Unterschiedliche Realitäten in Europa

Die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter nimmt in den EU-Ländern stetig ab. Die europäischen Staaten haben unterschiedliche Strategien, um den Arbeitsmarkt zu regulieren. Migration spielt dabei eine immer wichtigere Rolle. von korbinian frenzel, brüssel

Die Zeiten, in denen man sich in Tschechien, Polen oder Ungarn über das Etikett »neues Europa« freuen konnte, dürften nun vorbei sein. Denn auch die neuen EU-Mitglieder im Osten ereilt mehr und mehr das Schicksal ihrer reichen Nach­barn im alten Westen: Europa – das ist Realität von Lissabon bis Tallinn – sieht alt aus, die Gesellschaften vergreisen. Die EU, nach den letzten Erweiterungen gerade auf 490 Millionen Einwohner angewachsen, wird schrumpfen. Was bisher vor allem ein Rechenspiel von Demographen war, wirkt sich angesichts des anhaltenden Wirtschaftsbooms bereits konkret aus.

Denn in zahlreichen EU-Mitgliedstaaten fehlen Arbeitskräfte. Neben Deutschland verzeichnen der europäischen Statistikbehörde Eurostat zufolge auch Ungarn, Italien und Lettland seit einiger Zeit einen Rückgang der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter. Von 5,5 Millionen neuen Jobs EU-weit geht die EU-Kommission für dieses und das kommende Jahr aus – doch ob sie, falls sie tatsächlich entstehen, besetzt werden können, bleibt angesichts des Fachkräftemangels fraglich.

Europa hat ein Problem – und innerhalb der EU-Ministerien wächst die Unzufriedenheit darüber, dass wichtige Mitgliedstaaten offenbar die Augen vor den Realitäten verschließen. »Wir müssen uns von der traditionellen Denkweise lösen, in Migration einen Grund für Verlust und Leid zu sehen«, sagte der stellvertretende Präsident der EU-Kommission und Innenkommissar Franco Frattini vor zwei Wochen bei der Vorstellung seiner »Blue Card«-Pläne. Die heftigen ablehnenden Reaktionen, die darauf vor allem aus Deutsch­land und Österreich kamen, bestätigen, dass die Nachricht ihre Adressaten erreicht hat. Denn gerade gegenüber der größten EU-Volkswirtschaft, nämlich Deutschland, sollte, so die Äußerungen aus dem Umfeld von Frattini, ein klares Signal ausgesendet werden: Ohne eine uneingeschränkte Öffnung der Grenzen für qualifizierte Migranten werden die ökonomischen Probleme nicht zu lösen sein.

Mit seinem Vorschlag für eine »Blue Card« mahnt Frattini nicht zuletzt mehr Macht für die EU-Organisationen an. Die sind bis dato weder für den Arbeitsmarkt noch für Einwanderungspolitik zuständig; beide Bereiche liegen in der nationalen Verantwortung der 27 Mitglieder. Jetzt soll eine Rahmenrichtlinie die Grundlage für eine Öffnung der nationalen Arbeitsmärkte legen – und faktisch eine Einwanderungspolitik nach dem Vorbild der USA vorschreiben. Der Konservative Frattini, dessen Job bisher hauptsächlich in der Sicherung der »Festung Europa« bestand, bekommt für diesen Vorschlag sogar Lob von der britischen Europa-Abgeordneten der Grünen, Jean Lambert: »Der neue Ansatz der Kommission, die EU-Politik auf legale Migration zu konzentrieren, ist sehr zu begrüßen.« Eine Ein­wanderungsdebatte »ohne Populismus« sei auf EU-Ebene einfacher zu führen als auf nationaler, ergänzte die italienische Sozialdemokratin Lilli Gruber.

Angesichts der unterschiedlichen Bedürfnisse innerhalb der europäischen Staaten herrscht aber auch Skepsis gegenüber einem einheitlichen Vorgehen der EU. Spanien etwa braucht vor allem Erntearbeiter, eine Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte hilft da kaum. Mit einer großen Legalisierungsaktion hat die Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten José Luis Zapatero ohnehin vor zwei Jahren Hunderttausende zuvor illegale Landarbeiter in den Arbeitsmarkt integriert.

