Der Kapitalismus ist ein Papiertiger

Zwar wird die Weltwirtschaft so bald nicht zusammenbrechen. Doch dürften die USA im Zuge der Immobilienkrise weiter an Macht verlieren, da das Vertrauen in den Dollar und das Pentagon erschüttert sind. von lutz getzschmann

Die US-Immobilienkrise hat möglicherweise größe­re Auswirkungen auf den deutschen Finanzmarkt als bisher angenommen. Die Deutsche Bank wird wohl auf faulen Krediten in Höhe von 29 Milliarden Euro sitzen bleiben. Der Plan, 4 000 neue Stellen zu schaffen, wurde bei dem größten deutschen Finanzkonzern auf unbestimmte Zeit verschoben. Für die doch nicht angeworbenen neuen Mitarbeiter mag das nicht das Schlechteste sein, da Jobs bei diesem Unternehmen – wie wir nicht erst seit den noch nicht lange zurückliegenden Massenentlassungen trotz Rekordren­dite wissen – ohnehin häufig kein dauerhaftes Vergnügen sind.

Auf der ganzen Welt werden Käufer für Kredite im Wert von mehr als 220 Milliarden Euro gesucht, eine gigantische Geldvernichtung kündigt sich an. In Deutschland scheint dies lediglich die Bereitschaft der Banken zu schmälern, schuldenfinanziert Unternehmen einzukaufen, die globalen Auswirkungen könnten jedoch wesentlich weit reichender sein. Einige amerikanische Hedgefonds wurden bereits in den Ruin gerissen, zwei deutsche Banken gerieten in Liquiditätsnöte und mussten von der KfW mühsam gestützt werden. In Großbritannien zeichnete sich zum ersten Mal seit dem Jahr 1866 ein Bank-Run ab: Sparer standen Schlange, um ihre Konten bei der angeschlagenen Nor­thern Rock Bank (Jungle World 39/07) zu leeren, und entzogen der Hypothekenbank Werte in Höhe von Milliarden Pfund. Bis nach Kasachstan und Indonesien reichten die Auswirkungen.

In den USA sind zahlreiche überschuldete Hausbesitzer davon betroffen. Im August stieg die Zahl der Liegenschaftspfändungen auf 244 000, das bedeutete einen Anstieg um 36 Prozent gegenüber dem Vormonat und um 116 Prozent innerhalb eines Jahres. Inzwischen tangiert die Krise auch andere Bereiche: Firmenanleihen, Über­ziehungskredite von Privathaushalten und sogar Anleihen für die Finanzierung des Universitätsstudiums. Angesichts einer befürchteten Welle von Firmenpleiten mehren sich die Forderungen an den US-Kongress, eine wirksamere Aufsicht über die Finanzmärkte zu installieren.

Die als Reaktion auf die Immobilienkrise beschlossene Zinssenkung der US-Notenbank bedeutet trotz euphorischer Reaktionen an der New Yorker Börse noch keine langfristige Entspannung. Der New Yorker Ökonom Willi Semmler ver­merkte dazu in einem Interview im Spiegel: »Die Erleichterung dürfte nicht allzu lange anhalten. Mittelfristig, prophezeien Ex-Notenbankchef Alan Greenspan und andere, wird die US-Börse wohl in eine neue Phase der Volatilität, der Turbulenz eintreten. Allein die Tatsache, dass sich die Fed zu einer so unerwartet drastischen Zinssenkung veranlasst sah, deutet darauf hin, dass die Lage ernster ist als gedacht. Manche Beobachter sprachen von einer ›Fed-Panik‹.«

Erste Anzeichen deuten weiterhin darauf hin, dass sich der Dollarabfluss aus den USA beschleunigen und zu einer weiteren Schwächung seines Kurses beitragen könnte. Mittelfristig würde dies zwar zunächst exportorientierte Ökonomien wie etwa die deutsche in die Krise bringen, da Impor­te in die USA noch weiter verteuert würden. Umgekehrt bedeutete das natürlich eine Abschwächung des US-Handelsdefizits. Langfristig allerdings würde der Kursverfall den Dollar als Leitwährung der kapitalistischen Weltwirtschaft und damit die Dominanz der USA unter den Zentren wirtschaftlicher Macht in Frage stellen.

