Der Prediger in dir

Romuald Karmakar dokumentiert in seinem neuen Film »Hamburger Lektionen« das Denken eines islamistischen Predigers ohne die gängigen Bilder. von tobias ebbrecht

Verschwommene Videobilder zeigen einen bärtigen Mann in islamischem Gewand. Mohammed al-Fazazi, Imam einer Moschee im Hamburger Stadtteil St. Georg, spricht auf Marokkanisch und Arabisch zu seiner Gemeinde. Manchmal lächelt er, dann fuchtelt er wild mit den Händen. Diese Aufnahmen wurden im Januar 2000 am Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan gemacht. Fazazi hielt eine Reihe von Fragestunden ab, in denen er den Koran auslegte. Zwei Vorträge wurden mit einer Videokamera aufgezeichnet und später in islamistischen Kreisen vertrieben. Zu sehen waren einige Ausschnitte im Februar 2005 in der Dokumentation »Die Fremden im Paradies« über islamistische Attentäter, von denen einige in Hamburg gelebt und Fazazis Moschee besucht hatten.

Die Ausschnitte zeigen das Klischeebild eines Hasspredigers, das sich unwillkürlich vor Fazazis Reden schiebt. Fazazi wird deutlich: »Du hast die Aufgabe, die Herrschaft der Ungläubigen zu beseitigen, ihre Kinder zu töten, ihre Frauen zu erbeuten und ihre Häuser zu zerstören. Sei in dieser Welt ein Fremder. Sei kein Gefangener deines Geldes. Jihad ist die einzige Lösung, diese Welt zu verändern.« Mit diesen Worten richtet er sich an seine Zuhörer und erntet die Zurufe: »Allahu Akbar, Gott ist groß!« Befremdend wirken diese Worte, die in Arabisch gesprochen und von deutschen Untertiteln begleitet werden. »Fremd-Sein« wird zur allgemeinen Erklärung der Motivation der Terroristen. Die Worte Fazazis aber verdeutlichen vielmehr das »Eigene« im »Fremden«.

Die Videosplitter können die immanente Logik des islamistischen Wahns kaum erfassen. Stattdessen erleichtern sie die Distanzierung. Darum hat der Filmemacher Romuald Karmakar einen anderen Weg gewählt, sich den Reden zu nähern. Er übersetzte sie mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Diese Übersetzung liegt dem Film »Hamburger Lektionen« zu Grunde, der im Februar 2006 auf der Berlinale zu sehen war, aber nun erst in einige deutsche Kinos kommt.

Karmakar wendet ein Verfahren an, das er »Re-Konkretisierung« nennt und das einer inszenierten Dokumentation ähnelt. Ein Schauspieler, Manfred Zapatka, liest vor neutralem Studiohintergrund, in schlichter Straßenkleidung und ohne besondere, interpretierende Betonung den vorliegenden Text. Lediglich zu Beginn der ersten Rede und zwischen den Reden ist eine Außenaufnahme der unscheinbaren Hamburger Moschee zu sehen. Zu Beginn klären Rolltitel über Fazazis Herkunft auf. In der Nähe von Taza im Norden Marokkos zwischen 1948 und 1950 geboren, wurde er nach einer erfolglosen Popkarriere Anfang der siebziger Jahre zunächst Lehrer und gründete in Tanger eine eigene Moschee. Seit Beginn der Neunziger predigte er als Imam in Hamburg. Erst am Ende des Films ist zu lesen, dass Fazazi als einer der Verantwortlichen für die Terroranschläge am 16. Mai 2003 in Casablanca verhaftet wurde und dass die Attentäter von New York um Mohammed Atta bis zum Jahr 2000 zu den regelmäßigen Besuchern seiner Moschee zählten.

Die Methode des inszenierten Dokuments hat Karmakar bereits in dem Film »Das Himmler-Projekt« aus dem Jahr 2000 angewendet. In diesem Film trägt Zapatka eine dreistündige Rede des SS-Reichsführers Heinrich Himmler vor, die dieser im Oktober 1943 vor SS-Generälen hielt. Er bemüht sich, jede Dramatisierung und Inszenierung zu vermeiden. Er lenkt so die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Binnenstruktur von Himmlers Denken und überlagert sie nicht mit den bekannten, stereotypen Darstellungsformen des Nazitäters. Auf ähnliche Weise versucht er, in »Hamburger Lektionen« das Stereotyp des Hasspredigers hinter sich zu lassen. Zapatka imitiert nicht die ausladenden Gesten des Imams. Wo Fazazi vieldeutig lächelt, bleibt Zapatka ernst. Lediglich Untertitel weisen auf die Reaktionen Fazazis oder des Publikums hin. Zwar versetzt der Film das Kinopublikum als Adressat der Reden in die Situation der muslimischen Gemeinde, ähnlich wie »Das Himmler-Projekt« die Zuschauerinnen und Zuschauer mit den zuhörenden SS-Männern identifizierte. Doch letztlich wird damit jeder Zuschauer und jede Zuschauerin selbst in die Situation gebracht, die eigenen Reaktionen ins Verhältnis zu dem zu setzen, was auf der Leinwand, im Text, aber auch in der Aufführung Zapatkas dokumentiert wird. Die Distanz zur »fremden Kultur« wird aufgebrochen, und die Reden sprechen für sich.

