Eine Seidenhose für Angelina Jolie

Roberto Savianos großartiges Buch »Gomorrha« klärt über die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Strukturen des mafiotischen Systems auf und schildert, welche Faszination von einer neuen Generation Krimineller auf die Jugend in den Armenvierteln Neapels ausgeht. Von Federica Matteoni

Es gibt eine Frage, die man sich beim Lesen von »Gomorrha« gleich auf den ersten Seiten stellt und die bis zum Schluss unbeantwortet bleibt: Was ist das eigentlich für ein Buch? Am Ende von Roberto Savianos »Rei­se in das Reich der Camorra« spielt allerdings die Gattungsfrage keine Rolle mehr. Die Camorra wird hier nicht nur kriminologisch und so­ziologisch untersucht, sie wird »lebendig«, sie bekommt Namen, Gesichter und Stimmen, Geruch und Farbe.

»Gomorrha« ist ein Sachbuch. Denkt man zumindest, bevor man mit dem Lesen anfängt. Doch bereits nach den ersten Seiten wird klar: Die Reise, die der Autor unternimmt, ist nicht nur eine metaphorische, sondern eine reale, das Buch bedient sich verschiedener Gattungen, Stile und Sprechweisen. Die gut dokumentierte wirtschaftliche Analyse der globalen Geschäfte der Camorra wird dann plötzlich zur literarischen Reportage, zum dokumentarischen Roman. Saviano tritt als Ich-Erzähler auf, agiert unter Klarnamen, wechselt fortwährend die Perspektive. Dabei arbeitet er mit der Realität. Die Fiktion macht diese Realität nur greifbarer, näher. Die Recherche über das kriminelle Wirtschaftsimperium der Camorra basiert auf Prozess- und Ermittlungsakten, auf Verhörprotokol­len und Wirtschaftsanalysen. Die Erkenntnisse, die man daraus gewinnt, bekommen ­jedoch ein Eigenleben durch ganz private Erinnerungen und Emotionen, durch die kraftvollen Porträts, die immer wieder in die Reportage ein­fließen. Die Fiktion macht die Realität » realer«.

So lernen wir am Anfang eine Figur kennen, deren Geschichte den Zusammenhang zwischen Kriminalität und globalisierter Wirtschaft erklärt. Pasquale, den Schneider, der in Schwarzarbeit und für einen Hungerlohn im Auftrag der Clans Kleider für die berühmtesten italienischen Modeschöpfer näht, vergisst man nicht so einfach. Eines Abends sitzt er vor dem Fernseher und mag seinen Augen nicht trauen: »Im Fernsehen beschritt Angelina Jolie den roten Teppich der Oscar-Verleihung. Sie trug einen traumhaft schönen Hosenanzug aus weißer Atlasseide. Eines jener maßgeschneiderten Modelle, mit denen italienische Modeschöpfer darum konkurrieren, dass die Stars es in dieser Nacht vor aller Welt vorführen. Diesen Anzug hatte Pasquale in Schwarzarbeit in einer Fa­brik in Arzano geschneidert. Man hatte ihm gesagt: ›Das geht in die USA‹ … An diesem weißen Hosenanzug erinnerte er sich noch genau, wusste noch die Maße, alle Maße. Den Halsausschnitt, die Ärmel. Und die Hose. Er war mit der Hand in die Hosenbeine gefahren und erinnerte sich noch, welchen nackten Körper er sich darin vorgestellt hatte, wie dies jeder Schnei­der tut.«

Ob diese Geschichte wahr ist, ob Saviano an diesem Abend wirklich bei Pasquale zuhause saß, wie er am Anfang der Passage angibt, das spielt keine Rolle. Hier geht es um die realen Mechanismen der globalen Wirtschaft und des globalen Verbrechens: »Die Logik des kriminellen Unternehmertums, das Denken der Bosse ist identisch mit radikalstem Neoliberalismus. Er diktiert, ja erzwingt die Regeln des Ge­schäfts, des Profits, des Sieges über alle Konkurrenten. Alles Übrige zählt nicht. Existiert nicht.«

Saviano nimmt den Leser mit in die Kleinstädte der nördlichen Peripherie Neapels, dort wo das Made in Italy gemacht wird. Dort, wo die Modelle der Mailänder haute couture gefertigt werden. »Die Fabriken hier sind in Räumen unter der Treppe und im Erdgeschoss von Reihenhäuschen untergebracht. In Fertigungshallen an der Peripherie dieser Orte der Periphe­rie.« Das alles für Löhne von einem Euro die Stunde, zehn Stunden am Tag. Die Manager aus Mailand veranstalten hier regelrechte Auktionen: Der billigste und vor allem schnellste Anbieter bekommt den Zuschlag, die Unterlegenen können ihre nachgeschneiderten Modelle dann über die Camorra auf den Märkten für Raub­kopien in Europa und Asien absetzen.

