Das große Agenda-Bashing light

In der SPD wird neuerdings die Agenda 2010 zaghaft in Frage gestellt. Der Parteivorsitzende Kurt Beck will die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I verlängern. Auch unter den Sozialdemokraten hat sich offenbar herumgesprochen, dass die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik der früheren rot-grünen Regierung die Armut in Deutschland vergrößert hat. Von Tom Binger

In allen aktuellen Meinungsumfragen befinden sich die Sympathiewerte der Sozialdemokratie seit einiger Zeit im freien Fall. Während die Partei »Die Linke« weitere Prozentpunkte zulegt, wird die SPD in Sachsen mittlerweile von der NPD überholt. Der wichtigste Grund für das anhaltende Stimmungstief dürfte in den fortdauernden Nachwehen der rot-grünen Sozialpolitik zu finden sein. Die Agenda 2010 und die so genannten Hartz-Reformen sind in der öffentlichen Meinung zum Synonym für eine rigorose Ver­armungspolitik geworden. Kein Wunder also, dass sich der Vorsitzende Kurt Beck vor dem Parteitag der SPD Ende Oktober in Hamburg Gedanken über einige vorsichtige Kurskorrekturen an der Reform-Agenda macht.

Beck geht es dabei lediglich um die teilweise Rück­­nahme der Einschränkungen bei der Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I und um eine Über­prüfung der strengen Vermögensanrechnung beim Arbeitslosengeld II. Nicht zu­fällig wurden die neuen Überlegungen nach einem ­Abstimmungsgespräch zwischen SPD-Politikern und führenden Gewerkschaftern zur Vorbereitung des SPD-Parteitags publik. Becks Vor­schläge orien­­tieren sich an einem Stufenmodell des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), das für Beschäftigte ab dem Alter von 45 Jahren eine ­Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I von maximal 15 Monaten und ab 50 Jahren von maximal 24 Monaten vorsieht. Damit bleiben Beck und der DGB unter den alten Ansprüchen auf Arbeitslosengeld von bis zu 32 Monaten für über 55jährige. Für jüngere Arbeitslose und Bezieher von ALG II soll sich überhaupt nichts ändern.

Die Gewerkschaften haben mit ihrem Vorschlag vor allem die Interessen ihrer Stamm­klientel aus Facharbeitern und Kernbelegschaften im Blick, denen trotz langjähriger sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung im Fall der Arbeits­losigkeit bereits nach einem Jahr der soziale Absturz auf Hartz-IV-Niveau droht. Mit dem Gerechtigkeitssinn des sozialpartnerschaftlich orientier­ten SPD-Betriebsrats, der jahrzehntelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, lässt sich eine solche Behandlung schlecht vereinbaren. »Wir haben beim Arbeitslosengeld I ein Glaub­würdigkeitsproblem«, hat Beck messerscharf erkannt. Allerdings geht es weder ihm noch den Ge­werkschaften um eine grundsätzliche Korrektur der Reformen. »Die Agenda 2010 steht nicht grund­sätzlich in Frage«, versichert der SPD-Vorsitzende. Trotzdem haben schon seine bescheidenen Änderungsvorschläge zu einer heftigen politischen Kontroverse inner- und außerhalb der SPD geführt.

Während Beck im Parteipräsidium, bei der SPD-Linken und in den Gewerkschaften große Unterstützung findet, sieht der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder bereits sein politisches Erbe in Gefahr und rät der SPD, »an der Substanz der Agenda 2010 festzuhalten«. Vizekanzler und Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) stimmt ein und empfiehlt seiner Partei, »den sehr erfolgreichen Weg weiterzumachen«. An der geltenden Beschlusslage der SPD und an der Koalitionsvereinbarung müsse unbedingt festgehalten werden. Auch der frühere Arbeits- und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) hält eine längere Zah­lung des Arbeitslosengelds für »grundfalsch«. In dem durch eine längere Zahlung erleichterten Über­gang in den Vorruhestand sieht er eine »Abkehr vom Prinzip der Rente mit 67«.

Zustimmung findet Becks Vorschlag dagegen in Teilen der Union. Der Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), Karl-Josef Laumann, sieht Beck »im Grundsatz auf dem richtigen Weg«. Auch der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) unterstützt Beck, wenn er feststellt: »Wer lange Jahre Beiträge gezahlt hat, muss beim Arbeitslosengeld bessergestellt werden.« Die CDU hat auf ihrem Par­teitag im November 2006 ohnehin bereits be­schlos­sen, den Bezug des Arbeitslosengelds stärker an die Dauer der Beitragszahlung zu koppeln. Allerdings beharrt der Generalsekretär der Partei, Ronald Pofalla, dar­auf, im Gegenzug die Bezugsdauer bei weniger Beitragsjahren zu reduzieren.

Doch nicht nur die CDU gibt sich sozialdemokratischer als die SPD. Der Parteivorsitzende der »Linken«, Oskar Lafontaine, begrüßte das Umschwenken der SPD auf alte Forderungen der Linken. Auch an dieser Front besteht für die SPD dringender Handlungsbedarf. Schließlich war nicht nur für den SPD-Linken Ottmar Schreiner Hartz IV »die Geburtsurkunde der Linkspartei«.