Am 6. September titelte die Berliner Boulevardzeitung B.Z. angesichts der versuchten islamistischen Anschläge auf US-Einrichtungen in Deutschland fassungslos: »Es sind Deutsche!« Dieses Unverständnis verweist auf die erfolgreiche Abwehr des »Eigenen« im »Fremden«. »Wir haben immer gedacht, dass wir damit nichts zu tun haben, weil wir nicht am Irak-Krieg beteiligt waren«, sagt Karmakar. »Aber das ist gar nicht das Thema. Fazazi sagt in seinen ›Lektionen‹ deutlich, dass jeder so genannte Ungläubige, der wählen gehe, damit eine Regierung unterstütze, die muslimische Länder unterdrücke. Und deswegen per se ein ›Krieger‹ sei, der getötet werden müsse«, führt er weiter aus. Nicht ohne Grund nannte Karmakar die Reden Fazazis in einem Interview einen »Text aus Deutschland«, der von jemandem verfasst wurde, der »in engem Kontakt stand zu Personen, die ein Verbrechen begangen haben, das meiner Ansicht nach auch in Deutschland, aus unserer Gesellschaft heraus, initiiert wurde. Der Film bietet die Möglichkeit, die Binnenlogik dieses Denkers und Predigers kennen zu lernen – mehr nicht.« Fazazi begründet explizit, warum alle in Demokratien lebenden Menschen gleichermaßen zu Feinden werden: »Die Demokratie ist die Religion der Ungläubigen und wird der ganzen Welt aufgezwungen. Das Volk wählt eine Partei von selbst ernannten Götzen. Wenn europäische Parlamente Feindseligkeiten gegen Muslime anzetteln, ist die Bevölkerung mitverantwortlich, denn sie beteiligt sich durch Wahlen, Steuern, Presse. Deshalb sind diese Ungläubigen Krieger. Und da sie Krieger sind, sind ihre Vermögen, ihre Ehe, ihre Seelen und alles, was sie besitzen, für die Muslime antastbar.«

Der Film löst die Reden aus ihrem Ursprungskontext heraus und macht gerade dadurch die immanente Logik des Wahns in einem neuen Bezugsrahmen sicht- und nachvollziehbar. So wird deutlich, wie sie in weiten Teilen dem multikulturellen Denken linker Veranstaltungen und postkolonialer Seminare folgen. Sie zeigen, dass die islamistische Ideologie Versatzstücke linken Denkens integriert hat. So sagt Fazazi: »Die Ungläubigen haben uns die Armut gebracht und uns gezwungen, nach Europa auszuwandern. Und hier geben sie uns nichts als Krümel und Almosen. Wir machen die Arbeit, die die Deutschen nicht tun wollen, waschen Teller, putzen Toiletten.« »Der Fremde« ist zu einem Ticket geworden, mit dem die Widersprüche der Moderne aufgelöst werden. Am Ende wird alles auf einen einfachen Nenner gebracht. »Seine Rückschlüsse sind eindeutig die der Rache: Wenn die uns irgendetwas genommen haben, nehmen wir ihnen das jetzt wieder weg«, legt Karmakar dar.

»Hamburger Lektionen« zeigt die fließenden Übergänge zwischen der berechtigten Kritik an den Verhältnissen, unter denen Migranten in Deutschland leben müssen, und der jihadistischen Vernichtungsfantasie. Dem Film gelingt dies, weil Karmakar auf eine explizite politische Einordnung oder moralische Wertung verzichtet. Die Zuschauerinnen und Zuschauer müssen selbst Bezüge zwischen dem Denken Fazazis und ihren eigenen Vorstellungen herstellen. Dieses manchmal sogar banale Denken und seine schrecklichen Konsequenzen kommen weitaus näher an das Publikum heran als die Nachrichten auf den Titelseiten der Zeitungen. Gerade weil die Reden so nah am eigenen, »guten« Denken angesiedelt sind und den Umschlag in den Vernichtungswunsch als kleinen, kaum merklichen rhetorischen Vorgang verdeutlichen, dessen Folgen im Irak, in Israel, in Großbritannien, Spanien und den USA deutlich zu sehen sind, sind die »Hamburger Lektionen« so erschreckend.

»Hamburger Lektionen« (Deutschland 2006). Regie: Romuald Karmakar, Start: 20. September