In Polen wird jetzt angesichts einer prosperierenden Wirtschaft die Abwanderung von Arbeitern nach England und Irland spürbar. Knapp zwei Millionen Polen haben das Land seit dem EU-Beitritt verlassen und fehlen auf dem dortigen Arbeitsmarkt. Präsident Lech Kaczynski setzt auf nationale Gefühle und will viele von ihnen nun mit einer Werbekampagne zurückholen: »Wir müs­sen die Mehrzahl der Leute überzeugen, dass ihr Platz in Polen ist.«

Wie Polen leidet auch Tschechien unter einer stetig älter werdenden Bevölkerung. Gegenwärtig wird der tschechische Arbeitsmarkt zudem vom wirtschaftlichen Aufschwung der Nachbarstaaten Ungarn und Slowakei belastet. Seit dort die Löhne gestiegen sind, verlassen immer mehr ungarische und slowakische Handwerker Tschechien. Arbeitsminister Petr Necas hat als Gegenmaßnahme kurz vor der europäischen Initiative Frattinis eine tschechische »Green Card« angekündigt.

Staatspräsident Nicolas Sarkozy hat unterdessen ein Quotensystem als Instrument der französischen Zuwanderungspolitik vorgeschlagen. Frankreich steht weniger unter Druck als seine Nachbarn angesichts einer Familienpolitik, die die Geburtenrate deutlich erhöht hat. Durchschnittlich bekommt in Frankreich eine Frau zwei Kinder, wäh­rend in Deutschland die Geburtenrate statistisch bei 1,3 Kindern pro Frau liegt.

Die unterschiedlichen nationalen Initiativen will Frattini mit seinem Vorschlag, dessen Details Ende Oktober vorliegen sollen, zu einem europäischen Einwanderungskonzert zusammen­führen. In Deutschland wie auch in Österreich herrscht jedoch in der Großen Koalition Einigkeit gegen die Pläne. Er bestehe darauf, dass Österreich selbst entscheide, welche Arbeitnehmer ins Land kommen, sagte der sozialdemokratische Bun­deskanzler Alfred Gusenbauer. In der EU-Kommission in Brüssel sind diese Töne vielen noch in guter Erinnerung. Dass Deutschland und Österreich einen Kurs der Abschottung gegen ausländische Arbeitskräfte fahren, konnte man bereits im Vorfeld der EU-Erweiterung im Mai 2004 erleben. Auf Druck des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder und seines österreichischen Amtskollegen Wolfgang Schüssel und zusammen mit den Gewerkschaften wurde den neuen EU-Bürgern der mittel- und osteuropä­ischen Nachbarn eines der zentralen Grundrechte der Europäischen Union verwehrt: das Recht auf die freie Wahl des Arbeitsorts.

»Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit« heißt das Konstrukt, das für rund ein Fünftel der EU-Bevölkerung die legale Arbeitsmigra­tion in Richtung Westen nahezu unmöglich machte. Denn im Windschatten der deutsch-österrei­chischen Initiative folgten nahezu alle westeuropäischen EU-Mitglieder diesem Abschottungskurs.

Erst Ende vergangenen Jahres verlängerte die deutsche Regierung – wie viele andere Staaten auch – die zunächst auf zwei Jahre begrenzten Beschränkungen für osteuropäische Arbeitnehmer bis Mai 2009. Jetzt aber, da auch Deutschland die Fachkräfte ausgehen, hat die Bundesregierung im Nachhinein die Arbeitsbeschränkung gelockert. Ab November dürfen Polen, Tschechen und Litauer auch in Deutschland arbeiten – aller­dings nur, wenn sie als entsprechend qualifiziert gelten.

Offenbar hat bei der Entscheidung der Blick auf die drei Länder geholfen, die osteuropäische Arbeiter bereits seit Mai 2004 ohne Einschränkungen auf ihren Arbeitsmarkt gelassen haben: Groß­britannien, Irland und Schweden. »Die britische Wirtschaft hat enorm von der Öffnung des Arbeitsmarkts profitiert«, steht in einem Bericht des britischen Parlaments vom vergangenen November. In Großbritannien wie auch in Irland und Schweden begegnet man Frattinis Initiative daher auch relativ entspannt. Ein Mangel an Fachkräften ist dort derzeit kein akutes Problem.