Experimental Sex

Weder bei Gott noch bei Adorno wird man Patentrezepte für das optimale Liebesleben finden. Wer die Idee der monogamen Zweierbeziehung fragwürdig findet, sollte nicht bei dieser Erkenntnis stehen bleiben, sondern sie in die Tat umsetzen und sich ans Experimentieren machen. von georg kammerer

Die bisherigen Antworten auf Oliver Schotts Dossier »Dem Leben Schönes schenken« unterscheiden sich zum Teil stark in ihren Anliegen und Herangehensweisen. Eine frappierende Einigkeit besteht jedoch darüber, dass die Gestaltung intimer oder romantischer Beziehungen in der Tat kritikwürdig sei, gleichzeitig aber seien Schotts Ansätze vollkommen daneben. Der Autor frage »nicht nach dem Wahren, sondern pragmatisch nach dem optimalen Funktionieren als einzigem Kriterium«, komme uns »mit der zynischen Aufforderung zur Selbstdisziplinierung« und lege dabei »den Fokus auf Sex« – wie böse! –, ja gar auf »schnellen Sex« – noch böser!

Allerdings muss man das dem Herren – so Julia Seeliger – nachsehen. Ist doch »›schneller, unverbindlicher Sex‹ für Männer eine attraktivere Option«, während Frauen, die »abseits von Zweierbeziehungen vögeln möchten, (…) das wohl mehrheitlich im Rahmen von ›romantisierten Freundschaften‹« tun. Vor allem das würde ich bezweifeln. Genaue Erhebungen liegen mir ebenso wenig vor wie Frau Seeliger.

Immerhin hindert sie die Selbstverständlichkeit, mit der sie die Gründe für die vermeintlichen moralischen Verfehlungen des Autors in seinem Geschlecht sucht, nicht daran, nur wenig später Geschlechterstereotypen als ein gesellschaftliches Hauptübel zu identifizieren. Was dann aber schon wieder relativ egal ist, denn an diesem Punkt sind Seeligers Ausführungen längst zur bloßen Aneinanderreihung von realpolitischen Forderungen und Gratisphrasen zusammengeschrumpft. Sogar für den mittlerweile obligatorischen Linkspartei-NPD-Vergleich findet die junge Grüne noch Platz. Für substanzielle Ideen und Anmerkungen zu Fragen moderner Beziehungsführung leider kaum.

Die Substanz regelrecht in sich aufgesogen hat Sebastian Winter, der mit Leichtigkeit einen historischen Bogen von Foucault zu Wilhelm Reich schlägt, wobei zwar nicht viel mehr herauskommt, als dass es halt irgendwie schon immer schwierig war mit so Sachen wie Liebe und Untenrum, uns aber immerhin Winters kulturgeschichtliche Soft Skills vorgeführt werden. Einen kleinen Wermutstropfen gibt es aber doch in der B-Wertung: Den klassischen romantischen Zweierbeziehungen der Literatur wohnte mitnichten erst »seit Romeo und Julia immer ein tragisches Moment inne«. Bei Gelegenheit sollte man einfach noch mal einen Blick in Ovids »Metamorphosen« werfen.

Winter vermisst in Schotts Ausführungen den Aspekt der Sehnsucht, der »Dynamik [der] grenzüberschreitenden Tollkühnheit«, und wird in diesem Punkt von Katrina Blindow und Alek Ommert unterstützt, die wie er monieren, Schott unterscheide Gefühle lediglich nach »funktional und dysfunktional« und wolle sie im Zweifel »wie faule Zähne« entfernen. Als Alternative zu Schotts vorgeblicher »Verhaltenheit« bieten sie »eine gnadenlose Romantisierung von Freundschaften an«, die allerdings ausdrücklich »kein Patentrezept« sein soll.

Patentrezepte befinden auch Les Madeleines als »gerade nicht hilfreich«, nachdem sie in vielen Zeilen ihren Adorno gleich einem protestantischen Gebetsbuch vor sich hertragend – und eben­so deutend – um einen diffusen Treuebegriff kreisten und auf diese Weise mit vielen Worten so gut wie nichts gesagt haben außer der erneuten Feststellung, dass das halt alles nun mal gar nicht so einfach ist.

Aber hatte irgendjemand Patentrezepte gefordert oder gar angeboten? Schott jedenfalls nicht. Er will ausdrücklich nicht »einfach einen Satz Regeln durch einen anderen« ersetzen und denkt an »einen qualitativen Gewinn an Freiheit«.

