Standort gesund, Patient krank

Gesundheitspolitik hat weniger mit der bestmöglichen Versorgung von Kranken als mit dem bestmöglichen Umsatz von Unternehmen zu tun. Damit der Gesundheitsmarkt weiterhin ein attraktiver Standortfaktor bleibt, müssen die Kranken für ihre Gesundheit eben mehr zahlen. von nadja rakowitz

Seit Jahren ist die »Kostendämpfung« zur Bekämpfung der vermeintlichen »Kostenexplosion« der oberste Zweck der Gesundheitspolitik. Dabei geht es nicht um eine medizinisch und so­zial­poli­tisch sinnvolle Organisation des Gesundheitswesens, sondern schlicht um Wirtschaftspolitik. Mit der Senkung der Krankenkassenbeiträge für Arbeitgeber soll ein gesundheitspolitischer Beitrag zur Minderung der so genannten Lohnneben­kosten geleistet werden, um den Unternehmen in Deutschland attraktive Akkumulationsbedingungen im internationalen Standortwettbewerb zu verschaffen, weil auf diese Weise Arbeitsplätze in Deutschland erhalten oder gar neue geschaffen würden. So jedenfalls lautet das populistische Argument aus dem Lehrbuch des Vulgärökonomen. Dass die Unternehmen Arbeitsplätze nur dann schaffen und erhalten, wenn es für sie betriebswirtschaftlich sinnvoll ist, und nicht aus volkswirtschaftlicher Vernunft und Verantwortung für »die deutsche Wirtschaft« handeln, wissen alle. Dass die Akkumulationsbedingungen in Deutschland auch dank niedriger Lohnstückkosten und niedriger Steuerbelastung ausgespro­chen gut sind, kann man an den Gewinnen und Exportzahlen ablesen. Dennoch machen sich die Herrschenden, und ein großer Teil der Beherrsch­ten sozialpartnerschaftlich mit ihnen, Sorgen um das Wohlergehen des Kapitals. Unterstützt werden sie dabei von Medien und Experten, die die Sonderinteressen und Privilegien bestimmter gesellschaftlicher Gruppen zum Anliegen der Allgemeinheit veredeln.

Die Interpretation der Gesundheitspolitik als reine Kostendämpfungspolitik zur Senkung der Lohnnebenkosten wäre allerdings ähnlich einseitig wie die vermeintlich kritische Forderung nach mehr Geld für das Gesundheitswesen, wenn dabei die strukturellen Probleme desselben außer Acht gelassen werden. Denn es besteht ein weiteres, mindestens gleich zu gewichtendes Mo­ment in der Gesundheitspolitik, das nicht ein­dimensional zur Kostendämpfungspolitik passt und zum Teil sogar im Widerspruch zu dieser steht. In der Gesundheitspolitik geht es nicht ernst­haft darum, dass weniger Geld in die Ge­sundheits­versorgung oder besser gesagt in den Gesundheitsmarkt gepumpt wird. Im Gegenteil. Derzeit gibt es im Gesundheitswesen über vier Millionen Beschäftigte, und jährlich werden etwa 240 Milliarden Euro für Gesundheit ausgegeben. Das sind immerhin – wie übrigens seit Jahren – etwas mehr als zehn Prozent des deutschen Brutto­inlandsprodukts. Wichtige gesellschaftliche Gruppen haben ein großes Interesse daran, dass dies auch so bleibt und dass auf diese Gelder, die zu einem großen Teil zwischen gesetzlichen Krankenkassen und Krankenhäusern in öffentlicher Hand zirkulieren, endlich auch das Kapital zugreifen kann, um sie »produktiv« für sich arbeiten zu lassen. Privatisierung und Wettbewerb, also kapitalistische Konkurrenz, sind die gesundheitspolitischen Konsequen­zen dieser Zielsetzung, die unabhängig von Parteizugehörigkeit von allen Regierungen der vergangenen Jahre verfolgt wurde.