Das Modegeschäft ist nur eine Säule im wirtschaftlichen Imperium des sistema. So nennt sich die organisierte Kriminalität selbst: »Von Camorra reden nur Staatsanwälte, Journalisten und Drehbuchschreiber  (…). Wer einem Clan angehört, spricht hier vom System: ›Ich gehöre zum System von Secondigliano.‹ Das ist aussagekräftig, denn es geht mehr um einen Apparat als um eine Struktur.« Auch der Handel mit Giftmüll und mit der Bauindustrie, die Milliarden in die Kassen des Systems bringen, beschäf­tigten sich Saviano in zwei Kapiteln. Und mit der Verfilzung von »System« und Politik, die das alles überhaupt möglich macht.

Nichts wird dabei »enthüllt«, die Recherche ist präzise, die Quellen sind öffentlich, die Fakten nachprüfbar. Zum Beispiel, dass Kampanien die meisten Kommunalverwaltungen hat, die von der Camorra infiltriert wurden. Seit dem Jahr 1991 wurden dort 71 lokale Administrationen abgesetzt und unter staatliche Verwaltung gestellt.

»Gomorrha« klärt auf. Über die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Strukturen des »Systems«. Aber auch über seine gesellschaft­liche Macht, die nicht allein auf Gewalt und Ein­schüchterung beruht. Es geht um die kriminelle Ausstrahlung einer neuen Generation von Verbrechern, die mit der folkloristischen Gangs­ter­romantik eines Francis Ford Coppola nichts mehr zu tun hat.

Heute sind es nicht mehr die Hollywood-­Filme, die sich auf die Realität beziehen. Es ist Hollywood, das für die Clan-Bosse oder die jungen Killer »zum Vorbild, zur Chiffre für einen bestimmten Stil« wird. Walter Schiavone, der Boss von Casal di Principe ließ sich eine Villa bauen, die genauso aussehen sollte wie die des kubanischen Gangsters Tony Montana in »Scarface«. Cosimo di Lauro ist in Neapel dafür bekannt, dass er immer ein Outfit wie Brandon Lee in »The Crow« trägt, die Leib­wäch­te­rin­nen der weiblichen Bosse nehmen sich Uma Thurman in »Kill Bill« als Vorbild: blondiertes Haar und ein knallgelber Overall. Auch technische Details sind vom Kino inspiriert: »Nach Tarantino haben sie aufgehört, ordentlich zu schie­ßen! Sie halten den Lauf nicht mehr gerade, sondern schräg und flach (… ) genau wie in diesen Filmen (…). Sie schießen ihre Opfer in den Unterleib, die Leiste, die Beine und fügen ihnen schwere Verletzungen zu (…). Dabei wird sinnlos viel Blut vergossen«, zitiert Saviano einen Mitarbeiter der Spurensicherung von Neapel. Die Gangster legen sich das Image von Kino­stars zu und sind beliebt wie Pop-Ikonen.

Auch Saviano ist jetzt ein Star. Das hat er aber nicht seinem Werk allein zu verdanken, sondern auch seinen Gegenspielern, den Pro­tagonisten, den Angehörigen des Systems. Erst durch die Morddrohungen gegen den Autor bekam das Buch eine Legitimation. Dann kam der Staat, der dem Autor Schutz anbot, Leibwächter und ein Leben im Untergrund.

Angesichts der Reaktion der Camorra auf das Buch und der Folgen, die das für das Leben des 28jährigen Autors hatte, liest sich der letzte Satz von »Gomorrha« noch befreiender und zugleich herausfordernder, als er vermutlich gemeint war: »Ihr verfluchten Dreckskerle, ich lebe noch!«

Roberto Saviano: Gomorrha. Eine Reise in das Herz der Finsternis. Hanser, München 2007, 368 S., 21,50 Euro