So lassen sich »romantisierte Freundschaften« ebenso wie »die gemeinsame Auseinandersetzung mit all den Gefühlen, auch den unangenehmen und unsinnigen« (Blindow/Ommert) durchaus mit Schotts Konzept vereinbaren. Nur weil ein Autor auf bestimmte Möglichkeiten, mit Emotionen und Bedürfnissen umzugehen, nicht explizit hinweist, darf nicht angenommen werden, dass er sie ausschließt. Lediglich der Hinnahme der Eifersucht als gottgegebenes Grundbedürfnis des Menschen und der daraus abgeleiteten Rechtfertigung monogamer Modelle erteilt Schott eine kategorische Absage. Und er bietet – zugegeben drakonische – Maßnahmen dagegen an.

Schott geht es nicht um die konkrete Ausgestaltung einzelner Beziehungen, sondern zunächst um die bloße Existenz von Alternativen zum Konsens der seriellen Monogamie mit all seinen Widersprüchen. Ein Bewusstsein dafür fehlt nach wie vor in weiten Teilen der Gesellschaft auch trotz der von Blindow und Ommert berechtigterweise ins Feld geführten Poly-Diskurse. Es fehlt nicht nur innerhalb der stumpfen Masse, bei der Hopfen und Malz prinzipiell als verloren gelten dürfen, sondern auch in weiten Teilen jener Kreise, die sich kritisch und aufgeklärt dünken.

Menschen, die im Stande sind, die Absurdität romantischer Hollywood-Komödien oder der neuesten MTV-Datingshow wahrzunehmen, gestalten entscheidende Teile ihres Privatlebens dennoch nach im Kern identischen Grundsätzen. Man beschäftigt sich mit einem möglichen Umbau gesellschaftlicher Strukturen und spart dabei den Bereich Liebe und Sexualität konsequent aus. Wer Neoliberalismus und Globalisierung mit kritischem Argwohn betrachtet und dennoch im Discountmarkt einkauft oder sich für die Geldanlage mit der größtmöglichen Rendite entscheidet, kann sich noch vergleichsweise leicht mit den alltäglichen Zwängen als kleines Rädchen im Getriebe herausreden. Ich spreche aus eigener Erfahrung. Wer aber die Idee der monogamen oder gar der romantischen Zweierbeziehung einmal als fragwürdig erkannt hat, kann und sollte die gewonnenen Erkenntnisse postwendend in die Tat umsetzen, experimentieren, Präzedenzfälle schaffen, dabei weiterhin nach Herzenslust sich sehnen, begehren und verzweifeln, nur eben nicht entlang der ewig gleichen Leitplanken. Denn, um auch dieses Bild noch einmal zu strapazieren: Auch die gründlichste Wurzelbehandlung schützt nicht dauerhaft vor Karies.

Dies mag ein gewisses Maß an Unsicherheit mit sich bringen. Unsicherheiten aber, die auch im herrschenden Beziehungsmodell in anderer Form existieren. Die Tendenz zur Beliebigkeit gehört zu den traurigeren Symptomen der schon generell nicht so netten Postmoderne. Man sollte nicht der Versuchung erliegen, als Reaktion darauf die gerade frisch entthronten Götzen einfach auf einen neuen Sockel zu setzen und nunmehr im Stehen statt auf Knien anzubeten.

Eine sachliche Diskussion, auch über so »aufregende« (Blindow/Ommert) Themen wie Liebe, Freundschaft, Beziehungen und Sex, benötigt klare Kriterien wie eben beispielsweise die gescholtene Funktionalität oder Nützlichkeit.

Ob jemand hingegen mit einem einzigen Partner oder mit einigen wenigen glücklich werden mag oder sich lieber quer durch die globalisierte Welt pimpert, ob sie oder er dabei die Integration in das platonische Kugelwesen sucht oder doch eher puren hedonistischen Genuss – der übrigens nicht zwangsläufig unverbindlichen Sex bedeuten muss, sondern gerade auch aus dem Gefühl der Nähe, der Hingabe an ein mutmaßlich seelenverwandtes Gegenüber entspringen kann – und inwieweit dabei körperlich formelle Treue eine Rolle spielt, sind Fragen der persönlichen Präferenz, des individuellen Geschmacks, über die sich zwar sehr wohl streiten lässt, aber eben nicht diskutieren.

Die Entscheidung, was man selbst zum Glück oder zumindest zum halbwegs aufrechten Überstehen der nächsten paar Jahre, Wochen, Tage benötigt, wird einem keine Gottheit, kein Adorno, kein Schott und kein Kai Pflaume abnehmen. Die Frage »Was ist meine Façon?« (Schott) ist zu wichtig, als dass man die Antwort darauf der Gesellschaft überlassen sollte. »Zur Freiheit verdammt« stellen wir sie uns bewusst oder unbewusst ohnehin zu jeder Zeit und beantworten sie ununterbrochen neu. Ob über die von Les Madeleines unterstellte zynische Selbstdisziplinierung, spirituelle Selbsterfahrung, kritische Selbstbeobachtung oder durch simples »Trial and Error«, es ist der alltäglichen Versuch dieses verfluchte Leben irgendwie zu meistern.