»Der Templermythos ist Teil der modernen Freimaurerei«

Helmut Reinalter:

Nicht nur die Templer, auch die Frei­maurer sind ein beliebtes Objekt von Verschwörungsideologen. Schätzungs­weise 6,5 Millionen Freimaurer gibt es weltweit, allein vier Millionen davon in den USA. Ein Gespräch mit Professor ­Helmut Reinalter von der Universität Innsbruck, der, selbst deklarierter Freimaurer, seit 30 Jahren zu Freimaurerei und vergleichender Revolutionsgeschichte forscht und arbeitet. interview: doris akrap

Einige Freimaurer behaupten, sie seien die Nachfolger der Tempelritter. Stimmt das?

In der Freimaurerforschung gibt es dazu kontroverse Auffassungen. Eine Forschungsrichtung geht davon aus, dass einigen verfolgten Templern die Flucht nach Spanien, Schottland und Portugal gelungen sei. In Schottland hätten diese Temp­ler dann die Freimaurerei begründet. Die zweite Position lehnt diese Theorie ab, weil man diesen Ursprung wissenschaftlich nicht seriös nachweisen kann. In der Tat ist die Quellenlage nicht eindeutig. Tatsache bleibt, dass der Templermythos Teil der modernen Freimaurerei geworden ist. Dazu zählen die strikte Observanz, ein Hierarchiesystem der Freimaurer aus dem 18. Jahr­hundert. Die Freimaurer haben sich in dieser Zeit sehr bemüht, ihre Existenz und ihr Wirken mit historischen Beispielen zu legitimieren. So stieß man auf die Templer. Deren Geheimlehre fand Eingang in die moderne Freimaurerei und findet sich noch heute in den Hochgradsystemen, den Erkenntnisstufen der Freimaurer. Die Grade reichen vom geheimen und vollkommenen Meister über den vollkommenen Maurer bis zum Souveränen General-Großinspekteur im schot­tischen Ritus oder im Royal Arche – Systeme, die sich auch in Deutschland und Österreich finden.

Woraus besteht die Geheimlehre der Templer?

Das lässt sich nur vermuten. In den Prozess­akten des Templerordens findet sich die Anklage wegen Ketzerei, geheimen magischen Wissens und Kollaboration mit anderen Geheimbünden. Unter der Templergeheimlehre versteht man die Kom­pilation des esoterischen und herme­tischen Wissens, das auf verschiedene antike Mys­terien­bünde wie die Pythagoräer, die jüdische Kabbala, die Essener, die Gnosis oder die islamische Mystik, den Sufismus, zurückgeht.

Die Freimaurer waren vor allem in der Zeit des europäischen Absolutismus in einer schwierigen Situation. Um sich vor der politischen und kirchlichen Verfolgung zu schützen, entstand die verdeckte Organisation. Das nennt man Arka­num, daher kommt auch der Begriff Geheimgesellschaft. Das ist der formal politische Aspekt. Es gibt aber auch einen inhaltlichen Aspekt. Die Freimaurerei umgibt etwas Geheimnisvolles. Die­se Geheimnisse existieren aber nur für Nichteingeweihte. Die Eingeweihten wissen natürlich, dass es ein solches Geheimnis nicht gibt. In einer demokratischen Gesellschaft wirkt eine Geheimgesellschaft allerdings in der Tat etwas kurios. Aber man muss die Freimaurer auch verstehen, denn es gibt nach wie vor viele Vorurteile gegen sie.

Die Organisierung toleranter Bürger ist allerdings schon lange nicht mehr strafbar. Warum wird man heutzutage Freimaurer?

Es gibt viele Gründe. Einer davon ist die Geschäfts­maurerei. Viele kommen zu den Freimaurern, weil sie glauben, das ist ein Geheimbund, dem sehr einflussreiche Persönlichkeiten angehören und aus dessen Mitgliedschaft sie einen Nutzen ziehen können. Andere beschäftigen sich gerne mit geheimem Wissen, das sind die Sinnsucher. Dann gibt es wieder andere, die einer Vereinigung angehören möchten, die religiös, ideologisch und politisch ungebunden ist. Das Grundideal der Freimaurer ist das Toleranzprinzip. Sie grenzen sich gegen Links- und Rechtsextremismus ab, weil das für die Weiterentwicklung der Gesellschaft schädlich sei.

Unter radikalen Aufklärern und Revolutionären fanden sich immer wieder auch Mitglieder der Freimaurer. Heute hingegen nutzen Staranwälte und Großunternehmer die Freimaurer­logen als eine Art Wellness-Oase, wo sie sich entspannen können und Konzentrationsübungen machen. Was ist von den politischen Idealen der Freimaurer übrig geblieben?