Alarmistische Töne kommen hingegen aus der Zunft der Wirtschaftswissenschaftler. Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung befürchtet »einen schlimmen Rückschritt, der mitten ins Herz der so ­mühevoll durchgesetzten Arbeitsmarktreformen zielen würde«. Erst die Begrenzung der Bezugsdauer habe für die Betroffenen die notwendigen Anreize geschaffen, sich wieder einen Job zu suchen. Im verstärkten Zwang, jede Arbeit anzuneh­men, sieht auch Christian Dreger vom Deutschen Institut für Wirtschaft das Herz der Hartz-Reform. »Einem Arbeitslosen ist jede Arbeit zumutbar«, lautet schließlich auch der programmatische Leit­satz der Agenda 2010.

Bei den Gewerkschaften fällt das Resümee, fünf Jahre nachdem die Hartz-Kommission ihre Empfehlungen der Öffentlichkeit vorgestellt hat, ­ernüchternd aus. In seiner Zwischenbilanz zu den »modernen Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« vom August diesen Jahres stellte der DGB ein deutlich höheres Verarmungsrisiko für Arbeitslose fest. Insbesondere Hartz IV sei »ein fataler Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarkt­politik«, sagte das DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Es werde viel gefordert, aber immer noch zu wenig gefördert. Politische Fehlentscheidungen der Bundesregierung hätten »Hartz zu einem Synonym für eine breite gesellschaftliche Verunsicherung gemacht, den Druck auf die Arbeitslosen erhöht und viele Familien in Existenznöte gebracht«.

Im Einzelnen stellen die Gewerkschaften das Scheitern des Systems der Vermittlungsgutscheine, der Personal-Service-Agenturen und der kom­merziellen Arbeitsvermittler fest. Der Anstieg der Zahl der Mini-Jobs auf bis zu sieben Millionen im Sommer diesen Jahres habe die Finanzierungs­basis der Sozialsysteme geschwächt. Maßnahmen zur Förderung der beruflichen Weiterbildung seien um rund zwei Drittel zurückgegangen, wäh­­rend der massenhafte Ausbau von Ein-Euro-Jobs zur Verdrängung regulärer sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung geführt habe. Eine berufliche Perspektive hätten diese Arbeitsgelegenheiten kaum zu bieten. Auch der gegenwärtige Aufschwung am Arbeitsmarkt sei alles in allem an den Hartz-IV-Empfängern vorbeigegangen.

Trotz dieser desaströsen Bilanz bleiben die Kor­rekturforderungen des DGB bescheiden. Neben der nun in die politische Debatte gelangten Verlängerung des Arbeitslosengeldbezugs für Ältere auf bis zu 24 Monate fordert der DGB lediglich eine einheitliche Arbeitsförderung für alle Arbeits­losen, eine vage Entschärfung der Zumutbarkeitsregelung, eine Verbesserung der Qualifizierungsangebote und eine Überprüfung der Regelsätze, allerdings ohne eine konkrete Erhöhung zu benennen.

Den 7,3 Millionen Bedürftigen, die zurzeit von Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe auf Armuts­niveau leben müssen, ist damit nur wenig geholfen. Während die Kurzzeitarbeitslosen im Bereich des Arbeitslosengelds I mit Priorität betreut und vermittelt werden, ist die Zahl der Bezieher von ALG II von 4,1 Millionen beim Start von Hartz IV im Januar 2005 auf mittlerweile 5,3 Millionen ge­stiegen. Mehr als zwei Drittel aller Arbeitslosen fallen gegenwärtig in die Zuständigkeit des Sozial­gesetzbuchs II und damit unter das Hartz-IV-System. Allein 2,6 Millionen Kinder oder jedes sechste Kind unter 15 Jahren leben in Deutschland von Hartz IV oder Sozialgeld. Hartz IV wird für ganze Bevölkerungsgruppen immer mehr zu einem dauerhaften Lebensstil.

Die Betroffenen sind mit ständigen Schikanen auf den Ämtern und nervigen Besuchen durch Schnüffeldienste der Behörden konfrontiert. Sie sind auf Selbsthilfe und Selbstorganisierung angewiesen. Zuweilen kommt es zu energischen Pro­testen. Nachdem ihnen wegen eines Com­puter­fehlers das ALG II nicht pünktlich ausgezahlt wur­de, randalierten im Februar über 100 Erwerbs­lose so lange in der Herner Arbeitsagentur, bis ihnen noch am selben Tag das Geld überwiesen wurde. Anfang Oktober belagerten Erwerbslose mit Unterstützung der Aktion Agenturschluss für zwei Tage eine Kölner Arbeits­agentur und rück­ten den Sozialschnüfflern des Außendienstes auf die Pelle. Mit tatkräftiger Unterstützung der Aktivisten konnte in mehreren Fällen die Auszahlung fälliger Förderbeträge bei den zuständigen Sachbearbeitern durchgesetzt werden. Vielleicht werden diese Beispiele erfolgreicher Gegenwehr ja beim Aktionstag der Erwerbslosen am 29. Oktober aufgegriffen.