Der 2005 verstorbene Theoretiker der Dependenztheorie, André Gunder Frank, hatte bereits 2003 im Vorfeld des Irak-Krieges gefragt, worauf eigentlich die Machtstellung der USA beruhe. Seine Antwort lautete: »Auf zwei Säulen: dem Dollar und dem Pentagon. Der Dollar ist ein Papiertiger – im Wortsinne, viel mehr als zu der Zeit, als Mao die USA so nannte. Die Stärke und Beweglichkeit des Pentagon beruht auf dem Dollar und stützt ihn umgekehrt auch. Aber diese beiden Türme sind nicht nur das Fundament der USA, sondern auch ihre beiden Achillesfersen.« Seines Erachtens wäre es durchaus möglich, dass diese Machtstellung der USA an einem Morgen zusammenbrechen könnte – durch das Wirken der inter­nationalen Finanzmärkte und die schlecht bera­tene Politik der US-Regierung selbst.

Beide von Frank genannten »Säulen« sind mitt­lerweile zumindest angeknackst. Die US-Armee ist im Irak wie in Afghanistan in Abnutzungskriege ohne Aussicht auf entscheidende Siege verwickelt, eine militärische Intervention im Iran wäre, selbst wenn die Regierung sie wirklich wollte, schon wegen mangelnder Kapazitäten und einem kaum noch zu finanzierenden und zugleich unter immer gravierender werdenden Rekrutierungsschwierigkeiten leidenden Militärapparat kaum zu realisieren. Das Pentagon beginnt, vorerst nur leicht, zu wanken.

Bereits in den vergangenen Jahren dienten militärische Aktionen der USA unter anderem auch dazu, die Stellung des Dollars als Weltgeld zu stär­ken. Der Irak stellte im Jahr 2000 den Preis seines Öls von Dollar auf Euro um. Der Iran hat damit gedroht, dasselbe zu tun. Venezuela hat einen Teil seines Öls aus der Preisfestsetzung in Dollar herausgenommen und tauscht es stattdessen gegen Waren aus anderen Ländern des Südens. Der venezolanische Vertreter in der Zentrale der Opec, Francisco Mires, schlug zur selben Zeit vor, die gesamte Opec solle ihre Ölpreise von Dollar auf Euro umstellen. Der Irak-Krieg veränderte vor­erst die Situation.

Die »Memorandum«-Gruppe fasste die daraus entstehenden Alternativen in ihrer Prognose für das Jahr 2003 wie folgt zusammen: »Durch einen schnellen militärischen Erfolg könnten die USA zeigen, dass sie ihre (Vor)Machtansprüche tatsächlich militärisch umsetzen können. Hierdurch dürfte das Vertrauen internationaler An­leger in die Stärke der US-Wirtschaft steigen. Die daraus resultierenden Kapitalzuflüsse würden ein weiterhin hohes oder sogar noch steigendes Leistungsbilanzdefizit finanzieren und ermöglichten es der US-Wirtschaft damit, auch künftig als weltwirtschaftliche Konjunkturlokomotive zu fungieren. Fallende Ölpreise als Folge der Zerschlagung des Opec-Kartells könnten das so aus­gelöste Wachstum verstärken.« Ein längerer Krieg könne dagegen negative Folgen für die US-amerikanische Wirtschaft haben und den zum damaligen Zeitpunkt noch anhaltenden Dollarzufluss in einen Dollarabfluss verwandeln. Das Leistungs­bilanzdefizit der USA könne dann auf Dauer nicht mehr finanziert werden. Sein Abbau führe folge­richtig zu einer Dollarabwertung und zur Erosion der US-amerikanischen Vormacht in der Weltwirtschaft sowie zu einer Verbesserung der Konkurrenzposition Europas.

