Fall für Günter Grass, der wie immer bestens informiert die westliche Welt darüber aufklärte, wie sich die Sache verhielt. »Es war eine bewusste und geplante Provo­kation eines rechten dänischen Blattes«, sagte Grass in einem Interview der spanischen Tageszeitung El Pais. Den Blattmachern sei bekannt gewesen, dass die Darstellung Allahs oder Mohammeds in der islamischen Welt verboten sei. »Sie haben aber weitergemacht, weil sie rechtsradikal und fremdenfeindlich sind.«

Vor der Grass’schen Enthüllung hat tatsächlich niemand gewusst, dass die Jyllands-Posten ein rechtes Blatt ist. Woher Grass seine Informa­tion bezogen hat, weiß ich nicht, aber vielleicht hat er sie ja von einer der infamen Karikaturen selbst, die einen kleinen Jungen namens Mohammed zeigt, der auf eine Tafel schreibt: »Die leitenden Redakteure von ›Jyllands-Posten‹ sind ein Haufen reaktionärer Provokateure.« Also, wenn die das schon selber veröffentlichen, dann wird’s ja wohl stimmen.

Der Kulturchef von Jyllands-Posten jedenfalls kommentierte den Abdruck der zwölf Karikaturen, die sich vor allem durch ihre Harmlosigkeit auszeichneten: »Einige Muslime lehnen die moderne, säkularisierte Gesellschaft ab. Sie beanspruchen eine Sonderbehandlung, wenn sie auf eine spezielle Rücksichtnahme auf eigene religiöse Gefühle bestehen. Das ist unvereinbar mit einer westlichen Demokratie und Meinungs­freiheit, angesichts derer man sich damit abfinden muss, zur Zielscheibe von Hohn und Spott zu werden oder sich lächerlich machen zu lassen.« Nicht mit Grass, denn weder Mohammed noch Gott noch Grass dürfen verspottet werden. Meinungsfreiheit schön und gut, aber nicht bei religiösen Gefühlen oder Günter Grass.

Der Abdruck der Karikaturen lockt zunächst keinen Hund hinter dem Ofen hervor. Nur einen fundamentalistischen Imam, der schon mit der Feststellung aufgefallen ist, Frauen seien »ein Instrument des Satans gegen Männer«. Der macht unter seinen Glaubensgenossen mobil und verlangt, dass »notwendige Schritte« unter­nommen werden müssen, um die Schmähung des Islam zu verhindern. Der Imam ist erstaunlich erfolgreich, wie Henryk M. Broder in seinem Buch »Hurra, wir kapitulieren« beschreibt:

»Im Herbst 2005 reist eine Delegation dänischer Muslime in die moslemische Welt, die Rundreise wird von der ägyptischen Regierung gesponsert. Im Gepäck der Imame befinden sich eine Dokumentation, die zwölf Karikaturen aus Jyllands-Posten enthält, dazu drei weitere Zeichnungen, die ein paar Zacken schärfer sind: der Prophet als pädophiler Teufel, mit Schweineohren und beim Sex mit einem Hund. Woher die drei Zugaben stammen, wer sie gemacht beziehungsweise gefunden hat und wie sie in die Dokumentation geraten sind, ist bis heute ungeklärt. Irgendjemand muss ein wenig nachgeholfen haben, um die Reaktionen zu optimieren.«

Und das gelingt auch. Im Januar 2006 werden über 100 Millionen Moslems zum Abschluss der Pilgerfahrt nach Mekka per Satellit dazu aufgerufen, sich der »Kampagne gegen den Propheten Mohammed zu widersetzen«. Die Meinungskampagne ist so überwältigend, dass Dänemark international immer mehr unter Druck gerät und fast alle westlichen Länder auf Distanz gehen. Dabei hat die dänische Regierung lediglich zu Protokoll gegeben, dass sie die Karikaturen nicht als strafwürdiges Vergehen ansieht und deren Veröffentlichung durch die Meinungsfreiheit gedeckt ist, in die sich ein Staat gefälligst nicht einmischen sollte. Die Sache geht so weit, dass in Damaskus, Beirut und Teheran die Botschaften Dänemarks angezündet und mit Brandbomben beworfen werden. Von diesen gewalttätigen Reaktionen zeigt sich Grass jedoch wenig überrascht. Es sei nur »die fundamentalistische Antwort auf eine fundamentalistische Aktion«. »Arrogant und selbstgefällig« sei es doch, sich wie die Redakteure der Jyllands-Posten auf die Presse- und Meinungsfreiheit zu berufen. »Wir haben das Recht verloren, unter dem Recht auf freie Meinungsäußerung Schutz zu suchen.«

