9/11 as usual

Der 11. September ist in New York zu einem Tag des stillen Gedenkens geworden. Politik wird mit dem Ereignis kaum mehr gemacht. Von Bernd Volkert

Der 11. September als öffentliches Ereignis ist auf Lebensgröße geschrumpft: immer noch mit starker Wirkung auf Leute, die Fotos ihrer Väter bei der Hochzeitsfeier oder ihrer Mütter im Garten hinterm Haus hochhalten, aber wohl kaum mehr stark genug, um Kriege zu beginnen.« So lautet das Fazit der New York Times über die aktuelle Be­deutung des Datums, von dem es heißt, dass danach nichts mehr so war wie zuvor. Sechs Jahre nach den Anschlägen auf die Twin Towers heißt es in New York auch am 11. September: business as usual. Natürlich gab es dennoch diver­se Gedenkveranstaltungen, die wohl prominenteste war die offizielle Gedenkfeier der Stadt New York für die Hinterbliebenen der Opfer der Anschläge; daneben fanden Gedenkgottesdiens­te und Konzerte in manchen Kirchen und Parks Manhattans statt. Aber nur ein, zwei Häuserblocks von Ground Zero entfernt erinnerte kaum mehr etwas an das Ereignis.

Auch auf Ground Zero, dieser großen Lücke im Stadtbild von New York, die das World Trade Center hinterlassen hat, fand kein großes patriotisches Schauspiel statt, kein pathetisch aufgeladenes Spektakel, kein Fahnenmeer mit stars and stripes. Hier konnte man britische Bob­bies in Festtagsmontur treffen, leuchtend rot gekleidete Feuerwehrleute aus der Schweiz oder zwei Polizisten aus dem Berliner Wedding, die sich unter eine Gruppe Feuerwehrleute aus Thüringen und dem Saarland gemischt hatten. »Ja, auch wir gedenken hier mit. Hat uns ja auch jede Menge Überstunden eingebracht«, gaben die beiden Ordnungshüter kund und freuten sich ansonsten schon auf die Steuben-Parade am Samstag, bei der deutsch-amerikanische Organisationen an einen preußischen General erinnern, der auf Seiten der Amerikaner gegen die Briten gekämpft hat.

Die offizielle 9/11-Gedenkveranstaltung der Stadt New York war dann den Angehörigen der knapp 3 000 Toten vorbehalten, sie wurde im kleinen Zuccotti-Park in der Nähe des World Trade Centers abgehalten – mit nachlassendem Interesse. Etwa 3 500 kamen diesmal noch, um der Toten direkt am Ground Zero zu gedenken, beim morgendlichen Auftakt waren es gerade mal ein paar Hundert. Das Zeremoniell war eher karg, eine kurze Ansprache von Bürgermeister Michael Bloomberg, ein paar Worte von Ru­dolph Giuliani, dem resoluten New Yorker Ex-Bürgermeister und heutigen Präsidentschaftsbewerber; eine Flötistin spielte »Amazing Grace«, die Na­tio­nalhymne wurde einmal gesungen, und mit je einer Schweigeminute erinnerte man an die Mo­mente, als die Flugzeuge in die Twin-Towers einschlugen und als die Türme dann zusam­men­brachen. Das war’s auch schon. Bis zum späten Nachmittag hatten die Angehörigen noch Gelegenheit, zum Gedenken in die Großbaustelle hinabzusteigen, wo die Namen der Opfer verlesen wurden.

