Keine Rache des kleinen Mannes

Wegen der Absage der Sozialdemokraten wird es in den Niederlanden kein Referendum über den neuen EU-Vertrag geben. Viele Niederländer fühlen sich davon hintergangen. von tobias müller, amsterdam

Die Referenden in Frankreich und den Niederlanden stürzten vor zwei Jahren die EU-Institu­tionen in eine große Krise. In beiden Ländern wurde die EU-Verfassung von einer deutlichen Mehrheit abgelehnt. Dazu soll es in den Niederlanden nicht noch einmal kommen: Den Bürgern wird der neu formulierte EU-Vertrag einfach nicht vorgelegt.

»Schlecht für die Demokratie und Europa«, nannte Alexander Pechtold von der linksliberalen Oppositionspartei D66 die Entscheidung der sozialdemokratischen Regierungspartei Ende September, keine Abstimmung durchzuführen. Angesichts der gleichlautenden Positionen der anderen Regierungsparteien, der Christdemokraten (CDA) sowie der ChristenUnie, wurde ein Antrag der Opposition auf ein Referendum damit chancenlos.

In den EU-Institutionen wurde dies mit Erleich­terung aufgenommen, denn in Polen, Dänemark und Großbritannien stehen noch Referenden an. Eine erneute Ablehnung in den Niederlanden, die nicht auszuschließen ist, hätte negative Auswirkungen auf diese Abstimmungen haben können. Am 18. und 19. Oktober soll auf dem EU-Gipfel in Lissabon über die EU-Verfassung diskutiert werden.

Auch in den Niederlanden ist die Diskussion noch lange nicht beendet. Umfragen zufolge lehnen weiterhin rund 60 Prozent der Bevölkerung den Vertragsentwurf ab. Dementsprechend ernteten die Sozialdemokraten (PvdA) viel Kritik für ihre Entscheidung. Noch im Sommer hatte sich ihr Fraktionschef Jacques Tichelaar für ein weiteres Referendum ausgesprochen, und in ihrem Wahlprogramm hatte die Partei vor einem Jahr versichert, am Ergebnis der Volksabstimmung von 2005 solle »nicht über Umwege gerüttelt werden«. Damals hatte sich innerhalb der PvdA ein breiter Graben zwischen der pro-europäi­schen Parteiführung und der ablehnenden Basis aufgetan. Harry van Bommel, Euroskeptiker der Sozialistischen Partei (SP), erwartet daher, dass die PvdA-Mitglieder die Entscheidung nicht akzeptieren werden. In Anspielung auf die Umfragen, in denen die SP vor den Sozialdemokraten liegt, sprach er von einer »Pistole«, die seiner Par­tei dadurch in die Hand gegeben worden sei.

Ein weiteres Detail dürfte den Verfall der sozial­demokratischen Glaubwürdigkeit noch beschleu­nigen: Es ist ein offenes Geheimnis, dass der PvdA-Beschluss gegen eine Volksabstimmung Teil eines Tauschgeschäfts ist. Der christdemokratische Koalitionspartner der PvdA soll sich im Gegenzug bei der Lockerung des Kündigungsschutzes zurückhalten, was beide Parteien jedoch offi­ziell leugnen. Immerhin drohte die PvdA nach ihrer Entscheidung damit, die Koalition zu verlassen, sollte der CDA weiter den Kündigungsschutz attackieren.

Unterdessen lancierte die Opposition eine Unterschriftenkampagne, um doch noch ein Referendum zu erzwingen. Ironischerweise knüpft sie damit an eine Initiative des sozialdemokratischen Finanzministers Wouter Bos an, der 2005 als Fraktionsvorsitzender der PvdA davon sprach, den Volksentscheid zu einem »Standard unseres demokratischen Repertoires zu machen, das durch die Bevölkerung selbst bei einer Mindestzahl an Unterschriften ins Leben gerufen wird«.

Eine inhaltliche Kritik des Vertragswerks, das ab Ende dieses Jahres von den EU-Mitgliedsstaaten ratifiziert werden soll, ist in der Unterschriftenkampagne der Opposition jedoch nicht enthalten. Vielmehr basiert die Ablehnung des EU-Vertrages auf dem Klischee eines Superstaats, der über die Köpfe der Menschen hinweg ihre Rechte abbaue und nationale Identitäten untergrabe. In den Niederlanden geht diese Argumentation oft einher mit einem anti-elitären Reflex gegen das politische »Den Haag«, das das Land an Europa ausverkaufe. Die Ablehnung der EU-Verfassung erscheint dagegen als hoch symbolische »Rache des kleinen Mannes«. Dass ihm dieses Instrument mit der Entscheidung gegen ein erneutes Referendum aus der Hand genommen ist, lässt die Ressentiments nicht weniger werden.