Weltgeld bedarf, um solches zu sein, zweier stützender Faktoren: Vertrauen in seinen Wert und in die Machtmittel, die den Wert absichern helfen. Nunmehr sieht es fast so aus, als schwinde das Vertrauen in die US-Währung. Die industrielle Basis ist, vor allem in der Automobil- und Stahlindustrie, seit längerem in der Krise. Der Ölpreis sinkt nicht. Die US-Handelsbilanz hat sich zwar – gerade auch wegen der Schwäche des Dollars – erholt, bleibt aber anhaltend defizitär. Hinzu kommt, dass die Immobilienkrise auf eine Ökonomie trifft, die insgesamt auf Pump lebt – von den in den vergangenen sechs Jahren mehr als verdoppelten Schulden der öffentlichen Hand bis zu den einzelnen Lohnabhängigen. Allein die Kreditkarten-Schulden liegen nach aktuellen Angaben in den USA bei deutlich mehr als 800 Mil­liarden Dollar, dreimal so viel wie vor 20 Jahren. Jeder US-amerikanische Haushalt ist mittlerweile mit durchschnittlich 10 000 Dollar verschuldet.

Das alles schreit geradezu nach einem reinigen­den Crash, mit dem massenhaft Geld vernichtet würde, das de facto ohnehin wertlos ist, weil niemand in der Lage wäre, die Schulden abzutragen. Würden in dem dann absehbaren Chaos jedoch die riesigen Devisenreserven abgezogen, die derzeit in den USA geparkt sind, wäre tatsächlich ein Szenario denkbar, bei dem die wirtschaftliche, militärische und politische Macht der USA ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen würde. Der globale Kapitalismus bräche allerdings wohl kaum zusammen, dafür ist die Weltwirtschaft zu multi­polar organisiert. Nachrücken würden – nach einer Phase des Chaos und der globalen Rezession – andere Akteure, die den Platz der USA auf der Son­nenseite der kapitalistischen Welt einnehmen würden.

Realistischer als ein vollständiger Ruin der US-Wirtschaft ist aber, dass sie schleichend an Bedeutung gegenüber der EU und boomenden Regionen wie China verliert. Zunächst sieht es danach aus, als wäre die Zeit der Luftgeschäfte und des Handels mit Krediten vorerst vorbei. An Geld zu kommen ist schwieriger geworden, und die überschuldeten Konsumenten sind unter Druck geraten. Jene Bevölkerungsteile, die sich bisher für Angehörige der middle class hielten, auch wenn der entsprechende Lebensstil weitgehend auf Schulden basierte, bekommen die Krise am meisten zu spüren. Die Sozialarbeiterin Marina Preed aus Atlanta, Georgia, beschreibt die Lage der Betroffenen so: »Sie haben im Vergleich zu früher weniger Einkommen, Reservisten werden zum Kriegsdienst gerufen, Krankheit und die damit verbundenen Kosten spielen eine Rolle, und dann hat man ihnen diese Kredite aufgeschwatzt, die sie sich eigentlich nicht leisten können.«

Auch als Ende der neunziger Jahre eine große Spekulationsblase platzte und die »New Economy« schlagartig zum alten Hut wurde, gab es Firmenpleiten, gingen Jobs verloren, büßten Fonds über Nacht ihre Werte ein. Die Haltlosigkeit der modischen Theorien über die glorreiche Zukunft der »immateriellen Arbeit« trat zutage, weil Kapitalismus nun mal auf der materiellen Produktion von Waren beruht. Die größten Verlierer aber waren die kleinen Anleger, deren Geld verspekuliert worden war.

Wenn nichts schief geht, dürfte die aktuelle Krise ähnlich verlaufen, bloß viele Privathaushalte in den USA noch härter treffen und größere Bevölkerungskreise in Mitleidenschaft ziehen. Der neoliberale Ökonom Allan Meltzer sieht dies ganz gelassen: »Kapitalismus ohne Fehlschläge ist wie Religion ohne Sünde – es funktioniert nicht!«