Die Söhne der Dynastien

Die japanische Regierungspartei LDP ist in der Krise, nun sucht sie einen Nachfolger für den zurückgetretenen Premierminister Shinzo Abe. von hans martin krämer, tokio

Für Auskünfte stand Shinzo Abe nicht mehr zur Verfügung. Gleich nach der Verkündung seines Rücktritts vor zwei Wochen hat sich der noch am­tierende Premierminister ins Krankenhaus geflüchtet. Man kann es ihm nicht verdenken: Selbst für Japan, dessen jüngere Vergangenheit an kurzen Regierungszeiten nicht arm ist, war Abes Amts­zeit ein neuerlicher Tiefpunkt. Vor weniger als einem Jahr trat er sein Amt mit Umfragewerten von über 60 Prozent Zustimmung an, doch machten vier Rücktritte von Ministern sowie der nach wie vor nicht aufgeklärte Verlust von vielen Millionen Dateien der Rentenkasse ihn zu einem der unpopulärsten Politiker. Dass Abe über seinen Lieblingsprojekten, der Verfassungsrevision und der Durchsetzung reaktionärer Bildungsideale, alle anderen innen- und außenpoli­tischen Aufgaben vernachlässigte, bestraften die Wähler schließlich im Juli mit der verheerendsten Niederlage, die die Liberaldemokratische Partei (LDP) jemals einstecken musste.

Kaum jemand glaubte am Tag nach den Oberhauswahlen an ein politisches Überleben Abes. Hatten doch die LDP-Granden den Emporkömmling, dessen Hauptqualifikation darin bestand, Enkel eines Premier- und Sohn eines Außenministers zu sein, nur deshalb zum Premierminister gemacht, weil man ihn für populär genug in der Bevölkerung hielt, um Wahlen zu gewinnen. Nun hatte Abe die Wählerschaft und die eigene Partei gegen sich. Dennoch vermochte er noch Ende August sein Kabinett umzubilden.

Warum Abe nun doch zurücktrat, ist nicht ganz klar. Eventuell wollte er der Enthüllung einer Zeit­schrift zuvorkommen, die vorige Woche berichte­te, Abe habe über Jahre hinweg Spendengelder in Millionenhöhe illegal der Steuer vorenthalten. Abe hatte noch vor zwei Wochen mit dem Rücktritt gedroht, falls das Parlament einer Verlängerung der Geltungsdauer des Antiterrorgesetzes, das Auslandseinsätze des als »Selbstverteidigungs­streitkräfte« bezeichneten Militärs erlaubt, nicht zustimme. Dann erklärte er seinen Rückzug, bevor es zu einer Abstimmung kam. Am Sonntag meldete sich Abe doch noch zu Wort und erklärte, sein Rücktritt sei aus gesundheitlichen Gründen erforderlich gewesen.

Die ehrgeizigen Aspiranten auf seine Nachfolge hatten nur wenig Zeit. Es kam zum erwarteten Konkurrenzkampf zwischen den beiden prominentesten hochrangigen Politikern, dem bisherigen Außenminister Taro Aso und dem langjährigen Regierungssprecher Yasuo Fukuda. Auch sie entstammen Politikerdynastien: Aso ist der Enkel, Fukuda der Sohn eines Premierministers. Im Gegensatz zu Abe haben beide aber auch als Fachpolitiker langjährige Erfahrung sammeln kön­nen.

Aso war zunächst der Favorit. Derzeit Minis­ter, erfreute er sich in der Öffentlichkeit größerer Popularität als Fukuda. Doch der LDP-Parteivorsitzende wird nun einmal nicht von der Bevölkerung gewählt, im diesmal zur Anwendung gekommenen Schnellverfahren nicht einmal von der ganzen Partei, sondern von den LDP-Abgeord­neten in beiden Kammern sowie einer kleineren Zahl von regionalen Funktionären der Partei.

Hier nun hatte Fukuda hinter den Kulissen effektive Lobbyarbeit betrieben. Innerhalb kürzester Zeit versammelte er die Mehrheit der Parlamentarier hinter sich. Dabei hat er es als Vorzug verkaufen können, dass er seit 2005 nicht mehr prominent politisch tätig ist. So ist er nicht mit dem Makel der Beteiligung an der glücklosen Regierung Abes versehen, sondern kann sich noch in dem Glanz des im Rückblick erfolgreichen Junichiro Koizumi sonnen, dessen Regierungssprecher er war. Mittlerweile liegt Fukuda auch in Mei­nungsumfragen vorn.

