Betretenes Schweigen

In Frankfurt am Main wurde ein Rabbiner auf offener Straße niedergestochen. Kommentar von Paul Urban

Frankfurt am Main, Freitag voriger Woche. Ein 42 Jahre alter Rabbiner wird auf der Straße von einem Mann angesprochen. Wegen seiner Kleidung und der Kippa, die er trägt, ist der Rabbiner als orthodoxer Jude zu erkennen. Der Unbekannte zieht ein Messer und sagt: »Scheißjude, ich bringe dich um.« Völlig unvermittelt sticht er auf den Rabbiner ein. Anschließend flieht er mit zwei Frauen, die ihn begleitet haben. Der Angegriffene muss, schwerverletzt, in einer Klinik operiert werden.

So hat sich nach Angaben des Rabbiners und nach Aussagen von Zeugen das Geschehen in der vorigen Woche zugetragen. Es war vor allem dem Zentralrat der Juden vorbehalten, seine Empörung über diese Tat auszudrücken. Der Ministerpräsident von Hessen, Roland Koch (CDU), verurteilte die Tat zwar genauso wie Andrea ­Ypsilanti, die hessische SPD-Vorsitzende. Aber von den Grünen, der FDP, der Linkspartei, von anderen Verbänden und professionellen Mahnern wie Friedrich Schorlemmer oder Wolfgang Thierse war zunächst nichts zu vernehmen.

Und das ist ein großer Unterschied etwa zu dem Fall Mügeln, wo kürzlich Rechtsextreme während eines Volksfestes acht Inder durch den Ort gejagt haben. Nach diesem Vorfall war die Empörung groß. Einhellig wurde der Angriff verurteilt und ausgiebig wurde über die gesellschaftliche Lage in Ostdeutschland räsoniert. Woher aber rührt das auffällige Schweigen im Falle des niedergestoche­nen Rabbiners?

Möglicherweise will man nur abwarten, bis der Täter ermittelt ist, um nicht vorschnell zu urteilen. Aber tief empfundene Empörung funktioniert anders. Überdies sprach die Polizei bereits zwei Tage nach dem Übergriff von einem »antisemitischen Tatmotiv«. Mehrere Zeugen haben ausgesagt, dass der Angreifer »Südländer« oder »Araber« gewesen sei und den Rabbiner in »arabisch klingenden Worten« angesprochen habe.

Und genau das könnte der Grund für das betretene Schweigen sein. Denn anders als rechtsex­treme Gewalt wird Gewalt, die von Muslimen ausgeht, hierzulande nach wie vor tabuisiert. Und das, obwohl es immer öfter zu Angriffen von Muslimen auf Juden in der Öffentlichkeit kommt. Etwa im Berliner Stadtteil Kreuzberg, wo viele Araber und Türken leben. Oft reicht das Tragen eines kleinen Davidsterns schon aus, um Beleidigungen und Schläge auf sich zu ziehen. Erst vor kurzem wurde wieder ein Mann in der Berliner U-Bahn angegriffen, weil er in ein Buch mit hebräischem Schriftzeichen vertieft war, wie er der Jungle World erzählte. Der stellvertretende Präsident des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann, meint: »Die Saat für solche Motive wird von Hasspredigern auch in islamischen Gemeinden in Deutschland gelegt und nicht nur in Trainingslagern für Terroristen im Iran, Pakistan, dem Irak oder in Afghanistan.«

Doch der Antisemitismus in der muslimischen Community ist ein unangenehmes Thema für die Deutschen. Zum einen sieht man die Muslime als unterdrückte Minderheit, zum anderen leben hierzulande inzwischen zu viele, als dass man sich mal eben mit ihnen anlegte. Also pflegt man auf dem »Karneval der Kulturen« und beim »Tag des offenen Denkmals« den vorsichtigen Dialog mit ihnen und weist die muslimischen Verbänden höflich daraufhin, dass sich auch Muslime an die deutsche Kleiderordnung zu halten haben. Und nichts ändert sich.

Mit Gewalttaten von Muslimen, die sich gegen Juden richten, will man sich nicht weiter befassen. Denn man ahnt, dass das Problem, das dahinter steckt, äußerst komplex sein könnte. Denn was geschähe, wenn man sich eingestehen müsste, dass für einen Teil dieser Minderheit im Land der Holocaust gar keine Bedeutung hat? Was, wenn man erkennen müsste, dass viele dieser Menschen eine ausgeprägte Feindschaft zu den USA, zu Israel und den Juden pflegen? Das Schwei­gen könnte ein Hinweis auf die wachsende Angst sein, dass einem die ganze multikulturelle Gesellschaft um die Ohren fliegt.