Einige der Ziele der Freimaurer sind in der Zwischenzeit verwirklicht worden. Aber das Hauptziel, der Bau am Tempel der allgemeinen Menschenliebe, wozu gehört, dass Krieg vermieden und zwischen polarisierenden Kräften vermittelt wird, ist eine permanente Aufgabe. Die Freimau­re­­rei ist ein Denkprinzip der Aufklärung und meint das ständige kritische Reflektieren über unsere Zeit. Das ist unabschließbar. Und auch die Arbeit an der Vervollkommnung der eigenen Persönlichkeit ist unabschließbar. Der Mensch wird nie vollkommen sein.

Nicht nur Verschwörungstheoretiker, sondern auch viele Freimaurer behaupten, dass so ziem­lich bei jeder bürgerlichen Revolution Freimau­rer beteiligt waren. Ist die bürgerliche Revolution ein Ergebnis der Freimaurerei?

Nein, das stimmt nicht. Das ist eine maßlose Überschätzung der Rolle und der Möglichkeiten der Freimaurerei. Meistens kommen solche Interpretationen von den Gegnern der Freimaurerei. Die Freimaurerei als Organisation ist nie po­litisch aktiv geworden. Ihren Mitgliedern hat sie frei gestellt, sich politisch zu engagieren. Deshalb finden sich auch unter aufklärerischen Revolutionären viele Freimaurer. Aber als Organisation hat sie sich nie in die Entwicklung der Gesellschaft eingemischt. Alle anderen Positionen halte ich für unwissenschaftlich. Das hat ein bisschen was mit Verschwörungstheorien zu tun.

Warum sind denn ausgerechnet die Freimaurer das Objekt von Verschwörungstheorien?

Erstens wegen der maßlosen Überschätzung ihres Einflusses, zweitens wegen des geheimbündischen Charakters und drittens, weil die Verschwö­rungstheoretiker Probleme haben, die Komplexität der gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse zu begreifen. Sie reduzieren die Komplexität, indem sie Minderheiten wie Juden und Freimaurer dämonisieren und für die negative Entwicklung der Gesellschaft und für Revolutionen verantwortlich machen.

Gibt es Unterschiede zwischen den amerikanischen und europäischen Freimaurern?

Die amerikanische Freimaurerei ist stark vom amerikanischen Unabhängigkeitskrieg geprägt. An der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte waren Freimaurer maßgeblich beteiligt. Heute sind sie sehr stark gesellschaftlich orientiert. Wäh­rend es bei den kontinentaleuropäischen Freimaurern vor allem um intensive geistige Arbeit geht, sind die amerikanischen Freimaurer stärker karitativ ausgerichtet.

Welche Rolle haben denn die Maurer bei der Gründung der Freimaurer gespielt?

Eine große Rolle, die man nicht unterschätzen sollte. Es waren nicht nur die Maurer und Steinmetze, sondern die Handwerker insgesamt und die Dombaumeister. Die Organisation der Handwerker nennt man die operative Freimaurerei. Die moderne Freimaurerei ist im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit im Zusammenhang mit dieser so genannten Werkmaurerei entstanden. Früher war es so, dass nur Handwerker Mitglied der Loge werden konnten. Die Logen waren die Bauhütten und das waren die Lehrstätten der Baukunst, in denen die Geheimnisse des Berufsstandes gehütet wurden. Feste Rituale, Grußformeln, selbst Passwörter, die nur den Angehörigen der Bauhütte bekannt waren, gewährleisteten, dass kein Fremder sich den hohen Kenntnisstand der Hütten aneignen konnte. Außerdem hatte die Bauhütte karitative Funktion. Sie sorgte für kranke, alte und berufsunfähige Bauleute. Erst im Verlaufe des 17. Jahrhunderts hat sich um diesen inneren Ring ein äußerer gebildet. Die Logen oder Bauhütten öffneten sich für Bürger und Adelige, also nicht werktätige Leute, und so entstand 1717 in London durch die Gründung der ers­ten Großloge die moderne Freimaurerei.

Das heißt die Bürger und Adligen haben die Arbeiterorganisation einfach für ihre Zwecke okkupiert?

Das kann man durchaus so sehen. Der Übergang von der operativen zur spekulativen oder geistigen Freimaurerei hängt mit dem Aufstieg des Bürgertums und der Säkularisierung zusammen. Die Bausymbole wurden dabei einfach umgedeutet.

Gibt es heute Handwerker, die sich in einer Freimaurerloge organisieren?

Nur in Ausnahmefällen.