Immer öfter kann man in einschlägigen Blättern Überschriften wie diese lesen: »Gesundheits­ausgaben explodieren? Gut so!« (Handelsblatt, 19. Februar 2007), »Gesundheit birgt größte Wachs­tumschancen« (Handelsblatt, 17. April 2007), »Demografiewandel ist Chance für die Gesundheitsbranche. Studie: Alte geben für Gesundheit gern Geld aus« (Ärzte Zeitung, 23. Juni 2007). Gerade die der Pharmaindustrie nahe stehende Ärzte Zeitung (ÄZ) ist ein schönes Beispiel. Unter der Überschrift »Geringere Lohnnebenkosten bescheren kein Jobwunder« wird kritisiert, dass die hohen Lohnnebenkosten in der öffentlichen Diskussion als Haupthindernis für die Entstehung neuer Arbeitsplätze gelten und die falsche Erwartung geweckt würde, dass niedrigere Krankenkassenbeiträge zu mehr Jobs führten. Diese Argumentation kennt man sonst eher aus Gewerkschaftskreisen. Bezeichnenderweise beruft sich die ÄZ hierbei aber auf den Verband der Krankenhausdirektoren (VKD) in Schleswig-Holstein. So sehr sich die Krankenhausdirektoren beispielsweise während des Streiks im vergangenen Jahr als Arbeitgeber gesehen und hier die übliche Politik des Lohndrückens betrieben haben, stellen sie sich doch in diesem Zusammenhang anders dar. Denn als so genannte Leistungserbringer befinden sie sich auf der Seite derjenigen, die sich um die Riesensumme der Gesundheitsausgaben streiten, und hier geht es zu wie im Haifischbecken.

Nicht nur die Krankenhäuser, ob öffentlich oder privat, auch die niedergelassenen Ärzte, die Unternehmen aus dem medizinisch-technischen Komplex, also die Geräteindustrie, und allen voran die Pharmaindustrie, aber auch die Versicherungen, ob gesetzliche oder private, stehen in Konkurrenz zueinander. Solange ein Großteil der Gesundheitsausgaben über die prozentualen Beiträge der Bruttolöhne finanziert wird, muss auch die Pharmaindustrie ein Interesse an hohen und zugleich niedrigen Lohnnebenkosten haben. Die Arbeitgeber der anderen Branchen mit deutlich niedrigeren Gewinnmargen müssten in dieser Hinsicht die Pharmaindustrie eher als Gegner denn als Verbündeten ansehen. Immerhin finanzieren sie mit den Lohnebenkosten, die zwar bloß zurückgehaltener Lohn sind, aber die Kosten der Unternehmen darstellen, die exorbitanten Gewinne der Pharmaindustrie, von denen sie nur träumen können. Die Ausgaben für Arzneimittel sind immerhin inzwischen der zweitgrößte Posten bei den Gesundheitsausgaben.

Vor diesem Hintergrund ist also zu analysieren, welche Interessen die Politik verallgemeinert und bedient, und erst dann ist es sinnvoll, sich anzuschauen, mit welchen konkreten gesund­heits­politischen Maßnahmen sie meint, diese Ziele zu erreichen. Betrachtet man die rot-grüne Gesundheitsreform, dann hat sie keine Lösung des Widerspruchs, aber doch eine Form gefunden, in der er sich bewegen kann: rigoroser als alle konservativ-liberalen Regierungen vor ihr hat sie mit ihrer Reform, die zum großen Teil aus Leistungskürzungen und mehr Zuzahlungen für Versicherte und Kranke besteht, die Kosten nicht gesenkt, sondern bloß umverteilt. Die Arbeit­geber und die öffentliche Hand wurden entlastet und die Versicherten, also die Arbeitnehmer und die Kranken, belastet. Parallel dazu wurden die Öffnung des Gesundheitsmarktes und die Privatisierung in ihren verschiedenen Aspekten fortgesetzt.

Etwas komplizierter stellt sich die neue Gesundheitsreform dar. Die SPD hat sich hier wieder sozialdemokratischer geriert und dafür gesorgt, dass es eine Versicherungspflicht für alle gibt und dass die private Krankenversicherung durch ein Basistarifkonstrukt und den Kontrahierungszwang tendenziell der gesetzlichen Krankenversicherung angeglichen werden könnte. Die CDU und der liberale Flügel der CSU machen sich hingegen für eine Kopfpauschale stark. Dieses Modell trennt die Lohn- von den Gesundheitskosten und fixiert den Arbeitgeberanteil auf einen bestimmten Satz. Beitragserhöhungen würde es danach nur noch für Arbeitnehmer geben. Das gemeinsame Interesse der Koalitionäre ist sicherlich, mehr Wettbewerb in die gesetzliche Krankenversicherung zu implementieren, um sie weiterhin unternehmensähnlich umzugestalten.

Dann gibt es noch das dritte, zumindest theoretisch wichtige Moment von Gesundheitspolitik: das demokratische nämlich. Denn dies kann nicht vollständig an der Bevölkerung vorbei, über sie hinweg oder gegen sie durchgesetzt werden. Da die Mehrheit aber längst eingeschworen ist auf alle Sachzwänge, von der »Kostenexplosion« über die »demographische Katastrophe« bis hin zur Ressourcenknappheit, Standortlogik und zum Naturgesetz der leeren öffentlichen Kassen, ist von dieser Seite derzeit nichts zu befürchten.