Dass die Feier zum ersten Mal nicht auf dem Ground-Zero-Gelände stattfand – aus bautech­ni­schen Gründen, wie die Stadt erklärte –, sorgte noch für die größte öffentliche Aufregung rund um den 11. September. Die Angehörigen vermuten dahinter eine Strategie Bloombergs, die Ver­anstaltung sang- und klanglos auslaufen zu las­sen. Ansonsten verlief der Gedenktag beinahe po­litikfrei. Nur während der kurzen Rede Giulia­nis drehten sich einige der Trauernden demons­tra­tiv mit dem Rücken zur Bühne: kein Wahlkampf an diesem Tag. Hillary Clinton, die als New Yorker Senatorin ebenfalls anwesend war, hatte von vorneherein auf einen eigenen Wortbeitrag verzichtet – und flog nach kurzer Stipp­visite nach Washington, um an der Anhörung des Oberkommandierenden im Irak, David H. Pe­traeus, und des Botschafters in Bag­dad, Ryan Crocker, im Senat teilzunehmen.

Dieses Ereignis rangierte in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich vor der Erinnerung an 9/11 – und wurde auch getrennt davon wahrgenommen, obwohl die Anschläge nach offi­zieller Lesart ein Anlass des Irak-Kriegs waren. Selbst Hillary Clinton und die anderen vier Präsidentschaftsbewerber, die als Senatoren an der Anhörung teilnahmen, die Demokraten Barack Obama, Joseph Biden und Christopher Dodd sowie der Republikaner John McCain, vermieden es, auf den 11. September 2001 zu verweisen. Alle fünf beschränkten sich darauf, Petraeus und Crocker zu angeblichen oder tatsächlichen Fortschritten im Irak und den Aussichten für einen Rückzug der US-Truppen zu befragen – und auch das mit auffallender Zurückhaltung. Schließlich bleibt Petraeus wahrscheinlich auch unter dem nächsten Präsidenten Militärchef im Irak.

Bei der Erinnerungsveranstaltung in Wa­shing­­ton beschränkte sich George W. Bush auf ein stilles Gedenken, bei dem er und Vize-Präsident Richard Cheney samt Ehefrauen vor dem Weißen Haus erschienen, um nach drei Minuten wortlos wieder darin zu verschwinden. Lediglich Verteidigungsminister Robert Gates tat sich bei der Gedenkzeremonie vor dem Pentagon mit entschlossenen Worten hervor: »Die Feinde Amerikas, die Feinde unserer Werte und unserer Freiheit werden niemals wieder zur Ruhe kommen. Denn wir werden sie schonungslos und ohne Vorbehalt jagen.«

Solches Engagement und so viel Emphase ließen sich an diesem Tag sonst nur selten verneh­men. Weniger zurückhaltend gaben sich lediglich die vielen politischen Aktivisten unterschied­lichster Provenienz, darunter erklärte Anarchisten, die de facto für den republikanischen Präsidentschaftskandidaten und Abtreibungsgegner Ron Paul Wahlkampf machten, der einen schnellen Rückzug aus dem Irak befürwortet. Oder auch ordensgeschmückte Vietnam-Veteranen und in stars and stripes gekleidete Patrioten, die demonstrativ vor einer Gruppe um Frieden betender Buddhisten auf und ab marschierten. Ein einsamer Vertreter des »Family Radio – The Sound of the New Life«, erklärte, dass er die 9/11-Anschläge erbaulich finde, weil die Erde hienieden verdorben sei und man froh sein könne, wenn Gott einen hier weghole. Ein Kunsthändler und Privatforscher verkündete wiederum, er werde durch die CIA und das FBI verfolgt, weil er herausgefunden habe, diese selbst hätten die Anschläge inszeniert. Am stärksten vertreten war jedoch die 9/11-Truth-Bewegung, die ebenfalls meint, 9/11 sei ein »Inside Job« gewesen, um allmählich den offenen Faschismus in den USA einführen zu können. Eine Mischung aus Freakshow und danse macabre, die abends ihren spektakulären Höhepunkt fand, als Reverend Billy, Gründer der Church of the First Amendment and against Consumerism, mit einem Dutzend seiner in rote Tuniken gewandeten Anhänger singend zu Ground Zero zog, um dort Papierflugzeuge für den Frieden in die Baugrube zu werfen. Rev. Billy, äußerlich eine Art Sascha Hehn unter Drogen, kam gerade noch rechtzeitig zu der Veranstaltung in New York an.