Britisch, britischer, am britischsten

Der britische Premierminister Brown hat einen Rückzieher gemacht und von Neuwahlen Abstand genommen. Seine Um­frage­werte sahen plötzlich gar nicht mehr gut aus, obwohl er sich nach allen Seiten offen präsentierte. von fabian frenzel, leeds

Die Umfragen waren schuld. Der Premierminister und seine Partei stehen in der Gunst der Wähler derzeit nicht so gut da, daraufhin entschloss sich Gordon Brown, auf Wahlen lieber zu verzichten. »Ich werde keine Neuwahlen in diesem Herbst ausrufen, lassen Sie mich erklären, warum: Ich habe eine Vision für Wandel in Großbritannien.« Wahlen sollen da wohl nicht in die Quere kommen. Nicht nur die Opposition, sondern auch Abgeordnete der regierenden Labour Party sprachen von einem Fiasko für den Premierminister.

Brown, der im Juli als Nachfolger von Tony Blair angetreten ist, hat noch bis 2010 Zeit, Neuwahlen auszurufen. Im derzeitigen Parlament verfügt er über eine komfortable Mehrheit. Gute Umfragewerte in den vergangenen Monaten und ein drohender ökonomischer Abschwung im nächsten Jahr hatten den Premier in Versuchung geführt, davon zu sprechen, sich bereits im Herbst demokratische Legitimation zu verschaffen. Dies änderte sich allerdings in der vergangenen Woche. Plötzlich sahen mehrere Umfragen die oppo­sitionellen Tories in Führung. Gründe dafür sollen britischen Zeitungen zufolge der zögerliche Führungsstil und die fehlende einheitliche Linie des Premierministers sein.

In den vergangenen Wochen hatte der Premier einen unerklärten Wahlkampf geführt. Zuerst versprach Brown den Gewerkschaften bei deren Jahreskongress 500 000 »britische Jobs für britische Arbeiter«. Dann benutzte er in seiner Rede beim Parteitag von Labour in Bournemouth vor zwei Wochen die Wörter »britishness« oder »british« über 70 Mal. Und damit klar wurde, wer in diese Kategorie sicher nicht fällt, sagte er: »Jeder Einwanderer in Großbritannien, der Waffen besitzt oder mit ihnen handelt, wird abgeschoben.«

Als progressive nationalism wurde dies in einem Kommentar der Tageszeitung The Guardian bezeichnet, die, seit New Labour regiert, nicht selten der Hofberichterstattung bezichtigt wird. Der Fokus seiner Rede auf rechtskonservative Inhalte, die Brown durch Schlagworte wie zero tolerance und law and order untermauerte, war in der Tat unübersehbar.

»Durchsichtig« und »kleingeistig« nannte der Vorsitzende der Konservativen David Cameron diese Strategie bei seinem Parteitag vergangene Woche. »Junge, Junge, dieser Typ hat einen Plan«, kommentierte er Browns Vorstoß, »er versucht, vier Prozent Wechselwähler auf seine Seite zu holen, indem er sich die britische Fahne umhängt und Populismen über Immigration und Verbrechen von sich gibt. Was ist mit den 40 Prozent der Briten, die nicht mehr an die Politik glauben?« Umfragen zufolge konnte Cameron mit seiner dy­namischen, frei gehaltenen Rede bei vielen Wählern punkten.

Brown hingegen ging sogar so weit, seinen Respekt vor Margaret Thatcher zu erklären, was er mit einem Zusammentreffen mit ihr untermauerte. Zudem betont er unaufhörlich die Nähe zu seinem Vater, einem protestantischen Geistlichen. Dies alles ist Teil der Strategie, sich als Vater der Nation zu präsentieren. Er setzt dabei weniger auf Ideologie und mitreißende Rhetorik als auf einen nach allen Seiten offen formulierten Pragmatismus, den er bewusst protestantisch nüchtern artikuliert. Seine pragmatische, zuweilen ein­schläfernde Art scheint den Umfragen zufolge, abgesehen von einem kurzen Zwischenhoch nach seinem Amtsantritt, nicht besonders anzusprechen.

Dabei hatte er einige Möglichkeiten, bei denen er als Premier Stärke und Handlungsfähigkeit zeigen konnte. In seiner Parteitagsrede erinnerte er etwa an die knapp vereitelten Anschläge der so genannten Terror-Ärzte in London und Glasgow. Er ging auch auf den Ausbruch der Maul- und Klauenseuche und die schwere Krise der Bank Northern Rock im September ein; beides war glimpflich verlaufen.

Erstaunlich wenig Kritik kam in den vergangenen Wochen von den Gewerkschaften. Nach anfänglichem Protest akzeptierten sie Browns Vorschläge für eine Reform der innerparteilichen Abstimmungsverfahren, mit der faktisch die Möglichkeiten während des Parteitags, die Regierung zu kritisieren, massiv beschnitten werden. Zuvor war ausgehandelt worden, dass die Änderung in zwei Jahren erneut geprüft wird. Brown war den Gewerkschaften auch sozialpo­litisch entgegengekommen, indem er gesetzliche Maßnahmen zur stärkeren Regulierung des pri­vaten Beteiligungskapitals (private equity) versprach. Um die Private-Equity-Firmen hatte sich in Großbritannien im vergangenen Jahr einen Art »Heuschrecken-Debatte« entwickelt.

Die ungewohnte Einmütigkeit und Konfliktlosigkeit während des Labour-Parteitags lässt darauf schließen, dass man Brown in der Partei derweil gewähren lässt. Niemand kritisierte beispielsweise offen, dass Brown die Frage eines Referendums über den neu formulierten EU-Vertrag schlicht ignorierte.

Die Konservativen sind bei diesem Thema aktiv, und auch in der Labour Party gibt es nicht wenige, die eine Abstimmung für nötig halten. Der Bevölkerung war von der Labour-Regierung ein Referendum über die EU-Verfassung versprochen worden, zu dem es nach der Ablehnung des Verfassungsentwurfs in den Niederlanden und Frankreich aber nie kam. Brown argumentiert, dass über den EU-Vertrag keine Abstimmung nötig sei, weil durch ihn – anders als im Verfassungsentwurf – keine Kernbereiche britischer Souveränität angetastet würden.

Die Wähler sehen dies anders, sie wollen Umfragen zufolge mehrheitlich über den Vertrag abstimmen. Es ist zu erwarten, dass Brown den Mitte Oktober anstehenden EU-Gipfel in Lissabon nutzen wird, um den innenpolitischen Druck durch expliziten Nationalismus in den Verhandlungen um den EU-Vertrag abzubauen.