Der 71jährige räumte selbst ein, dass es ihm an Charisma mangele, doch offenbar wünschen sich viele nach dem Chaos des vergangenen Jahres einen besonnen auftretenden Regierungschef. Fukuda ist für seine diplomatische Wortwahl bekannt, während Aso immer wieder durch seine Versprecher aufgefallen ist und wie der scheiden­de Abe für einen eher konfrontativen Stil steht. Am Sonntag gewann Fukuda klar mit 330 Stimmen, nur 197 Abgeodnete und Funktionäre entschieden sich für Aso.

Die beiden Kontrahenten unterschieden sich nicht nur im Temperament, es handelte sich offenbar diesmal nicht um die Konkurrenz zweier sich letztlich nur durch ihr Netzwerk persönlicher Loyalitäten unterscheidender Vertreter des LDP-Establishments. Der nunmehr designierte Premierminister Fukuda vertritt deutlicher die wirtschaftsliberale Linie seines ehemaligen Chefs: Die Reformen Koizumis müssen, so Fukuda, auf jeden Fall fortgeführt werden. Aso hatte hingegen auf die Folgen zu schnellen Wandels hingewiesen: »Kleinbetriebe, Alte, Schwache und Pensionäre haben den schwarzen Peter zugeschoben bekommen«, sie müssten geschützt werden. Diese im traditionellen Sinne konservativere Sicht bestimmte auch Asos Außenpolitik, die der von Abe ähnelt. Fukuda hingegen steht für eine offenere Haltung Asien gegenüber und betont die Zusammenarbeit mit den USA. So will Fukuda auf jeden Fall die Geltungsdauer des im November auslaufenden Antiterrorgesetzes verlängern, auf dessen Grundlage die japanischen »Selbstverteidigungsstreitkräfte« derzeit im Indischen Ozean die militärischen Aktivitäten der USA unterstützen.

Allerdings sieht es ganz so aus, als könnte Fuku­da eine Neuerung Koizumis unterminieren: Fukudas überraschender Erfolg bei der Wahl zum Parteivorsitzenden beruhte nicht zuletzt auf der geschickten Nutzung der alten parteiinternen Fraktionen. Früher waren diese allein ent­schei­dend für die Vergabe sämtlicher Posten. Koizumi, der mit starker Unterstützung der Basis gewählt worden war und nur schwachen Rückhalt in der alten Garde genoss, war angetreten, deren Macht zu brechen. Die weitere Entwicklung wird nun wohl davon abhängen, wie lange Fukuda sich halten kann. Noch ist kein populärer jüngerer Po­litiker in Sicht, der unabhängig von den etablierten Strukturen handeln könnte.

Vielleicht schafft es aber auch die Demokratische Partei Japans (DPJ), die einzige verbliebene größere Oppositionspartei, bei den nächsten Unterhauswahlen erstmals, sich gegen die LDP durchzusetzen. Sie befürwortet noch drastischere wirt­schaftsliberale Reformen und kritisiert bei jeder Gelegenheit das LDP-System der jahrzehntelangen Vetternwirtschaft, in dem Abgeordnete ihre wichtigste Aufgabe darin sehen, ihrem Wahlkreis öffentliche Gelder für häufig sinnlose Bauprojekte zuzuschustern, um ihre Wiederwahl zu sichern. Nicht nur die Konkurrenz durch die DPJ, auch die Erfahrung des Scheiterns Abes, der die Tagespoli­tik zugunsten ideologischer Projekte vernachlässigen zu können glaubte, wird Fukuda zum Handeln zwingen.

Neben der Verlängerung der Geltungsdauer des Antiterrorgesetzes ist es die Finanzpolitik, die Fukuda am meisten beschäftigen wird. Die Verringerung der öffentlichen Ausgaben seit Koizumis Amtszeit hat zu unerwartet großen Problemen in strukturschwachen, insbesondere landwirtschaft­lich geprägten Regionen Japans geführt, die bislang von öffentlichen Subventionen stark abhängig waren. Die Wahlniederlage der LDP vor zwei Monaten ist auch als Folge des Ärgers der Wähler außerhalb der Großstädte gedeutet worden. Fukuda wird also Probleme haben, wenn er einerseits die Haushaltskürzungen fortführen, andererseits aber die Bevölkerung nicht noch weiter verprellen will. Letztlich könnte die einzige Rettung für die LDP darin bestehen, dass in dieser Frage der Opposition auch niemand zutraut, eine Alternative zu bieten.