Interessant. Wenn hier jedoch einer die Meinungsfreiheit etwas zu sehr strapaziert hat, dann Grass. Er jedenfalls benötigt bei diesem Gekäse, das er in diesem Fall von sich gab, die Meinungsfreiheit dringender als alle anderen, denn das Abfackeln einer Botschaft dadurch zu rechtfertigen, dass in einem nicht gerade bedeutenden Blatt in einem nicht gerade bedeu­tenden Land ein paar nicht gerade bedeutende Karikaturen erschienen sind, dazu braucht es allerdings eine große Por­tion Meinungsfreiheit, die selbst die Legitimation offenkundig terroristischer Handlungen in Kauf nimmt. Um seinen absurden Äußerungen etwas mehr Plausibilität zu verleihen, empfiehlt Grass, »sich die Karikaturen einmal näher anzuschauen: Sie erinnern einen an die berühmte Zeitung der Nazi-Zeit, den Stürmer. Dort wurden antisemitische Karikaturen desselben Stils veröffentlicht.« Gerade Grass als ehemaliges SS-Mitglied müsste das eigentlich besser wissen. Julius Streicher je­denfalls wäre über diesen Vergleich schwer beleidigt gewesen. Und das zu Recht.

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Aber von Julius Streicher lässt sich Günter Grass natürlich nicht einschüchtern. Alles, was Günter Grass nicht in den Kram passt, ist nicht weit entfernt von den antisemitischen Karikaturen im Stürmer. Grass soll nämlich jetzt auch als Jude fertig gemacht werden. Darüber informier­te er die Weltöffentlichkeit in der Zeit, wo man Grass mit seinem Langweilerkollegen Walser drei Seiten zur Verfügung stellte. Die ergriffen die Gelegenheit, um sich in aller Aus­führ­lich­keit auszumäh­ren, und man weiß nicht, ob die Zeit plötzlich glaubt, schriftstellerischen Sozialfällen unter die Arme greifen zu müssen, oder ob die im Feuilleton vielleicht einen an der Waffel haben, anderen guten Autoren und guter Literatur den Platz zu stehlen. Wie auch immer. Bei so viel Raum nahm Grass die Gelegenheit wahr und be­schwerte sich über die Karikatur von Greser & Lenz, eine nette und liebevolle Zeich­nung. »In der FAZ ist eine Karikatur über mich ver­öffentlicht worden, die hatte Stürmer-Quali­tät.«

Aha! Na, dann werfen Sie mal einen Blick darauf? Rausgefunden? Wenn Sie wissen, welche Karikatur in der FAZ und welche im Stürmer er­schienen ist, machen Sie doch ihr Kreuz an die richtige Stelle und schicken Sie die Lösung zu Grass nach Lübeck oder zum Steidl-Verlag nach Göttingen. Vielleicht gewinnen Sie was? »Beim Häuten der Zwiebel« mit Widmung vielleicht? Oder den »Butt« als Trostpreis? Nein? Dafür nicht? Meine Güte, Sie sind vielleicht ein undankbares Völk­chen!

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Ach so: Was bleiben wird von Günter Grass? Vermutlich seine die Antiquariate über die nächsten Jahrzehnte hinaus verstopfenden Bücher und die »Fragilaria guenter-grassii«. Das ist eine 1992 in der Danziger Bucht entdeckte und bis dahin unbekannte Algenart, die nach ihm benannt wurde.

Und wenn jemand nicht so genau wissen sollte, was eine Alge ist: Es ist eine primitive Lebensform. »Einzeller eben«, wie mir mein Neffe, ein Naturwissenschaftler, abschätzig mitteilte. Und das passt ja dann irgendwie auch.

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Bittermann, Klaus (Hg.): Literatur als Qual und Gequalle. Über den Kulturbetriebsintriganten Günter Grass. Edition Tiamat, Berlin 2007. Ca. 128 Seiten, 12 Euro. Das Buch erscheint demnächst.